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Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Mertens und Dipl.-Wirtsch.-Ing. Wolfgang Faisst, Nürnberg<br />
Die Autoren geben eine grundlegende Einführung in<br />
das Konzept der Virtuellen Unternehmen und heben<br />
sechs Merkmale hervor. Sie diskutieren erfolgsfördernde<br />
und -hemmende Faktoren Virtueller Unternehmen<br />
und skizzieren charakteristische Lebensphasen.<br />
Schließlich beschreiben sie die Informations-<br />
und Kommunikationstechnik als Gestaltungselement<br />
zwischenbetrieblicher Kooperationen.<br />
Der Beitrag entspricht in gekürzter Form einem in<br />
der Zeitschrift technologie & management im Juli<br />
1995 erschienenen Aufsatz der Verfasser.<br />
1 Einleitung - die Vision - Beispiele<br />
In einem Aufsatz über Virtuelle Unternehmen schreibt<br />
Semich (Übersetzung nach Semich 1994 durch die Autoren):<br />
„Wäre es nicht wunderbar, wenn Sie ein wirklich<br />
gewinnträchtiges Unternehmen betreiben könnten, ohne<br />
die Arbeit zu tun? Sie würden sich damit begnügen, ein<br />
großartiges neues Produkt auszudenken oder eine Idee<br />
zu kaufen, und dann nur noch den ganzen Prozeß orchestrieren.<br />
Die Arbeit würden Konstruktionsbüros,<br />
Komponentenlieferanten, Montagebetriebe, Distributoren<br />
verrichten, die sich am Bedarf der Kunden orientieren.“<br />
Beispiel:<br />
Man stelle sich ein deutsches Großunternehmen vor, das<br />
einem ostasiatischen Staat auf dessen Ausschreibung hin ein<br />
modernes Verkehrssystem anbietet und einem internationalen<br />
Konkurrenten unterliegt. Ursache sei, daß der deutsche Bieter<br />
zu wenig Produkte sowie Dienstleistungen des Kunden-Landes<br />
berücksichtigt und einige weitere Schwächen bei Zulieferern<br />
offenbart. Die Deutschen erhalten eine zweite Chance<br />
und sollen in acht Wochen ein verbessertes Angebot präsentieren.<br />
Sie müssen in kürzester Zeit Vereinbarungen mit einer<br />
Reihe von Unternehmen treffen und mit diesen gemeinsam<br />
u.a. neue Kalkulationen durchführen sowie einen stark veränderten<br />
Projektplan mit vielen Details ausarbeiten. Die Herausforderung<br />
besteht darin, die größere Zahl von Parteien so zu<br />
„verschweißen“, daß der Kunde den Eindruck gewinnt, er habe<br />
es mit einem Partner zu tun.<br />
2 Wesen des Virtuellen Unternehmens<br />
2.1 Definition<br />
„Virtuell bezeichnet etwas, das möglich oder künstlich ist,<br />
etwas, das wirkt ‘als ob’, der Kraft oder der Möglichkeit<br />
nach vorhanden, ‘scheinbar’ (Duden) ist oder ‘existing in<br />
the mind, especially as a product of imagination’<br />
(American Heritage Dictionary)“ (Klein 1994).<br />
Der Begriff „Virtuelles Unternehmen“ (wir wollen in der<br />
Folge mit „VU“ abkürzen) wurde in Anlehnung an die<br />
virtuelle Speichertechnik in der Informatik geprägt. So<br />
wie durch virtuelle Speicher zusätzliche Ressourcen<br />
(Hauptspeichererweiterungen) erübrigt werden, indem<br />
man die Informationsflüsse geschickt zwischen dem<br />
