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Interview mit Boris Charmatz [PDF] (1,8 MB - Berliner Festspiele

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54 — <strong>Boris</strong> <strong>Charmatz</strong><br />

55 — enfant<br />

1 — foreiGn<br />

2 — affairs<br />

3 — 2012<br />

6 — <strong>Berliner</strong> festspiele<br />

7 —


Ich will nicht einfach nur ein<br />

zeitgenössischer Tänzer sein<br />

Der französische Tänzer und Choreograf <strong>Boris</strong><br />

<strong>Charmatz</strong> über Bewegung und Passivität, Tanz und<br />

Text – und unseren Blick auf Kinder<br />

Das Gespräch führten Christina Tilmann und Nadine Vollmer.<br />

Übersetzung von Rohland Schuknecht<br />

<strong>Boris</strong> <strong>Charmatz</strong>, in enfant fällt zunächst diese große<br />

Maschine auf, die die Tänzer nach oben und unten zieht.<br />

Was sagt das über das Verhältnis zwischen Mensch und<br />

Maschine aus?<br />

Ich bin wirklich kein Experte für Maschinen. Ich kann <strong>mit</strong><br />

Technik oder Autos nicht umgehen, bin nicht der Typ, der<br />

an einem Auto herumbastelt und einen Reifen wechseln<br />

kann. Aber die Idee der Maschine ist nicht so neu: Bei Régi,<br />

einer Produktion, die ich zusammen <strong>mit</strong> Raimund Hoghe<br />

gemacht habe, sollten die Maschinen die Choreografen<br />

sein. Natürlich muss jemand auf die Knöpfe drücken, aber<br />

da man den Maschinenlenker nicht sieht, ist es eher<br />

eine gedankliche Bewegung. Die Maschinen existieren als<br />

Werkzeug, aber für mich existieren sie eher in unseren<br />

Köpfen. Man weiß nie, ob das nicht Bewegungen sind, die<br />

wir träumen. Zum Beispiel, wenn wir dort hängen: Ist<br />

das ein Albtraum?<br />

Man hat das Gefühl, dass die Maschine selbst lebendig<br />

ist und <strong>mit</strong> den menschlichen Körpern wie eine Katze<br />

<strong>mit</strong> der Maus spielt …<br />

Der Kran wird von einem einhundert Meter langen Kabel<br />

bewegt, das an verschiedenen Stellen im Theater befestigt<br />

ist, und dieses Kabel wird <strong>mit</strong> einem Rad in den Kran<br />

hineingezogen. Es ist also nicht der Kran, der die Bewegungen<br />

machen will – es sind die Knoten am Theater, die<br />

die Bewegung hervorrufen. Es ist eine Bewegung, die<br />

verschiedene Effekte erzeugt, wie etwa den Eindruck,<br />

dass man die Maschine als ein Tier sieht, das sich<br />

hierhin oder dorthin bewegt. Die erste Idee war raumbezogen,<br />

denn dieses Kabel wird dazu verwendet, einen<br />

Teil des Theaters zu zeigen und daran zu rütteln – ohne es<br />

einzureißen, aber um den Eindruck zu erzeugen, dass<br />

es sich bewegt.<br />

Fühlen Sie sich als Choreograf manchmal wie eine<br />

Maschine, die alle anderen bewegt?<br />

Als ich siebzehn war, arbeitete ich <strong>mit</strong> Régine Chopinot,<br />

einer französischen Choreografin, an einem Solo. Und es<br />

gelang mir kaum, eine Bewegung zu Stande zu bringen,<br />

die mir gefiel. Es war, als ob ich vor einem großen weißen<br />

Blatt Papier sitze und kein Wort schreiben kann. Als ich<br />

zwei Jahre später <strong>mit</strong> Odile Duboc gearbeitet habe, haben<br />

wir viel <strong>mit</strong> Passivität und Verzicht experimentiert. Sie<br />

war von Maurice Blanchots Roman Thomas l’obscur inspi -<br />

riert. Darin gibt es eine Szene, in der Thomas schwimmt,<br />

und während er schwimmt, weiß man nicht, ob er gerade<br />

ertrinkt oder ob das Meer die Bewegung erzeugt. Es gibt<br />

keine Grenze zwischen seinem Körper und dem Körper des<br />

Meeres. Hinter dieser Passivität steht der Gedanke, dass<br />

man nicht einfach agiert, um Dinge zu tun, sondern dass<br />

man Dinge <strong>mit</strong> sich machen lässt. Das war sehr wichtig,<br />

dass ich aufhörte, etwas selbst choreografieren zu wollen.<br />

Vielleicht ist das nur ein naives »So-tun-als-ob« wie<br />

bei den Kindern, die sich schlafend stellen, aber es ist<br />

auch harte Arbeit.<br />

Können Sie uns den Ausgangspunkt für enfant beschreiben?<br />

Es begann zufällig. Als ich ins Musée de la danse in Rennes<br />

kam, gab es eine Tänzerin von Odile Duboc, Anne-Karine<br />

