artensuite Schweizer Kunstmagazin Februar 2011 | 10 Giovanni Segantini, Ave Maria bei der Überfahrt, 1886, Öl auf Leinwand, 120 x 93 cm, Segantini Museum, St. Moritz, Dauerleihgabe der Otto Fischbacher Giovanni Segantini Stiftung. © foto flury, Inh., Alfred Lochau, Pontresina Idylle und Innovation Von Manuela Reissmann ■ In Betrachtungen zur Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts liegt der Fokus allzu oft auf Paris, während Strömungen ausserhalb Frankreichs häufig ins Marginale verschoben werden. Dies hat insofern seine Berechtigung, als viele wegweisende Neuerungen in Paris ihren Anfang nahmen und zu den stetig aufeinanderfolgenden Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts führten. Dabei gerieten jedoch Künstler, die zur selben Zeit an anderen Orten durchaus Beachtenswertes schufen, in den Hintergrund oder gar in Vergessenheit. Einer von ihnen ist Giovanni Segantini (1858–1899). Zu Lebzeiten erlangte er mit seinen die Schönheit der Alpen und das Leben der Bauern darstellenden Gemälden internationale Berühmtheit. Mit seinem frühen Tod geriet er jedoch rasch als Idylliker in Verruf und verschwand in der Versenkung. Die Fondation Beyeler widmet dem Künstler nun eine grosse Überblicksschau. Die Kuratoren streben damit eine Neubewertung seines Werkes, besonders im Kontext der internationalen Moderne, an. Die Ausstellung folgt anhand von ca. 45 Gemälden und 25 Zeichnungen chronologisch den Lebensstationen und Werkphasen Segantinis, die ihn, sowohl geografisch als auch künstlerisch, in immer weitere Höhen führten. Bereits in den frühen, vornehmlich dunkeltonigen Arbeiten der Mailänder Zeit – hauptsächlich Segantini Fondation Beyeler, Baselstrasse 77, 4125 Riehen/Basel www.fondationbeyeler.ch Geöffnet täglich 10:00–18:00 h, Mittwoch 10:00–20:00 h Bis 25. April / Mit Katalog Szenen aus dem städtischen Alltag und Porträts – zeigt sich das bemerkenswerte Talent des Künstlers und seine intensive Auseinandersetzung mit der Darstellung von Licht. Mit der Übersiedelung in die norditalienische Brianza hält das ländliche Leben Einzug in Segantinis Motivwelt. In einem idealisierten, überhöhten Realismus zeigt er überwiegend Bauern und Schafhirtinnen bei der würdevollen Ausübung ihrer alltäglichen Arbeit. Einen entscheidenden Umbruch in Segantinis Malweise markiert die zweite Fassung des Bildes «Ave Maria bei der Überfahrt» (1886). Hier wendet der Künstler erstmalig die neue Technik des Divisionismus an, die er in seinem nachfolgenden Werk soweit perfektioniert, dass er zum Hauptvertreter dieser Kunstrichtung avanciert. Die divisionistische Malerei, ähnlich der pointillistischen George Seurats, beruft sich auf die farbtheoretischen Erkenntnisse der Zeit, nahm aber von Italien ausgehend ganz eigene Wege. Segantini setzte feine Striche reiner Farben nebeneinander, so dass sie sich beim Betrachten optisch vermischen, und brachte dieserart eine helle, leuchtende Lichtstimmung in seine Bilder. In «Ave Maria bei der Überfahrt» überstrahlt das Licht der untergehenden Sonne das andachtsvolle Geschehen und rückt es ins Überirdische. Die künstlerische Neuorientierung Segantinis steht in Zusammenhang mit einem neuerlichen Ortswechsel ins bündnerische Savognin. Die freie Natur wird ihm hier zunehmend zum Atelier für seine lichtdurchfluteten, intensiv farbigen Bilder, in denen er den bäuerlichen Alltag in die alpine Landschaft einbettet. Gleichwertig bindet er Menschen und Tiere durch seine Malweise so in die Natur ein, dass sie als unabdingbar damit verwoben scheinen. Während seiner letzten Schaffensphase, die Segantini nun in Maloja im Engadin verbringt, arbeitet er an seinem Hauptwerk, dem «Alpentriptychon». Neben der Darstellung der Engadiner Landschaft verweist der Künstler in den drei Teilen «Werden – Sein – Vergehen» auf den Kreislauf der Natur und des Lebens. Für das mittlere Bild begibt sich Segantini auf den Schafberg oberhalb Pontresinas, wo er noch vor der Vollendung überraschend verstirbt. Die anspruchsvolle Ausstellung in der Fondation Beyeler gibt einen umfassenden Einblick in Segantinis Schaffen und besticht durch eine grosszügige, dem einzelnen Bild angemessen Raum gebende Hängung. Durch einige Sammlungswerke van Goghs, Cézannes, Monets und anderer Künstler in benachbarten Räumen soll dem Besucher der Vergleich von Segantinis Œuvre mit Werken der internationalen Moderne ermöglicht werden. Obgleich zahlreiche bedeutende Gemälde, wie das «Alpentriptychon», nicht ausgeliehen werden konnten, bilden grossformatige Studien des Triptychons und qualitätvolle Zeichnungen aus den verschiedenen Werkphasen einen wertvollen Ersatz und eine vertiefende Ergänzung zu den Gemälden. Ebenso lassen Fotografien, Briefe und ein biografisches Video nicht nur den Künstler, sondern auch den Menschen Segantini für den Besucher erfahrbar werden. Wenngleich sein Werk das ihm in der Vergangenheit oftmals vorgehaltene Idyllische nicht verleugnen kann, so ist es doch auch von einer romantischpoetischen Melancholie durchzogenen, zunehmend dem Symbolismus verpflichtet und vor allem in Bezug auf die Maltechnik richtungsweisend.
artensuite Schweizer Kunstmagazin Februar 2011 | 11