vorhandenen Hauptspeicher und Paging-Bereichen auf<br />
Platten steuert, will man bei VU den Aufbau zusätzlicher<br />
Institutionen vermeiden (vgl. Mertens 1994).<br />
Ein VU basiert auf einem Netzwerk von Betrieben, die<br />
sich rasch zusammenschließen, um eine sich bietende<br />
Wettbewerbschance zu nutzen. Ein Unternehmen allein<br />
kann das notwendige Know-how durch Übernahmen<br />
oder Fusionen wegen deren Kosten sowie Risiken kaum<br />
erlangen. Der interne Aufbau erweist sich auf der anderen<br />
Seite als zu zeitaufwendig und in stark innovierenden<br />
Märkten z.T. unmöglich. Daher bleibt dem Betrieb nur<br />
die Kooperation mit anderen Unternehmen. In einem VU<br />
teilen die Partner Kosten, Risiken und Wissen. Sie agieren<br />
gemeinsam auf den nationalen und globalen Märkten,<br />
wobei jeder „Mitspieler“ seine „komparativen Vorteile”<br />
einbringt. Ein entscheidender Erfolgsfaktor ist hierbei<br />
eine hochentwickelte Informationsinfrastruktur, welche<br />
die „verteilten” Mitgliedsunternehmen auch über<br />
große Entfernungen „zusammenbindet”. Nach Ende der<br />
Marktaufgabe, sei dies nach einem Jahr oder Jahrzehnt,<br />
löst sich die Organisationsstruktur wieder auf bzw. macht<br />
Platz für neue Allianzen.<br />
Noch keine Einigkeit herrscht darüber, ob neben Unternehmensverbünden,<br />
die nur eine zeitlich begrenzte Auf-
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gabe (eben die „Mission“) erfüllen („opportunistische<br />
Partnerschaften“), auch solche dazugehören, die auf<br />
Dauer angelegt sind. Temporäre Formen der Zusammenarbeit<br />
gelten als höher entwickelt, da der ständige<br />
Partnerwechsel ein größeres Maß an Flexibilität in bezug<br />
auf Unternehmenskultur und Informationstechnik verlangt.<br />
2.2 Wichtige Merkmale<br />
2.2.1 Partnerschaften in Netzwerken mit anderen<br />
Unternehmen<br />
Der starre unternehmensinterne Verbund wird immer<br />
mehr gelockert. Dies geschieht durch Dezentralisierung<br />
und Schaffung interner Märkte, in denen autonom agierende<br />
Marktparteien (Profit Centers, Fertigungssegmente<br />
etc.) auftreten. Auf der anderen Seite werden<br />
Zulieferer beispielsweise über Single Sourcing etc. immer<br />
enger gebunden. Dies könnte dahin konvergieren,<br />
daß eine Einheit innerhalb der Kooperation anderen<br />
ohne Rücksicht darauf gegenübertritt, ob es sich um<br />
interne Profit Center oder externe Unternehmen handelt.<br />
Gruppieren sich diese autonomen Elemente in Netzwerken,<br />
dann können sie sich die Vorteile der Netzgröße<br />
zunutze machen, ohne die Flexibilität und Überschaubarkeit<br />
kleiner Einheiten aufzugeben.<br />
Zulieferer<br />
Broker<br />
Marketing/<br />
Vertrieb<br />
INTERNES NETZWERK<br />
Zulieferer<br />
Zulieferer<br />
Leader<br />
Zulieferer<br />
Zulieferer<br />
Produktion<br />
Entwicklung/Konstruktion<br />
Zulieferer<br />
Broker<br />
Produktion<br />
Entwicklung/Konstruktion<br />
Marketing/<br />
Vertrieb<br />
STABILES NETZWERK DYNAMISCHES NETZWERK<br />
Abbildung 1: Netzwerktypen nach Snow u.a.<br />
