Steinzeit in der Gegenwart - Die Deutsche Bühne

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NEuaNFaNgE V Auch in Heidelberg drehte sich und hielt das Intendantenkarussell: Nach fünf Jahren Intendanz übergab Volkmar Clauß das Haus an Günther Beelitz, der mit Reformplänen für das Programm auf und hinter der Bühne startet. Steinzeit in der Gegenwart Foto: Bianconero Susanne Kaulich Theater ist Steinzeit.“ Behauptet Heiner Müller. und günther Beelitz, der neue Intendant des Heidelberger Theaters, auch. Wenigstens im Motto seines Spielzeitheftes. gegen die anbiederung an die Mediengesellschaft und deren sinnlosen Beschleunigungsrausch, den Müller in seinem berühmten Bonmot beklagt, hat sich Beelitz auch andernorts, zuletzt in Weimar, immer zur Wehr gesetzt: mit anspruchsvollem, an den jeweils gegebenen Realitäten orientiertem Theater. Ein wenig wie Steinzeit – und dies im wörtlichen Sinn – muss es Beelitz in Heidelberg denn auch vorgekommen sein, als er jetzt die Nachfolge von Volkmar Clauß antrat: Mit der Einführung (!) eines Computerkassensys - tems („Die arbeiteten hier noch mit dem gummidaumen!“) und des publikumsfreundlichen Heidelberg-Ticket-Service wurden längst überfällige Strukturveränderungen in angriff genommen. Erweiterte Lager-Kapazitäten sowie drei neue Probebühnen plus einer ständigen zweiten Spielstätte, die nun nicht mehr mit dem erfolgreichen Kinder-und Jugendtheater zwinger3 geteilt werden muss, verbessern die innerbetriebliche Situation und bieten mehr Spielmöglichkeiten. auch für das TanzTheater von Irina Pauls, der eigenwilligen Choreographin aus der Palucca-Schule. Signal dafür, dass mit Beelitz eine von Politikern mehrfach angedachte Ballett-Fusion – mit welcher Compagnie Baden-Württembergs auch immer – nicht zu machen sein wird. Zudem erhalten die Heidelberger Schloss festspiele, mit dem obligatorischen Touristenrenner „Student prince“ als „Pfahl im Fleisch“, ein neues gesicht, aber „ohne dabei einer falschen Festivalitis nachzujagen“, wie Beelitz betont. Erneuert worden wären sie übrigens auch mit Volkmar Clauß’ weit gediehenen Plänen, die, wohl aus schwelenden atmo - sphärischen Störungen mit den Stadt - oberen, obwohl bereits abgesegnet, einfach im Sande verliefen. Neben weit eren Irritationen (etwa dem Streit um den damaligen Ballettchef Hans Falar, der gegenüber einer Mitarbeiterin verbal ausfällig geworden sein soll) ein grund mehr, nach „erfüllten fünf Jahren ohne Zorn und Verbitterung, aber auch nicht unwillig“, so Clauß, den Intendantensessel zu räumen. In der Oper liegen dem neuen Theaterchef (nicht anders als seinem Vorgänger) Ensemblegedanke und Entwicklung junger Stimmen besonders am Herzen. unter dem „alteingesessenen“ gMD Gergana Geleva und Jaehong Im in „Medea“. Thomas Kalb trifft Beelitz in Heidelberg auf ein junges intaktes Ensemble, dem er mit Wolf Widder einen hierorts hinlänglich bekannten Opernregisseur als Spielleiter voranstellt. Besonderes augenmerk gilt der Konzentration auf Stücke, die ins Heidelberger Theater- „Schatzkästchen“ passen. Werke aus den „Zwischenzeiten“ sollen das Repertoire ergänzen, ohne dass sich dabei allzu viel Überschneidungen mit dem schon durch die Bühnenausmaße nicht vergleichbaren benachbarten Mannheimer Nationaltheater ergeben. Mit Luigi Cherubinis „Medea“ zur Spielzeiteröff nung setzten Beelitz und sein Team gleich ein Zeichen. und ta ten Die Deutsche Bühne 11/2000 33

NEuaNFaNgE V<br />

Auch <strong>in</strong> Heidelberg drehte<br />

sich und hielt das Intendantenkarussell:<br />

Nach fünf Jahren<br />

Intendanz übergab<br />

Volkmar Clauß das Haus an<br />

Günther Beelitz, <strong>der</strong> mit<br />

Reformplänen für das Programm<br />

auf und h<strong>in</strong>ter <strong>der</strong><br />

<strong>Bühne</strong> startet.<br />

<strong>Ste<strong>in</strong>zeit</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Gegenwart</strong><br />

