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Künstlich Ausgezeichnet Tanzschritte - Ensuite

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Fatale Tänze und<br />

verhängnisvolle Beinschwünge<br />

Von Marianne Wagner<br />

Pauline Boudry und Renate Lorenz, Contagious!, 2010, Installation<br />

mit HD-Film, 12 Min. Loop und 11 Fotografien. Courtesy die Künstler<br />

und Ellen de Bruijne Projects, Amsterdam<br />

■ Als «ansteckend» gelten gemeinhin<br />

Krankheiten oder Gemütsverfassungen<br />

wie gute oder schlechte Laune.<br />

Diese Eigenschaft wählten Pauline<br />

Boudry und Renate Lorenz als Titel<br />

für ihre Installation «Contagious!»<br />

(Ansteckend!), die im Musée cantonal<br />

des Beaux-Arts in Lausanne gezeigt<br />

wird. An der Jahresausstellung «AC-<br />

CROCHAGE [VAUD 2010]» gewann die<br />

1972 geborene Lausannerin Pauline<br />

Boudry den Preis der Jury und erhielt<br />

damit die Gelegenheit, in der diesjährigen<br />

Jahresausstellung einen Raum<br />

zu bespielen. Zwischen einer grossartigen<br />

Installation von Laurent Kropf<br />

und der Gruppenausstellung mit 24<br />

Positionen aus dem Kanton Waadt<br />

betritt man den abgedunkelten Raum<br />

der Preisträgerinnen. Die Bildsprache<br />

ist anziehend, sehr eigen und fordert<br />

Aufmerksamkeit über einen flüchtigen<br />

Blick hinaus. Eine Sitzbank steht<br />

bereit.<br />

«Contagious!» besteht aus einer<br />

Videoarbeit und einer Serie von Fotografien,<br />

die vor dunkelgrau gestrichenen<br />

Wänden gezeigt werden.<br />

Beide Werkteile beziehen sich auf<br />

Schauplätze und Begebenheiten, die<br />

im Paris des ausgehenden 19. Jahrhunderts<br />

angesiedelt sind: Boudry<br />

und Lorenz stiessen auf Archivmaterial<br />

der damals angesehenen psychiatrischen<br />

Anstalt «La Salpêtrière».<br />

Ausgehend von den Aufzeichnungen<br />

«Iconographie Photographique de la<br />

Salpêtrière» (1877–1880) des Hysteriespezialisten<br />

Jean-Martin Charcot<br />

(heute werden diese den Ärzten Désiré-Magloire<br />

Bourneville und Paul<br />

Regnard zugesprochen) inszenierten<br />

die Künstlerinnen für ihr Video eine<br />

Wiederaufführung sogenannter «epileptischer<br />

Tanzsequenzen». Die von<br />

Boudry und Lorenz bereits mehrfach<br />

engagierte Tänzerin Arantxa Martinez<br />

und der Travestie-Performer Vaginal<br />

Davis treten hierfür als burleske<br />

Varietétänzerinnen auf einer Berliner<br />

Clubbühne auf. Die Zeitebene des zu<br />

Ende gehenden 19. Jahrhunderts und<br />

der Gegenwart verschmelzen im Video:<br />

Wechselnde Schnitte zeigen ein<br />

auf Gegenwart gestyltes Publikum<br />

des 21. Jahrhunderts, das sich von den<br />

Gesten der Tänzer animieren lässt.<br />

Ebenso verschwimmen das bipolare<br />

Geschlechtersystem sowie die Einordnungen<br />

von Klasse und Ethnie. Die<br />

Beweglichkeit dieser gemachten Ordnungen<br />

und die Auseinandersetzung<br />

mit Queer-Fragen wird besonders in<br />

der Interpretation von Aida Overton<br />

Walkers «Cakewalk» durch den Performer<br />

Vaginal Davis deutlich. Mit<br />

dieser Rekonstruktion thematisiert das Künstlerinnenduo<br />

folglich auch die Zuordnung von Verhalten in die Kategorien<br />

«Normal» oder «Abnormal» jenseits abgeschlossener<br />

Zeitepochen. Die als primär krank eingestuften Bewegungen<br />

kippen in erotisch-tänzerische, die mitunter sexuelle<br />

Vorlieben zitieren.<br />

Die Reize blitzen nicht nur in der künstlerischen Videoinszenierung<br />

auf. Diagonal gegenüber dem Videopanel<br />

statuieren Boudry und Lorenz mit Bildern in 11 Kastenrahmen<br />

einen fotografischen Vergleich. Abfotografierte<br />

Doppelseiten aus den drei Bänden «Iconographie Photographique<br />

de la Salpêtrière» zeigen<br />

Schwarzweissaufnahmen von Frauen,<br />

bei denen Hysterie diagnostiziert<br />

wurde. Als wären es Buchzeichen,<br />

collagierten die Künstlerinnen auf die<br />

aufgeschlagenen Buchseiten Postkarten<br />

von Tanzveranstaltungen sowie<br />

Fotos halbbekleideter posierender<br />

Tänzerinnen der 1870–90er Jahre. Die<br />

fliessende Grenze zwischen wissenschaftlicher<br />

Abbildung und pornografischer<br />

Schaulust wird damit deutlich<br />

vor Augen geführt.<br />

Das Verschwinden von Eindeutigkeit<br />

und die flexible Grenze zwischen<br />

Spiel und Ernsthaftigkeit spiegelt sich<br />

auch in der Paradoxie des Werktitels:<br />

Die Gefahr und Angst vor der Infizierung<br />

mit körperlichen Krankheiten ist<br />

damit ebenso angekündigt wie die gewollte<br />

Ansteckung mit einer anregenden Stimmung.<br />

Arantxa Martinez interpretiert im Video die exzentrischen<br />

<strong>Tanzschritte</strong> der historischen Figur Polaire. Wie<br />

Polaire war auch Jane Avril wegen angeblicher Hysterie<br />

in der Pariser Salpêtrière, wo sie ihre Freude am Tanzen<br />

entdeckt haben soll. Ihre teilweise grotesk wirkenden<br />

Beinschwünge und Körperverrenkungen sind bald darauf<br />

durch die Bilder ihres Liebhabers Henri Toulouse-Lautrec<br />

regelrecht populär und «salonfähig» geworden. Oder war<br />

es Avrils wilder Beinschwung, der Toulouse-Lautrec so bekanntmachte?<br />

ACCROCHAGE [VAUD 2011]. Der Preis der Jury 2010<br />

Pauline Boudry und Renate Lorenz, Contagious!<br />

Musée cantonal des Beaux-Arts, Palais de Rumine, Place de la<br />

Riponne 6, 1014 Lausanne<br />

www.mcba.ch<br />

Geöffnet Dienstag bis Mittwoch 11:00–18:00 h, Donnerstag<br />

11:00–20:00 h, Freitag bis Sonntag 11:00–17:00 h<br />

Bis 20. Februar<br />

artensuite Schweizer Kunstmagazin Februar 2011 | 9

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