Snow u.a. (Snow u.a. 1992) unterscheiden drei Unternehmensnetzwerktypen<br />
(vgl. Abbildung 1). Das interne<br />
Netzwerk verkörpert die dezentralisierte Organisationsstruktur<br />
eines Unternehmens, das aus Profit Centern<br />
besteht (Beispiel ABB). Im stabilen Netzwerk schart ein<br />
führendes Unternehmen wie BMW oder General Motors<br />
zahlreiche Zulieferer um sich, die für einen Großteil der<br />
gesamten Wörtschöpfung verantwortlich sind. Ebenso<br />
kann ein Unternehmen sich für die Befriedigung spezieller<br />
Kundenwünsche einen Pool von Firmen halten, die<br />
zuvor ausgewählt und zertifiziert wurden.<br />
Das dynamische Netzwerk stellt die extremste Form<br />
von Outsourcing betrieblicher Funktionen dar (vgl. das<br />
unten skizzierte Beispiel von Ambra), wobei der Broker<br />
je nach Situation unterschiedliche Partner zusammenführt.<br />
Die oben vorgestellte Netzwerktypologie ist<br />
Grundlage für VU. Die Partner gehen im VU ein quasi<br />
symbiotisches Verhältnis ein, das über die herkömmlichen<br />
Formen von Geschäftsbeziehungen hinausreicht<br />
und in diesem Ausmaß sowie die Intensität in den bisherigen<br />
Kooperationsformen nicht anzutreffen war.<br />
2.2.2 Konzentration auf Kernkompetenzen<br />
Beim Zusammenschluß in der Vision des VU-Netzwerkes<br />
bringt jedes Unternehmen seine Kernkompetenzen<br />
ein, welche die Expertise der anderen Netzwerkteilnehmer<br />
synergetisch ergänzen. Das VU ist somit eine<br />
„Best-of-everything-Organization”, d.h. ein Spitzenunternehmen<br />
auf Zeit.<br />
Beispiel:<br />
Ambra, eine Tochterfirma der IBM, vertrieb IBM-kompatible PC<br />
unter Verwendung einer Virtuellen Organisationsstruktur. Die<br />
Firma wurde mit 80 Leuten in Raleigh, North Carolina, gegründet.<br />
Diese Mitarbeiter koordinierten die Aktivitäten von<br />
zuletzt fünf Betrieben, von denen keine Ambra gehörte. Diese<br />
Unternehmen gebrauchten ihr Wissen und ihre Fähigkeiten,<br />
um andere Produkte und Dienstleistungen zur gleichen Zeit zu<br />
erstellen, wie sie das für Ambra taten. Wearnes Technologies<br />
aus Singapur erstellte das Design, fertigte Komponenten und<br />
übernahm die Beschaffung. SCI Systeme montierte die PC auf<br />
konkreten Abruf hin. Die Werbeagentur AI besorgte das Marketing.<br />
Merisel übernahm die Auftragsannahme und den Ver-
Transformation von<br />
Unternehmensaktivitäten<br />
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trieb. Ein Spinoff von IBM schließlich kümmerte sich um Service<br />
und Kundendienst. Als die Gewinne Mitte 1994 schmäler<br />
wurden, liefen die Aktivitäten von Ambra aus.<br />
2.2.3 Überwindung räumlicher und zeitlicher Distanz<br />
bei der Leistungserstellung<br />
Für den Kunden erscheinen die Leistungen einer virtuellen<br />
Organisation wie aus einer Hand, obwohl sie faktisch<br />
das Ergebnis einer auf viele unabhängige Träger verteilten<br />
Leistungserstellung sind. Die Unternehmensidentität<br />
(Corporate Identity) geht in eine Marken- bzw. Produktidentität<br />
