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Dezember 2003 - Der Fels

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der Ökosteuer auf ihre genuinen<br />

und originären Erziehungsbeiträge<br />

für das System noch einmal, und<br />

zwar überproportional, Ökosteuerbeiträge<br />

zu zahlen! Dabei handelt<br />

es sich derzeit um mindestens rund<br />

16 Mrd. Euro, die so unter unverdächtiger<br />

Etikette ins Rentensystem<br />

gepumpt werden; da aktuell jedoch<br />

kaum mehr als 3 Mrd. Euro zur laufenden<br />

Abdeckung der Babyjahr-<br />

Valutierung benötigt werden und<br />

eine Ansparung der überschiessenden<br />

Beträge nicht erfolgt, verstößt<br />

dieses Verfahren auch gegen<br />

§ 153 SGB VI (Umlageverfahren)“.<br />

In der Tat: Wohin man im Sozialsystem<br />

schaut, trifft man auf verfassungswidrige<br />

Regelungen, die<br />

nicht beseitigt, sondern sogar Jahr<br />

um Jahr und Reform um Reform<br />

noch verschärft werden – ein Skandal<br />

ohne Beispiel in der Sozialgeschichte<br />

der Bundesrepublik. Dass<br />

er nicht im notwendigen Maß publik<br />

und diskutiert wird, hängt offenbar<br />

mit der Komplexität und Intransparenz<br />

der Systeme sowie der<br />

Informationsmonopole der Versicherungsträger<br />

und Ministerien zusammen.<br />

Aber die Experten in den<br />

Ministerien und in den Parteien<br />

müssten es sehen. Die Politik verhält<br />

sich wie zwei der drei berühmten<br />

Affen: Nichts sehen, nichts hören.<br />

Und beim dritten Affen verhalten<br />

sie sich genau umgekehrt: Unablässig<br />

preisen sie die Wohltaten<br />

ihrer jeweiligen Parteien und verschweigen,<br />

dass alle Reformschritte<br />

der letzten Jahre auf Druck aus<br />

Karlsruhe zustande gekommen<br />

sind.<br />

Die Verweigerung in allen Parteien<br />

hat vermutlich eine gemeinsame<br />

Ursache. Es ist die Weigerung, der<br />

Wahrheit ins Auge zu schauen und<br />

zu sehen, dass alle Parteien jahrzehntelang<br />

versagt und die Fehler<br />

im System immer wieder fortentwickelt<br />

oder zugedeckt haben, statt sie<br />

an der Wurzel zu beheben. Das<br />

(Umlage-) System ist nämlich mit<br />

einem Geburtsfehler auf die Welt<br />

gekommen. Auf den Hinweis, dass<br />

die Erwerbsbevölkerung nicht nur<br />

auf einer, sondern auf zwei Schultern<br />

trage – auf der einen die Rentner,<br />

also die Renten, auf der anderen<br />

die Kinder, also die Erziehung<br />

– , soll Adenauer seine berühmte<br />

Antwort gegeben haben: „Kinder<br />

kriegen die Leute immer“. Das<br />

stimmte zu seiner Zeit, so dass er<br />

die Warnung seines Rentenexperten<br />

Wilfried Schreiber vom Bund Katholischer<br />

Unternehmer nicht ernst<br />

nahm. Schreiber hatte darauf gedrungen,<br />

beide Schultern zu entlasten<br />

und folgerichtig nicht nur eine<br />

Rentenkasse, sondern auch eine<br />

Familienkasse einzurichten, in die<br />

ähnlich wie für die Renten, ein Teil<br />

O<br />

hne die Korrektur seines<br />

Geburtsfehlers hat der<br />

Generationenvertrag keine<br />

Zukunft.<br />

des Einkommens einzuzahlen wäre<br />

und aus der dann die Familien entsprechend<br />

ihrer Kinderzahl entlastet,<br />

beziehungsweise für ihre Erziehungsarbeit<br />

entlohnt werden sollten.<br />

Dann wäre der Generationenvertrag<br />

stabil und gerecht. Adenauer<br />

hielt das nicht für notwendig, weil<br />

eben die Leute alle Kinder hätten<br />

und somit das Unrecht für alle mehr<br />

oder weniger gleich wäre. Ein folgenschwerer<br />