Foto: Bianconero<br />

Susanne Kaulich<br />

Theater ist <strong>Ste<strong>in</strong>zeit</strong>.“ Behauptet<br />

He<strong>in</strong>er Müller. und günther Beelitz,<br />

<strong>der</strong> neue Intendant des Heidelberger<br />

Theaters, auch. Wenigstens im<br />

Motto se<strong>in</strong>es Spielzeitheftes. gegen die<br />

anbie<strong>der</strong>ung an die Mediengesellschaft<br />

und <strong>der</strong>en s<strong>in</strong>nlosen Beschleunigungsrausch,<br />

den Müller <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em berühmten<br />

Bonmot beklagt, hat sich Beelitz auch<br />

an<strong>der</strong>norts, zuletzt <strong>in</strong> Weimar, immer zur<br />

Wehr gesetzt: mit anspruchsvollem, an<br />

den jeweils gegebenen Realitäten orientiertem<br />

Theater. E<strong>in</strong> wenig wie <strong>Ste<strong>in</strong>zeit</strong><br />

– und dies im wörtlichen S<strong>in</strong>n – muss es<br />

Beelitz <strong>in</strong> Heidelberg denn auch vorgekommen<br />

se<strong>in</strong>, als er jetzt die Nachfolge<br />

von Volkmar Clauß antrat: Mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>führung<br />

(!) e<strong>in</strong>es Computerkassensys -<br />

tems („<strong>Die</strong> arbeiteten hier noch mit dem<br />

gummidaumen!“) und des publikumsfreundlichen<br />

Heidelberg-Ticket-Service<br />

wurden längst überfällige Strukturverän<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>in</strong> angriff genommen. Erweiterte<br />

Lager-Kapazitäten sowie drei neue<br />

Probebühnen plus e<strong>in</strong>er ständigen zweiten<br />

Spielstätte, die nun nicht mehr mit<br />

dem erfolgreichen K<strong>in</strong><strong>der</strong>-und<br />

Jugendtheater zw<strong>in</strong>ger3 geteilt werden<br />

muss, verbessern die <strong>in</strong>nerbetriebliche<br />

Situation und bieten mehr Spielmöglichkeiten.<br />

auch für das TanzTheater von<br />

Ir<strong>in</strong>a Pauls, <strong>der</strong> eigenwilligen Choreograph<strong>in</strong><br />

aus <strong>der</strong> Palucca-Schule. Signal<br />

dafür, dass mit Beelitz e<strong>in</strong>e von Politikern<br />

mehrfach angedachte Ballett-Fusion –<br />

mit welcher Compagnie Baden-Württembergs<br />

auch immer – nicht zu machen<br />

se<strong>in</strong> wird. Zudem erhalten die Heidelberger<br />

Schloss festspiele, mit dem obligatorischen<br />

Touristenrenner „Student pr<strong>in</strong>ce“<br />

als „Pfahl im Fleisch“, e<strong>in</strong> neues gesicht,<br />

aber „ohne dabei e<strong>in</strong>er falschen Festivalitis<br />

nachzujagen“, wie Beelitz betont.<br />

Erneuert worden wären sie übrigens auch<br />

mit Volkmar Clauß’ weit gediehenen<br />

Plänen, die, wohl aus schwelenden atmo -<br />

sphärischen Störungen mit den Stadt -<br />

oberen, obwohl bereits abgesegnet, e<strong>in</strong>fach<br />

im Sande verliefen. Neben weit eren<br />

Irritationen (etwa dem Streit um den<br />

damaligen Ballettchef Hans Falar, <strong>der</strong><br />

gegenüber e<strong>in</strong>er Mitarbeiter<strong>in</strong> verbal ausfällig<br />