über. Man kennt dies etwa von Marken großer<br />
Versandhäuser, z.B. „PRIVILEG“.<br />
2.2.4 Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologie<br />
(IuK)<br />
Ein VU ist in Spezialfällen auch ohne Informationstechnologie<br />
(IT) denkbar, aber durch ihren Einsatz wird neben<br />
neuen Größenordnungen der Geschwindigkeit und<br />
der Qualität des Informationsaustausches auch die Koordination<br />
von vorher aufgrund der Kosten als kaum<br />
synchronisierbar geltenden Aktivitäten ermöglicht (vgl.<br />
Malone u.a. 1993). Durch die rasante Entwicklung der IT<br />
werden generell neue Freiheitsgrade bei der Gestaltung<br />
von Unternehmensstrategien sowie Organisationsformen<br />
und so speziell auch von VU eröffnet.<br />
hoch<br />
5. Neudefinition des Geschäftszwecks<br />
Das Fünf-Ebenen Modell von Venkatraman (vgl. Abbildung<br />
2) verdeutlicht die durch IT induzierte Veränderung<br />
von Unternehmen. VU wären hier auf Ebene 4 anzusiedeln<br />
(vgl. Venkatraman 1991, S. 127).<br />
2.2.5 Individualisierung von Produkten bzw. Lösungen<br />
VU erweisen sich als vorteilhaft, wenn es darum geht,<br />
innovative Produkte (Innovation durch Kooperation) zu<br />
vermarkten oder kundenindividuelle Lösungen<br />
(Variantenvielfalt) zu erzeugen. In der Vision der Amerikaner<br />
Goldman und Nagel (Goldman u.a. 1994) soll ein<br />
VU nach dem Entstehen des Kundenwunsches gemeinsam<br />
mit dem Empfänger ein direkt auf dessen Bedürfnisse<br />
abgestelltes (individuelles) Produkt schaffen.<br />
3 Wurzeln<br />
Die von vielen Fachleuten und Laien diskutierten Managementtechniken<br />
und Trends der Unternehmensgestaltung<br />
sind auch ein Grund, sich mit VU zu befassen (s.<br />
Abbildung 3).<br />
Konzernbildung, Fusionen<br />
Internationalisierung<br />
Standortverlagerung<br />
Segmentierung<br />
Fraktale Fabrik<br />
Telearbeit<br />
Weltweite<br />
Datenkommunikation<br />
System-Integration<br />
VU<br />
Beschränkung<br />
auf Kernkompetenzen<br />
Outsourcing<br />
Vermeiden personeller<br />
Überkapazitäten<br />
Kurze Modell-Lebenszyklen<br />
Business Process Reengineering<br />
Lean Management<br />
Supply Chain Management<br />
Kunden-Orientierung<br />
Service-Orientierung/Mehrwertdienste<br />
4. Neugestaltung des Geschäfts-Netzwerkes<br />
3. Neugestaltung von Geschäftsprozessen<br />
2. Unternehmensinterne Integration<br />
Abbildung 3: VU-Wurzeln<br />
4 VU und alternative Formen der Unternehmens-<br />
Kooperation<br />
niedrig<br />
1. Innerbetriebliche Insellösungen<br />
niedrig<br />
Reichweite des<br />
potentiellen Nutzens<br />
Abbildung 2: Unternehmensveränderungen durch IuK<br />
(Fünf-Ebenen-Modell)<br />
hoch<br />
4.1 Abgrenzung zu anderen Organisationsformen<br />
Wie so oft, stellen auch VU keine völlig neue Entwicklung<br />
dar; vielmehr spürt man die Verwandtschaft zu an-
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deren Kooperationsformen. In der Folge bemühen wir<br />
uns daher um eine Abgrenzung (s. Tabelle 1).<br />
Verbundformen<br />
Strategische<br />
Allianz<br />
