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LEBEN MIT BEHINDERUNG - Berliner Zeitung

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DIENSTAG, 18. JUNI 2013 I VERLAGSBEILAGE <strong>LEBEN</strong> <strong>MIT</strong> <strong>BEHINDERUNG</strong> I 5<br />

Chronisch Krankeund Behinderte fühlen sich oft allein, denn die meisten Verwandten und Freunde gehen tagsüber arbeiten.<br />

Man kann nicht davonlaufen!<br />

Multiple-Sklerose-Patienten fühlen sich oft missverstanden, weil man die Krankheit nicht sieht<br />

GETTY IMAGES/ISTOCKPHOTO<br />

Keine Krankheit gibt so viele<br />

Rätsel auf wie Multiple<br />

Sklerose (MS). Für Betroffene<br />

ist es wie ein unumkehrbarer<br />

Pfad. Das weiß auch Uschi Bökesch,<br />

47 Jahre alt, seit zehn Jahren<br />

MS-Patientin. „Es passieren<br />

Sachen, die mir komplett neu sind:<br />

dass man plötzlich nicht mehr sehen<br />

und nicht mehr laufen kann,<br />

dass man die Hand nicht mehr<br />

spürt, dass aus dem Kribbeln in<br />

der Hand eine ausgeprägte Spastik<br />

wird.“<br />

Sie beschreibt die Symptome<br />

ihrer Krankheit, als ob sie den Wetterbericht<br />

verliest. „Abenteuer MS<br />

sage ich nur. Jeder Schub hat wieder<br />

neue Überraschungen parat.“<br />

Es begann, als sie 37 Jahre alt war.<br />

Eines Tages sah sie alles doppelt.<br />

Es folgten mehrere Untersuchungen<br />

und schließlich die erschreckende<br />

Diagnose: Multiple Sklerose!<br />

Der weitere Weg war<br />

vorgezeichnet: Basistherapie –<br />

Chemotherapie –Reha –Rente.<br />

„Man sieht nicht, dass meine<br />

Hand jahrelang spastisch war, und<br />

ich sie nicht benutzen konnte. Ich<br />

kann heute nicht mehr kochen und<br />

nicht mehr schreiben. Ich glaube,<br />

das ist der Grund dafür, warum<br />

man diese Krankheit so schlecht<br />

kommunizieren kann“, resümiert<br />

sie.<br />

Uschi Bökesch war früher ein<br />

sehr kreativer Mensch. Mit 16 Jahren<br />

begann sie, Schlagzeug zu<br />

spielen und warspäter in verschiedenen<br />

Bands. Sie unterrichtete<br />

Studenten und schrieb Testberichte<br />

für eine Fachzeitschrift.<br />

„2004 war ich noch in Peking auf<br />

der Bühne und Popstar, 2007 war<br />

ich in Rente.“ Die Krankheit hat ihr<br />

Leben komplett verändert.<br />

Zunächst benutzte sie einen<br />

Stock, dann einen Rollstuhl, jetzt<br />

steht ein Scooter in ihrer Wohnung.<br />

„Der fährt offiziell 16 Stundenkilometer,ich<br />

schaffe aber 18 damit“,<br />

erklärtsie mit einem Zwinkern. Sie<br />

braucht ihn, wenn sie in den Südblock,<br />

einem Lokal am Kottbusser<br />

Tor, zum Abhängen fährt. Dort hat<br />

sie sich mit sechs anderen Betroffenen<br />

zum Verein Quergehandicaped<br />

zusammengeschlossen.<br />

Die Truppe im Südblock ist ein<br />

wichtiger sozialer Kontakt, denn<br />

Uschi Bökesch ist ein kommunikativer<br />

Typ. „Leider sind alle meine<br />

Bekannten berufstätig, und man<br />

ist ziemlich allein“, erzählt sie. Gegen<br />

ihre Nervenschmerzen raucht<br />

sie Gras, gegen die Einsamkeit hilft<br />

das nicht. „Da kriegst du nur einen<br />

Kiffkater.“ Das Cannabis bekommt<br />

sie ganz offiziell in der Apotheke.<br />

Dafür hat sie eine ordentliche Genehmigung<br />

von der Bundesopiumstelle<br />

in Bonn.<br />

Es gab Zeiten, da hatte sie das<br />

Gefühl, die MS wird in den Medien<br />

total verharmlost. Sie las zum Beispiel<br />

die Schlagzeile: Ein Mädchen<br />

tanzt ihrer MS davon. „Ja toll! Kann<br />

sie es heute noch?“ Oder der Marathonläufer,<br />

der seiner MS davonläuft.<br />

„Man will immer nur sehen,<br />

wasdie Leute können. Es ist genau<br />

umgekehrt: Was können wir nicht!<br />

Und darüber wird wenig gesprochen.“<br />

(sis)<br />

D I E<br />

Multiple Sklerose (MS) ist<br />

eine chronische Entzündungserkrankung<br />

des zentralen<br />

Nervensystems. Gehirnund<br />

Rückenmarksind mit Nervenfasernverbunden,<br />

die elektrische<br />

Impulse weiterleiten.<br />

Diese Leiter werden durch eine<br />

Isolierschicht, das Myelin, geschützt,<br />

ähnlich wie Draht durch<br />

eine Plastikummantelung.Durch<br />

die Entzündung erwärmen sich<br />

die Nervenfasern, die Isolierschicht<br />

beginnt zu schmelzen,<br />

bis im schlechtesten Fall nichts<br />

mehr davon übrig bleibt.<br />

Die Entzündungen kommen<br />

zustande, weil Abwehrzellen<br />

falsch programmiertwerden:<br />

Anstatt eindringende<br />

Krankheitserreger zu attackieren,<br />

greifen sie das Myelin<br />

und myelinbasische Eiweiße<br />

an.<br />

K R A N K H E I T<br />

In Deutschland leiden rund<br />

120 000 Menschen an dieser<br />

Entzündung des Zentralen Nervensystems,<br />

die häufig zwischen<br />

dem 20. und 40. Lebensjahr,<br />

aber auch nach dem 50. Lebensjahr<br />

auftritt. Jedes Jahr erkranken<br />

etwa5000 bis 6000 Menschen<br />

neu, überwiegend Frauen.<br />

Vererbbar ist Multiple Sklerose<br />

nicht, wohl aber besteht eine genetische<br />

Disposition.<br />

Die Krankheit Multiple<br />

Sklerose ist noch nicht heilbar.<br />

Eine Reihe von Wirkstoffen können<br />

die Symptome aber<br />

lindern. Rückgängig machen<br />

lässt sich die Zersetzung der<br />

Nervenfasernnicht. Einzelne<br />

Erscheinungsformen lassen sich<br />

vergleichsweise gut behandeln.<br />

Man spricht in diesen Fällen von<br />

symptomatischer Therapie.

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