geworden se<strong>in</strong> soll) e<strong>in</strong> grund<br />

mehr, nach „erfüllten fünf Jahren ohne<br />

Zorn und Verbitterung, aber auch nicht<br />

unwillig“, so Clauß, den Intendantensessel<br />

zu räumen.<br />

In <strong>der</strong> Oper liegen dem neuen Theaterchef<br />

(nicht an<strong>der</strong>s als se<strong>in</strong>em Vorgänger)<br />

Ensemblegedanke und Entwicklung junger<br />

Stimmen beson<strong>der</strong>s am Herzen.<br />

unter dem „alte<strong>in</strong>gesessenen“ gMD<br />

Gergana Geleva<br />

und Jaehong Im<br />

<strong>in</strong> „Medea“.<br />

Thomas Kalb trifft Beelitz <strong>in</strong> Heidelberg<br />

auf e<strong>in</strong> junges <strong>in</strong>taktes Ensemble, dem er<br />

mit Wolf Wid<strong>der</strong> e<strong>in</strong>en hierorts h<strong>in</strong>länglich<br />

bekannten Opernregisseur als Spielleiter<br />

voranstellt. Beson<strong>der</strong>es augenmerk<br />

gilt <strong>der</strong> Konzentration auf Stücke,<br />

die <strong>in</strong>s Heidelberger Theater- „Schatzkästchen“<br />

passen. Werke aus den „Zwischenzeiten“<br />

sollen das Repertoire ergänzen,<br />

ohne dass sich dabei allzu viel Überschneidungen<br />

mit dem schon durch die<br />

<strong>Bühne</strong>nausmaße nicht vergleichbaren<br />

benachbarten Mannheimer Nationaltheater<br />

ergeben.<br />

Mit Luigi Cherub<strong>in</strong>is „Medea“ zur<br />

Spielzeiteröff nung setzten Beelitz und<br />

se<strong>in</strong> Team gleich e<strong>in</strong> Zeichen. und ta ten<br />

<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11/2000<br />

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Schwerpunkt<br />

Foto: Christian Brachwitz<br />

da mit ke<strong>in</strong>en<br />

schlechten griff,<br />

zu mal die ex -<br />

treme „Callas“-<br />

Par tie bei <strong>der</strong> jungen<br />

bulgari schen<br />

Sopran is t<strong>in</strong><br />

gerga na ge leva<br />

<strong>in</strong> über rasch end<br />

gu ten Händen<br />

lag. Dass die Fassungsfrage<br />

mit<br />

den verschiedenen<br />

Rezitativver-<br />

Günther<br />

Beelitz<br />

sionen und diversen<br />

Nachkompositionen<br />

schwie rig, wenn nicht verworren<br />

ist, nutzten Wid<strong>der</strong> und Dramaturg Stephan<br />

Kopf zu e<strong>in</strong>em mutigen und <strong>in</strong>teressanten<br />

Kunstgriff: auf Kosten immenser<br />

Striche ergänzten sie das Werk mit<br />

Medea-Texten von Seneca, Hans Henny<br />

Jahnn und He<strong>in</strong>er Müller. <strong>Die</strong> werden<br />

zusammen mit e<strong>in</strong>er art Simultan-Übersetzung<br />

e<strong>in</strong>iger Rumpf-Rezitative, die die<br />

Bulgar<strong>in</strong> geleva aparterweise <strong>in</strong> ihrer<br />

Muttersprache <strong>in</strong>s Publikum geradezu<br />

schleu<strong>der</strong>t, von <strong>der</strong> Schauspieler<strong>in</strong> Tanja<br />

von Oertzen präsentiert. als alter Ego<br />

<strong>der</strong> Medea mischt sie sich stilsicher, sensibel<br />

und erstaunlich bruchlos <strong>in</strong> den<br />

musikalischen ablauf. Der für e<strong>in</strong>ige<br />

Opernpuristen vielleicht ärgerliche Verzicht<br />

auf e<strong>in</strong> paar Partiturseiten wird für<br />

den großteil des Publikums mehr als aufgewogen,<br />

vermitteln die zusätzlichen<br />

Texte doch differenzierte E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong><br />

Medeas psychologische Beweggründe,<br />

die sie zum schrecklichen K<strong>in</strong><strong>der</strong>mord<br />

treiben. Der Medea-Mythos: Über alle<br />

Epochen und gattungen h<strong>in</strong>weg e<strong>in</strong> zeitloses,<br />

immer aktuell gebliebenes Phänomen.<br />

Stoff für e<strong>in</strong>en fruchtbaren Theaterabend,<br />

<strong>der</strong> durch Frank Re<strong>in</strong>eckes<br />

symbolisch-assoziatives <strong>Bühne</strong>nbild<br />

noch an s<strong>in</strong>nfälliger Fasz<strong>in</strong>ation gew<strong>in</strong>nt.<br />