Attribute der Verbundform<br />
im Unterschied zu VU<br />
Weniger tiefe Verbindung<br />
Kaum Virtualisierung<br />
der Leistungserstellung<br />
Vorwiegend von Großbetrieben<br />
gegründet<br />
Besteht neben Kerngeschäft<br />
4. Komponentenproduktion und -zulieferung, wie etwa in<br />
der Automobilherstellung schon sehr weit gediehen<br />
5. Besondere Finanzierungsfälle, etwa Sanierungen<br />
Beispiel Metallgesellschaft<br />
6. Großschaden-/Rückversicherung<br />
Bei all diesen Vorhaben handelt es sich meist um solche,<br />
bei denen Geschwindigkeit eine sehr große Rolle<br />
spielt, es werden auch immer wieder sogenannte Crash-<br />
Vorhaben zu bewältigen sein.<br />
Konzern<br />
Kartell<br />
Konsortium<br />
Beherrschungsvertrag<br />
Dient zur Wettbewerbsbeschränkung<br />
Beinhaltet formales Beiwerk<br />
6 Voraussetzungen<br />
6.1 Notwendige und fördernde Faktoren<br />
6.1.1 Vertrauen<br />
Joint Venture<br />
Erfordert Neugründung<br />
Keiretsu<br />
Feste Mitgliedschaft der Partner<br />
Tabelle 1: Unterschiede zu anderen Verbundformen<br />
Neu am Konzept eines VU ist die Kombination der einzelnen<br />
Kennzeichen (vgl. oben den Abschnitt über wichtige<br />
Merkmale), so wie z.B. das Total Quality Management<br />
auch weniger durch neue Elemente als durch die<br />
Kombination bekannter Bausteine (Kundenorientierung,<br />
Qualitätszirkel, statistische Methoden, Gruppenarbeit<br />
usw.) charakterisiert ist.<br />
5 Typologie nach Funktionen<br />
Bausteine einer solchen Typologie könnten unter anderem<br />
sein:<br />
1. Projektakquisition und -durchführung, z.B. Bau- oder<br />
andere Infrastrukturvorhaben im Ausland (Siemens-<br />
Verkehrssystem)<br />
2. Absatznetze, insbesondere für Schwerpunktaktionen,<br />
wie z.B. Vermarktung einer überreichen Ernte, technischen<br />
Innovationen<br />
3. Logistische Felder, wie z.B. Reiseagenturen/ Urlaubsveranstalter<br />
oder zwischenbetrieblich koordinierte<br />
Güterlogistik<br />
Da das Wesen der VU die Preisgabe strategischer<br />
Funktionen beinhaltet und da wegen des Zeitdrucks<br />
beim kurzfristigen Aufbau von VU auf komplexe und<br />
zeitraubende Absicherungen verzichtet wird, sind vertrauensbildende<br />
Maßnahmen sowie eine offene Kultur<br />
unerläßlich für den Erfolg. Kontrollen können eher durch<br />
die IV erfolgen.<br />
6.1.2 Fit<br />
Die Partner müssen strategisch, in der Aufbau- und Ablauforganisation,<br />
unternehmenskulturell sowie informationstechnisch<br />
zueinander passen. Entscheidend für das<br />
Gelingen einer Kooperation ist das Herstellen einer Win-<br />
Win-Situation. Umgekehrt sind Nullsummenspiele keine<br />
passende Basis.<br />
6.1.3 Flexible IV-Systeme<br />
Es sind flexible IV-Systeme nötig, die schnelle Anpassungen<br />
nach dem „Plug and Play“-Prinzip (Analogie zu<br />
einer Stereoanlage) an neue Produkte, neue Prozesse<br />
oder IV-Systeme neuer Partner erlauben. Bei einem<br />
Wandel sollte es möglich sein, eine quasi automatische<br />
Umkonfiguration der IV und der Organisation vorzunehmen.
