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Pressemappe Barbara Klemm. Fotografien 1968–2013 - Berliner ...

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Niemand vor 1990 hat die Welt hinter dem «Eisernen Vorhang», also die DDR, Polen,<br />

Rumänien, Tschechien, die frühere Sowjetunion, so intensiv, so konsequent erkundet wie<br />

<strong>Barbara</strong> <strong>Klemm</strong> – und gleichzeitig alles andere als ideale Arbeitsbedingungen in Kauf<br />

genommen. «Die meisten hatten ja keine Ahnung, wie die Leute im Osten lebten», sagt<br />

<strong>Barbara</strong> <strong>Klemm</strong>, die jede Gelegenheit nutzte – die Leipziger Messe, die Ostseewoche, die<br />

Arbeiterfest spiele –, um eine Akkreditierung zu ergattern. «Oft hatten wir, wie in Polen,<br />

Aufpasser dabei, die als Dolmetscher arbeiteten, überall mit hinfuhren und manchmal die<br />

Hand vor das Objektiv hielten und sagten: ‹Nein, das nicht.› Ich habe oft versucht, dem zu<br />

entgehen und bin morgens früh losgegangen und war zum Frühstück wieder da. So habe ich<br />

1970 beispielsweise das Foto in Liegnitz gemacht, wo drei Generationen auf einem alten<br />

Pferdewagen sitzen. (S. 86) Das hätte ich nicht fotografieren können, wenn jemand daneben<br />

gestanden hätte.» 21<br />

Immer wieder, soviel steht fest, ist sie an Orten, wo sie eigentlich nicht hingehört, jedenfalls<br />

nicht erwartet wird. Tricks und Einfälle, meint <strong>Klemm</strong>, gehörten einfach dazu, «das lernt man<br />

mit der Zeit. Bei politischen Anlässen habe ich immer gedacht, wenn sie mich<br />

rausschmeißen, schmeissen sie mich halt raus.» 22 <strong>Klemm</strong> steht unter Erfolgszwang. Aber<br />

auch das ist Teil ihrer Profession, nämlich daß man mit verwertbaren Ergebnissen nach<br />

Hause kommt. Entschuldigungen, heißt es in der Branche, könne man nicht drucken. 1970<br />

ist <strong>Barbara</strong> <strong>Klemm</strong> in Warschau, um die Verhandlung der Ostverträge zu begleiten.<br />

«Schwierig für mich war», berichtet <strong>Klemm</strong>, «daß bei den Verhandlungen unser<br />

Außenminister Walter Scheel meist nicht da war. Ich mußte auch etwas Politisches nach<br />

Hause bringen, also wollte ich den deutschen und den polnischen Außenminister zusammen<br />

auf einem Bild haben. Der Pressesprecher sagte mir, es gebe nur ein gemeinsames<br />

Abendessen, und da sei keine Presse zugelassen. Aber ich könne mich ja vor das Hotel<br />

stellen. Ich dachte, das wird natürlich nichts, zumal ich wie immer keinen Blitz hatte und auch<br />

keinen benutzen wollte. Es war November, und es war naß. Also habe ich mir einen Rock<br />

angezogen, meine Tasche umgehängt, alle Apparate eingesteckt und bin schnurstracks<br />

durch die Hotelhalle, die voller Sicherheitsleute war, gelaufen. Ich hatte die Nase sehr weit<br />

oben – da sah ich eine offene Tür, in der Männer in Anzügen und auch Walter Scheel<br />

standen. Auf die bin ich zugesteuert. Als Scheel mich sah, fragte er: ‹Was machen Sie denn<br />

hier?› ‹Oh›, hab ich gesagt, ‹ich will fotografieren.› Da sagte er: ‹Na, dann bleiben Sie mal<br />

da.›» 23<br />

<strong>Barbara</strong> <strong>Klemm</strong> hat Kanzler begleitet, Wahlkämpfe beobachtet, von Parteitagen berichtet.<br />

Sie ist die Chronistin deutscher Politik seit den späten 1960er Jahren. Wenn wir Joschka<br />

Fischer in Turnschuhen, Heinrich Böll in Mutlangen beim friedlichen Protest gegen<br />

Mittelstreckenraketen (S. 46) oder einen soeben gestürzten SPD-Vorsitzenden Rudolf<br />

Scharping bildhaft erinnern, dann sind es im Zweifel Aufnahmen von <strong>Barbara</strong> <strong>Klemm</strong>, die in<br />

unserem Gedächtnis aufscheinen.<br />

Zugleich wäre es verkehrt, <strong>Barbara</strong> <strong>Klemm</strong> aufs Politische (im engeren Sinne) zu reduzieren.<br />

Sie ist auch und nicht zuletzt eine Meisterin im Erfassen des Beiläufigen. Immer wieder im<br />

Alltag entdeckt sie zutiefst Menschliches. Über vermeintlich banale Momente schreibt sie an<br />

einer großen, sich keineswegs auf deutsche Verhältnisse beschränkenden Sittengeschichte<br />

unserer Zeit. Nehmen wir das Bild «Frankfurt, 1971» (S. 15). Eine Trinkhalle, wie man das<br />

Phänomen Straßenkiosk in Frankfurt zu bezeichnen pflegt. Menschen, Männer, um genau zu<br />

sein, die herumstehen, Bier trinken. Es passiert definitiv nichts, nichts von Belang, sieht man<br />

davon ab, daß alle ähnlich gekleidet sind und zwei einen Jungen beobachten. Aber gehört<br />

das Warten, das Nichtstun, das Herumstehen nicht auch zum Arsenal des Alltags? <strong>Barbara</strong><br />

<strong>Klemm</strong>s Reportagefotografie bewähre sich am «scheinbar Selbstverständlichen,<br />

Undramatischen, am Sensationslosen. Es sind ruhige, stille Bilder von Gehenden,<br />

Sitzenden, Wartenden», hat <strong>Barbara</strong> Catoir einmal sehr schön gesagt, 24 oder, um Ingo<br />

Schulze zu zitieren: «Bei <strong>Barbara</strong> <strong>Klemm</strong>, die dem Betrachter zutraut, die Bilder zu lesen,<br />

verhält sich das Unspektakuläre umgekehrt proportional zur Aussagekraft und<br />

Vielschichtigkeit bis hin zum Visionären.» 25<br />

<strong>Pressemappe</strong>: <strong>Barbara</strong> <strong>Klemm</strong>. <strong>Fotografien</strong> 1968 – 2013 Seite 19

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