Irrtum. Zum einen war<br />

die Belastung schon damals je nach<br />

Kinderzahl unterschiedlich, zum<br />

anderen trat genau ein, was Schreiber<br />

geradezu prophetisch voraussah:<br />

Es könnte ja sein, dass manche<br />

Leute keine Kinder bekommen<br />

wollen und dann von dem System<br />

auf Kosten der Familien profitierten.<br />

Auch die Nachfolger Adenauers<br />

hielten eine Korrektur dieses Geburtsfehlers<br />

nicht für nötig. Sie saßen<br />

alle in der „Falle der Selbstverständlichkeit“,<br />

wie der österreichische<br />

Familienforscher Helmut<br />

Schattovits es formuliert. Sie hielten<br />

Familie für eine historische Konstante,<br />

unwandelbar, evident und<br />

eben selbstverständlich. Selbst als<br />

die Zahlen von der „demographischen<br />

Zeitenwende“ (Herwig Birg)<br />

auf dem Tisch lagen, Ende der achtziger<br />

Jahre nach der Arbeit der<br />

Bundetagsenquete-Kommission<br />

Demographischer Wandel, und es<br />

absehbar wurde, dass sich im sozialen<br />

Gefüge Deutschlands eine<br />

immer breiter werdende Gerechtigkeitslücke<br />

auftat, unternahm die<br />

Regierung Kohl nur wenig, um die<br />

Talfahrt aufzuhalten. Die Rotgrünen<br />

schließlich hoben das Wenige, den<br />

demographischen Faktor im Rentensystem<br />

etwa, noch auf. <strong>Der</strong> Verlust<br />

wird auf rund drei Milliarden<br />

Euro geschätzt. Die fehlen in der<br />

Rentenkasse, aber es fehlt viel<br />

mehr. Es fehlt die Gerechtigkeit, die<br />

Korrektur des Geburtsfehlers, ohne<br />

den der Generationenvertrag keine<br />

Zukunft hat.<br />

Dem Geburtsfehler entsprach ein<br />

Mentalitätsirrtum in Nachkriegsdeutschland.<br />

Man hielt Familie<br />

nach den Erfahrungen der Diktatur<br />

für reine Privatsache – das ist<br />

übrigens natürlich, Familie ist in<br />

Diktaturen immer die letzte Zuflucht<br />

gewesen. Das war außerdem vorgegeben<br />

von der Wirtschaftswissenschaft.<br />

Hier wird auch der<br />

Zusammenhang deutlich zwischen<br />

dem Glück der Familie und dem der<br />

Gesellschaft. Die Utilitaristen, allen<br />

voran der Brite Bentham, aber vor<br />

ihm auch schon der große Ökonom<br />

Adam Smith, begründen ihr Konzept<br />

vom Sittengesetz mit einer numerischen<br />

Idee vom Gemeinwohl,<br />

wenn sie sagen, dass „das größte<br />

Glück der größten Zahl“ der Inbegriff<br />

der verwirklichten Sittlichkeit<br />

sei. Wie immer man zu dieser Theorie<br />

steht, sie hat den Begriff des<br />

Glücks, happiness, immerhin im<br />

politischen Diskurs verankert – in<br />

Amerika sogar in der Verfassung als<br />

pursuit of happiness – und ist heute<br />

das beherrschende Prinzip im demokratischen<br />

Wohlfahrtsstaat. Aber<br />

eben als Zahlenidee, nicht als Wertekategorie.<br />

Ausdruck fand dieses<br />

Denken im durchaus positiven Slogan<br />

der sozialen Marktwirtschaft:<br />

Wohlstand für alle.<br />

So wie Adenauer und Erhard<br />

dachten viele. Kein Wunder. Das<br />

Land wuchs erst aus den Trümmern,<br />

die Nachkriegsgeneration war mit<br />

dem Rentensystem zufrieden, es<br />

war das erste, und es gab einen<br />

Wertekonsens. Dieser Konsens ging<br />

dann in den sechziger Jahren in die<br />

Brüche. Es ist müßig, darüber zu<br />

debattieren, ob die Kriegsgeneration<br />

ihren Nachwuchs zu mehr<br />

Wertebewusstsein hätte erziehen<br />

sollen oder können. Dieser Prozess<br />

ist gelaufen und Teil der Geschich-<br />

DER FELS 12/<strong>2003</strong> 347

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