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Mertens und Dipl.-Wirtsch.-Ing. Wolfgang Faisst, Nürnberg<br />
6.1.4 Geeignete Mitarbeiter<br />
Für den „Virtual Employee“ wird die Identifikation mit<br />
dem Unternehmen durch die Identifikation mit den Produkten<br />
des VU ersetzt. Dies kann zu Problemen führen,<br />
wie sie bei Leiharbeitern auftauchen.<br />
6.2 Verhindernde und hemmende Faktoren<br />
Einflüsse, die in besonderer Weise geeignet sind, den<br />
Aufbau oder das Funktionieren von VU zu erschweren,<br />
sind eine Art Proporzdenken, die „Not-Invented-Here“-<br />
Attitude, fehlende bzw. unausgereifte Standards (vgl. IV-<br />
Unterstützung) und die Furcht, daß es bei der Auflösung<br />
des Gebildes zu Konflikten kommen kann.<br />
7 Lebensphasen<br />
7.1 Anbahnung - Partnersuche<br />
Es stellt sich die Frage, wie es überhaupt zur Gründung<br />
eines VU kommt. Nehmen wir einmal an, ein Visionär<br />
wolle ein solches Unternehmen gründen. Vermutlich wird<br />
er zunächst als Partner an Personen bzw. Unternehmen<br />
denken, mit denen er längerfristige Geschäftsbeziehungen<br />
unterhält und schon früher kooperiert hat. Da das<br />
Vertrauensverhältnis wichtig ist, wird sich ein „harter<br />
Kern“ herauskristallisieren.<br />
7.2 Vereinbarung<br />
Hat sich die Grundzusammensetzung des kommenden<br />
VU herausgebildet, so geht es in weiteren Verhandlungen<br />
um die genauere Ausgestaltung. „Das Aufeinandertreffen<br />
der Kooperationsträger aus den verschiedenen<br />
Partnerunternehmungen (Multiorganisationalität) bei<br />
kollektiven Entscheidungen (Multipersonalität), ohne daß<br />
formale, einseitige Weisungsrechte bestehen, bereitet<br />
große Schwierigkeiten bei der Entscheidungsfindung,<br />
welche sich potenzieren, wenn die Partner aus sehr unterschiedlichen<br />
soziokulturellen Umwelten<br />
(Multinationalität) stammen.“ (Tröndle 1986, S. 6). In der<br />
Vereinbarungsphase Verflechtungsintensität (Dauer der<br />
Verbindung, Ressourcenzuordnung), Arbeitsteilung,<br />
Koordinationsformen (z.B. Stimm- oder Vetorechte),<br />
Formalisierungsgrad: Festlegung von Verfahrensregeln<br />
sowie Projektmanagement zu klären.<br />
7.3 Durchführung<br />
Auf der operativen Ebene wird es zur Angleichung bzw.<br />
Verschmelzung der Informationsverarbeitungssysteme<br />
(IV-Systeme) kommen. Unternehmensinterne Umstrukturierungen<br />
werden ebenfalls notwendig sein, da durch<br />
die Kooperation Aufgaben wegfallen und neue entstehen.<br />
In dieser Phase können elektronische Hilfsmittel<br />
eine besondere Rolle spielen (vgl. Abschnitt über IV-<br />
Unterstützung).<br />
7.4 Auflösung<br />
Nach Beendigung der Mission ist u.a. an eine Sicherung<br />
von Ergebnissen in Erfahrungs- oder Know-how-Datenbanken<br />
zu denken. Verfahrensschritte bei der Auflösung<br />
des VU sollten schon zu Beginn festgelegt werden.<br />
8 IV-Unterstützung<br />
8.1 IV-Methoden<br />
Eine zumindest lose Kopplung von informationstechnischen<br />
Hilfsmitteln und Anwendungssystemen dürfte in<br />
vielen VU zum Kritischen Erfolgsfaktor (umgekehrt die<br />
mangelnde Kompatibilität zum Kritischen Mißerfolgsfaktor)<br />
werden. Beispielsweise benötigen VU eine gewisse<br />
Harmonisierung der Kalkulationsmethoden, der zwischenbetrieblichen<br />
Leistungsverrechnung, der Projektmanagementsysteme<br />
und der Produktdatenbanken. Hier<br />
liegt noch ein sehr großer Bedarf an Forschung, Entwicklung<br />
und Erprobung. Vor allem müssen möglichst<br />
problemlose Normen geschaffen werden. Spezielle IV-<br />
Hilfsmittel für VU zeigt die Tabelle 2.
