Verliebt,Verlobt,Verheiratet - Eurac
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Die Doppelbödigkeit der Türkei Debatte<br />
ist bereits in ihrer Entwicklung<br />
grundgelegt. Sie lässt sich am sprichwörtlichen<br />
Dreiersprung „verliebt - verlobt<br />
– verheiratet“ mit ironischem Ernst<br />
nachzeichnen. Das Sprichwort dient dazu,<br />
allzu vorschnelle Junggesellen vor einem<br />
möglichen „Heiratsautomatismus“<br />
zu warnen. Obgleich es kaum jemanden<br />
ernsthaft vom Heiraten abhält, hat es<br />
doch seine innere Logik. Auf jeder dieser<br />
drei Beziehungsstufen sollten unterschiedliche<br />
Fragen zur Debatte stehen.<br />
Doch gerade im Falle der Türkei scheint<br />
es, als habe die EU die Volksweisheit<br />
nicht Ernst genommen und leide nun an<br />
den Folgen ihres Leichtsinns.<br />
Das Sich-Verlieben bildet unter Umständen<br />
den Anfang eines in den Zustand<br />
der Ehe mündenden Prozesses,<br />
hat aber für sich genommen keinerlei<br />
Zielrichtung. Als die EWG 1963 mit der<br />
Türkei ein Assoziationsabkommen abschloss,<br />
war das der Beginn einer politisch<br />
wichtigen Wirtschaftspartnerschaft,<br />
die beiden Vertragsparteien eine viel<br />
versprechende Plattform bot. So weit so<br />
gut. Es erstaunt allerdings, dass bereits<br />
dieses erste Abkommen erklärter Weise<br />
dazu diente, „später den Beitritt der Türkei<br />
zur Gemeinschaft zu erleichtern“. Im<br />
Stadium der <strong>Verliebt</strong>heit wurde hier also<br />
schon von Verlobung gesprochen. In den<br />
nächsten Jahrzehnten hat die Türkei diese<br />
Heiratsperspektive niemals vergessen<br />
und brachte dies mit einem ausdrücklichen<br />
Beitrittsgesuch zur EWG 1987 unmissverständlich<br />
zum Ausdruck. Gleichzeitig<br />
wuchs auf Seiten der EWG zum<br />
einen der Druck, dieser „<strong>Verliebt</strong>heit<br />
plus“ eine ausdrückliche Verlobung folgen<br />
zu lassen und, zum anderen, die Unmöglichkeit,<br />
sich aus dieser (politischen)<br />
Bindung ohne gröberen Gesichtsverlust<br />
zu lösen. Da bot auch die Wandlung<br />
von der EWG in die EU im Jahre 1993<br />
kaum Handhabe. Die Europäische Union<br />
konnte sich nicht hinter ihren neuen<br />
Kleidern verstecken. Schließlich verfügt<br />
die EU über keine eigene Rechtspersönlichkeit,<br />
baut institutionell auf die Europäische<br />
Gemeinschaft auf und ist auch<br />
politisch klar als Produkt der EWG und<br />
damit als die Turteltaube der frühen Jahre<br />
zu identifizieren. So ungeschickt sich<br />
die <strong>Verliebt</strong>heit des Jahres 1963 präsentiert,<br />
so problematisch war dann auch<br />
die Verlobung zwischen der EU und der<br />
Türkei im Jahre 1999.<br />
Im Unterschied zu <strong>Verliebt</strong>en sind<br />
<strong>Verlobt</strong>e zwei Personen, die sich in einer<br />
Art Vorvertrag das Versprechen geben,<br />
einander zu heiraten. Was sich am<br />
Punkt der Verlobung vor allem ändert,<br />
ist die Argumentationslage für den Fall<br />
des Austritts aus dem scheinbaren Automatismus<br />
„verliebt - verlobt – verheiratet“.<br />
Während es etwa durchaus Sinn<br />
macht, wenn sich ein <strong>Verliebt</strong>er von seiner<br />
fremdsprachigen <strong>Verliebt</strong>en mit dem<br />
Einwand trennt, er wolle seine Kinder<br />
nicht multikulturell aufziehen, so wäre<br />
der gleiche Einwand zwischen zwei<br />
bereits <strong>Verlobt</strong>en höchst irrational. Bei<br />
zwei <strong>Verlobt</strong>en kann man nämlich davon<br />
ausgehen, dass sie vor dem Moment<br />
der Verlobung prüfen, ob im Prinzip (!)<br />
ein grober Einwand gegen eine spätere<br />
Eheschließung besteht. Ähnlich ist es bei<br />
der EU. Erklärt sie einen Staat zum Beitrittskandidaten,<br />
so bringt sie spätestens<br />
damit zum Ausdruck, dass es sich um<br />
einen „Europäischen Staat“ im Sinne des<br />
Artikel 49 EUV handelt, gegen dessen<br />
Mitgliedschaft keine gänzlich prinzipiellen<br />
Einwände vorliegen.<br />
Als der Europäische Rat in Helsinki im<br />
Dezember 1999 aber erklärte, dass die<br />
Türkei „auf der Grundlage derselben Kriterien,<br />
die auch für die übrigen beitrittswilligen<br />
Länder gelten, Mitglied der Union<br />
werden soll“, war man sich offenbar<br />
der Wesentlichkeit dieses Moments nicht<br />
bewusst. Weder hat es Versuche gegeben,<br />
im Vorfeld den Entscheidungsprozess<br />
von der elitären auf eine breitere Basis<br />
zu stellen, noch wurde die EUropafähigkeit<br />
der Türkei und die Türkeifähigkeit<br />
EUropas prinzipiell, umfassend und offen<br />
in Frage gestellt.<br />
Im Herbst 2004, also fünf Jahre nach<br />
dem Gipfel von Helsinki (und damit zu<br />
spät), befasste man die EU-Öffentlichkeiten<br />
mit einer grundlegenden poli-<br />
Die <strong>Verliebt</strong>heit<br />
zwischen der EU<br />
und der Türkei von<br />
1963 präsentiert<br />
sich ungeschickt, die<br />
Verlobung 1999 problematisch.<br />
Nach der Verlobung<br />
kann nicht mehr<br />
diskutiert werden,<br />
ob ein zu 99% muslimisches<br />
Land<br />
die „Europäische<br />
Identität“ sprengt.<br />
Juli - Luglio 2005 5