Thomas Kalbs schwungvoll-dramatischer<br />

Zugriff stütz te das gediegene Solistenensemble,<br />

während er das Orchester<br />

nah an die grenzen se<strong>in</strong>es Leistungsvermögens<br />

brachte.<br />

gelungener Neuanfang auch im Schaupiel<br />

mit Wolfgang Maria Bauers frischer<br />

„Räuber“-Inszenierung. Heidelbergs junger<br />

und schon renommierter Schauspielchef<br />

zeigt gleich vom ersten augenblick<br />

an, wie aktuell Schillers Sturm-und-<br />

Drang-Erguss auch heute ist. Zu Techno-<br />

Rhythmen präsentiert sich die Räuber-<br />

„gang“ genauso heterogen wie oberflächlich<br />

auf dem Model-Laufsteg <strong>der</strong><br />

Eitelkeiten: abbild unserer Fun-generation.<br />

unter dem ausgelutschten Motto<br />

„Friede <strong>in</strong> Deutschland“ sammelt sich die<br />

ganze Palette von glatzköpfigen Nazis bis<br />

zu Yuppies <strong>in</strong> Designer-Klamotten und<br />

drischt angelesene wie nachgeplapperte<br />

Phrasen. Da muss nur e<strong>in</strong>er kommen, <strong>der</strong><br />

diese orientierungslosen Hohlköpfe e<strong>in</strong>t:<br />

Menschenverführer Spiegelberg (teuflisch<br />

agil: Dirk <strong>Die</strong> k mann) lockt – natürlich<br />

mit <strong>der</strong> aussicht auf Mordsspaß und<br />

geld. Dem geschäftigen grafen von<br />

Moor, den Hanns jörg Schuster wun<strong>der</strong>bar<br />

ab we send gibt, ist da gegen Ruf und<br />

Name am allerwichtigs ten. Ke<strong>in</strong> Wun -<br />

<strong>der</strong>, dass <strong>der</strong> wohl geratene Sohn Karl<br />

(Daniel Hajdu), naiv himmelhoch jauchzend<br />

und zu Tode betrübt, das Heil <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Fremde, die geborgenheit <strong>in</strong> <strong>der</strong> gruppe<br />

sucht, während Franz – psychisch deformiert<br />

– den pathologischen Irrs<strong>in</strong>n schon<br />

früh <strong>in</strong> sich trägt. Daniel graf spielt ihn<br />

erschreckend konsequent <strong>in</strong> Diktion,<br />

Marotte und geste.<br />

auf Katar<strong>in</strong>a Sichtl<strong>in</strong>gs E<strong>in</strong>heitsbühne<br />

mit e<strong>in</strong>em praktikabel bespielbaren Verhau<br />

an Betonträgern f<strong>in</strong>det Bauer genug<br />

Freiheit und atmosphäre, um ganz nah<br />

am Schiller’schen Text zu bleiben, ihn <strong>in</strong><br />

klug arrangierten Simultanszenen gar zu<br />

verdichten und ihm neben beiläufiger<br />

alltäglichkeit se<strong>in</strong> Pathos nicht zu<br />

opfern. Mehr als e<strong>in</strong> gag, dass Kos<strong>in</strong>sky<br />

als lesbisches Fräule<strong>in</strong> genauso knallhart<br />

wie ihre männlichen genossen Karls<br />

Banden-gelöbnis e<strong>in</strong>for<strong>der</strong>t. gewalt<br />

macht ke<strong>in</strong>en unterschied vor den<br />

geschlechtern – nicht erst die RaF-Terrorist<strong>in</strong>nen<br />

haben uns das gelehrt. Heidelbergs<br />

aufbruch <strong>in</strong> die <strong>Ste<strong>in</strong>zeit</strong> über den<br />

umweg des gegenwartbezugs sche<strong>in</strong>t<br />

jedenfalls viel versprechend.<br />

„<strong>Die</strong> Räuber“: von<br />

l<strong>in</strong>ks Clemens Giebel,<br />

Dirk <strong>Die</strong>kmann,<br />

Ulrike Requadt,<br />

Harald Schwaiger<br />

und Daniel Hajdu.<br />

Foto: Cornelia Illius<br />

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<strong>Die</strong> <strong>Deutsche</strong> <strong>Bühne</strong> 11/2000

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