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Mertens und Dipl.-Wirtsch.-Ing. Wolfgang Faisst, Nürnberg<br />
Hilfsmittel<br />
Elektronischer Unternehmenskatalog<br />
Elektronisches Organisationshandbuch<br />
(ELO)<br />
Computergestützte<br />
Organisationstools<br />
Workflow- Management<br />
und Groupware<br />
Führungsinformationssysteme<br />
(FIS)<br />
Tabelle 2: Spezielle IV-Hilfsmittel<br />
Bemerkungen<br />
Die Unternehmen präsentieren sich<br />
in Form von elektronischen Gelben<br />
Seiten auf einer gemeinsamen<br />
Plattform (z.B. WWW). Sie geben<br />
eine Unternehmensdarstellung, das<br />
Portfolio, Referenzen und Kontaktadressen<br />
bekannt.<br />
Ein ELO ist vergleichbar mit einem<br />
elektronischen Produktkatalog und<br />
enthält Informationen über Aufbau,<br />
Abläufe, Mitarbeiter sowie Produkte<br />
bzw. Dienstleistungen einer Organisation<br />
(vgl. Chrapary u.a. 1991).<br />
Jeder VU-Partner sollte einen Zugang<br />
zum ELO der anderen erhalten,<br />
um die richtigen Ansprechpartner<br />
zur effizienten Realisierung gemeinsamer<br />
Geschäftsprozesse<br />
schnell zu ermitteln.<br />
Zur Wahl geeigneter Koordinationsstrukturen<br />
sowie zur effizienten<br />
Organisationsgestaltung können<br />
computergestützte Tools (inkl. Meta-<br />
Ablaufpläne für die Ablauforganisation)<br />
verwendet werden. Im Idealfall<br />
steht am Ende ein Abbild der Aufbau-<br />
und Ablauforganisation des VU<br />
im Rechner.<br />
Workflow-Management kann für die<br />
Steuerung und Überwachung von<br />
zwischenbetrieblichen Geschäftsprozessen<br />
verwendet werden. Die<br />
Entwicklung adaptiver Workflow-<br />
Systeme erleichtert die dynamische<br />
Anpassung an immer neue Geschäftsprozesse.<br />
Die Unterstützung<br />
von zeitlich und örtlich getrennten<br />
Gruppenprozessen wird durch Email,<br />
Desktop-Videokonferenzen usw.<br />
geleistet. Negative Effekte von traditionellen<br />
Gruppensitzungen werden<br />
durch die Verwendung von Groupware<br />
bzw. Computerkonferenzen<br />
vermieden.<br />
Für die Führung im VU sowie der<br />
jeweiligen Partnerunternehmen sind<br />
entsprechende Berichte notwendig.<br />
Ein FIS im VU sollte unterschiedliche<br />
Berichtsphilosophien, heterogene<br />
Datenbanken, international verschiedene<br />
Rechnungslegung,<br />
Sprachunterschiede sowie semantische<br />
Differenzen beispielsweise bei<br />
Kennzahlen berücksichtigen. Die<br />
Idee des Data Warehouse läßt sich<br />
ebenfalls übertragen.<br />
8.2 Architekturkonzepte einer gemeinsamen Informationsverarbeitung<br />
Grundlegend für jede Form einer rechnergestützten<br />
Kommunikation ist die Vernetzung der Partner beispielsweise<br />
mittels Internet. Aufbauend auf einer derartigen<br />
Vernetzung lassen sich drei verschiedene Stufen<br />
einer IV-Architektur realisieren, die die Kommunikation in<br />
unterschiedlicher Intensität und auf unterschiedlichem<br />
Niveau unterstützen können (s. Abbildung 4). Die unterste<br />
Ebene bildet die Applikations-Kommunikation über<br />
einheitliche Kommunikationsschnittstellen und<br />
-standards. Die nächste, höher entwickelte Variante ist<br />
das Daten-Sharing zum Zugriff auf gemeinsame Datenbestände.<br />
Beim Applikations-Sharing werden die Anwendungssysteme<br />
der Partner in einer Art und Weise<br />
vereint, daß Multi-User-Systeme im Sinne von Groupware<br />
entstehen.<br />
Unternehmen A<br />
Daten-<br />
Sharing<br />
Unternehmen B<br />
Abbildung 4: IV-Architektur<br />
9 Schluß<br />
Applikations-<br />
Sharing<br />
Unternehmen C<br />
Applikations-<br />
Kommunikation<br />
VU sind eine junge Spielart unter vielen Kooperationsformen.<br />
Es ist noch zu früh zu erkennen, ob wir es mit einem<br />
vorübergehenden Modebegriff zu tun haben. Einige<br />
reizvolle Eigenschaften der VU könnten helfen, einen<br />
Bedarf an Organisationsstrukturen zu decken, den veränderte<br />
ökonomische Umwelten mit sich bringen - in den
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Mertens und Dipl.-Wirtsch.-Ing. Wolfgang Faisst, Nürnberg<br />
Kategorien der Innovationstheorie wäre einerseits von<br />
einem Bedarfssog zu sprechen. Andererseits erzeugen<br />
vor allem informationstechnische Neuerungen auch einen<br />
sog. Technologiedruck. Beides zusammengenommen<br />
läßt es geraten erscheinen, Möglichkeiten und<br />
Grenzen von VU zu erforschen.<br />
10 Bemerkung<br />
Der Beitrag basiert auf Erkenntnissen aus dem Forschungsprojekt<br />
„Informations- und Kommunikationssysteme<br />
als Gestaltungselement Virtueller Unternehmen“,<br />
welches von der DFG unter der Nummer Me 241/16-1<br />
gefördert wird. Beteiligte Partner sind das Betriebswirtschaftliche<br />
Institut, Bereich Wirtschaftsinformatik I der<br />
Universität Erlangen-Nürnberg (Prof. Dr. Dr. h.c. mult. P.<br />
Mertens), das Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität<br />
Leipzig (Prof. Dr. D. Ehrenberg) und assoziiert<br />
das Institut für Wirtschaftsinformatik der Universität Bern<br />
in der Schweiz (Prof. Dr. J. Griese).<br />
Literatur:<br />
Brand, C., Das Virtuelle Unternehmen, Diplomarbeit,<br />
Bern 1994.<br />
Chrapary, H.-J., Rosenow-Schreiner, E. und Waldhör,<br />
K., Das Elektronische Organisationshandbuch, in: Lutze,<br />
R. und Kohl, A. (Hrsg.), Wissensbasierte Systeme im<br />
Büro, München u.a. 1991, S. 295-312.<br />
Goldman, S., Nagel, R., Preiss, K., Agile Competitors<br />
and Virtual Organizations: Strategies for Enriching the<br />
Customer, New York u.a. 1994.<br />
Klein, S., Virtuelle Organisation, wwwiwi.unisg.ch/iwi4/cc/genpubs/<br />
virtorg.html, WWW 1994.<br />
Malone, T. und Rockart, J., How Will Information Technology<br />
Reshape Organizations?, in: Bradley, S., Hausman,<br />
J. und Nolan, R. (Hrsg.), Globalization, Technology<br />
and Competition: The Fusion of Computer and Telecommunications<br />
in the 1990s, Boston 1993.<br />
Mertens, P., Virtuelle Unternehmen, WIRTSCHAFTSIN-<br />
FORMATIK 36 (1994) 2, S. 169-172.<br />
Prahalad, C. und Hamel, G., The Core Competence of<br />
the Corporation, Harvard Business Review 68 (1990)<br />
5/6, S. 79-91.<br />
Semich, J.W., Information Replaces Inventory at the<br />
Virtual Corp., Datamation 15 (1994) 7, S. 37-42.<br />
Scholz, C., Die virtuelle Organisation als Strukturkonzept<br />
der Zukunft?, Arbeitsbericht Nr. 30 des Lehrstuhls für<br />
Betriebwirtschaftslehre, insbesondere Organisation,<br />
Personal- und Informationsmanagement der Universität<br />
Saarbrücken 1994.<br />
Snow, C., Miles, R., Coleman, H., Managing 21st Century<br />
Network Organization, Organizational Dynamics 20<br />
(1992) 3, S. 5-20.<br />
Tröndle, D., Kooperationsmanagement, Bergisch-Gladbach<br />
u.a. 1986.<br />
Venkatraman, N., IT-Induced Business Reconfiguration,<br />
in: Scott Morton, M. (Hrsg.), The Corporation of the<br />
1990s, Oxford 1991, S. 122-158.