Lescop, die deren Stück Projet de la matière <strong>mit</strong> Kindern<br />

neu interpretieren wollte: Petit Projet de la matière. Als ich<br />

das sah, hat es mich einfach umgehauen. Ich sah diese<br />

Kinder, deren Augen geschlossen waren, die nichts machten<br />

und dabei sehr zerbrechlich wirkten. Das waren nicht<br />

diese MTV-Kinder, die ein Vorbild wie Michael Jackson oder<br />

Lady Gaga im Kopf haben und sich selbst darstellen –<br />

ganz im Gegenteil. Projet de la matière hatte etwas von<br />

einem Schlaf. Was Odile dazu inspirierte, jenseits von<br />

Maurice Blanchot, dieses Stück zu machen, waren die zerfließenden<br />

Uhren von Dalí. Nicht wegen Dalí als Maler,<br />

sondern wegen der Bewegung des Zerfließens. Ich hatte<br />

den Impuls, etwas Ähnliches zu machen. Für die Cour<br />

d’honneur in Avignon habe ich dann wieder darüber nach -<br />

gedacht. Die Cour d’honneur ist sehr groß, und ich bin<br />

kein Experte für große Räume und ein großes Publikum.<br />

Mein bestes Projekt ist heâtre - élévision, für einen<br />

Fernseher und einen Zuschauer! Es war also nicht unbedingt<br />

zu erwarten, dass man mich einlädt, ein Stück<br />

für die Cour d’honneur zu machen, und dann dachte ich:<br />

»Mach es für die Cour d’honneur nicht zu grandios.«<br />

Ich habe darüber nachgedacht, wie man die Dinge kleiner<br />

und zerbrechlicher machen kann, denn die Bedingungen<br />

in Avignon sind furchteinflößend, Vorstellungen im Freien,<br />

starke Winde usw. Und anstatt dagegen anzukämpfen,<br />

hatte ich die Idee, Kinder auf die Bühne zu bringen.<br />

Wie war es, <strong>mit</strong> den Kindern zu arbeiten?<br />

Als wir anfingen, waren einige der Kinder fünf Jahre alt.<br />

Lehrer und alle, die schon mal Kinder unterrichtet haben,<br />

wissen, dass man Kinder nicht einfach dazu bringen<br />

kann, stillzusitzen und zuzuhören. Und diese Kinder sollten<br />

sich dreißig Minuten lang nicht bewegen und ihre Augen<br />

geschlossen halten. Ich war mir nicht sicher, ob das funk -<br />

tionieren würde. Wir wollten ein Projekt, in dem Maschinen<br />

Erwachsene und Erwachsene Kinder bewegen. Das entstand<br />

aus einer sehr konkreten Idee, bei der es um Trägheit,<br />

Schlaf, Tod und Drogen ging. Es ist nicht das, was<br />

Kinder zuerst machen wollen. Wenn sie »Tanzprojekt« hören,<br />

rennen sie wild durcheinander, und das ist nicht<br />

das, was uns vorschwebte. Aber in enfant lernen sie eine<br />

Menge von den Erwachsenen. Es war ein großes Abenteuer<br />

für sie, nach Avignon zu fahren. Es war das erste Mal,<br />

dass sie ihre Eltern verließen, und sie konnten entdecken,<br />

wie es auf einem Festival, beim Theater, beim professionellen<br />

Arbeiten zugeht.<br />

Es geht um körperliche Kraft, Berührung und den Umgang<br />

<strong>mit</strong> Körpern. Die Einbeziehung von Kindern macht<br />

es noch komplizierter.<br />

Es ist riskant zu sagen, dass das ein Stück ist, in dem wir<br />

Kinder berühren. Aber wir alle lernen von Berührungen,<br />

aus ihnen ergeben sich sehr wichtige Austauschprozesse,<br />

die man sich nicht beim Lesen oder beim Anschauen von<br />

Videos aneignen kann. Das sind gute Arbeitshilfen, um das<br />

Tanzen zu lernen, aber das eigentliche Lernen kommt von<br />

der Berührung. Bei den Proben waren viele Kinder begeistert<br />

davon, berührt zu werden, während andere es nicht<br />

mochten. Und dann gab es auch persönliche Beziehungen<br />

zwischen den Tänzern und den Kindern. Einige der Tänzer<br />

waren Kinder nicht gewöhnt und hatten dann plötzlich<br />

Kinder auf dem Schoß, und es kamen all diese Fragen<br />

auf: Mag ich Kinder? Wie gehe ich <strong>mit</strong> Kindern um? Wie<br />

war ich als Kind? Dieses Projekt hat uns alle bewegt, im<br />

positiven Sinne.<br />

Für das Publikum ist es sicherlich schwierig, Kinder<br />

auf der Bühne zu sehen. Da kommen viele Ängste und<br />

Komplexe hoch.<br />

Der Kunstgriff bei dem Stück ist, dass ich eben nicht<br />

Kinder auf der Bühne zeigen wollte. Wir stellen Kinder in<br />

der Gesellschaft oft zur Schau, lassen sie zum Beispiel<br />

Madonna-Songs interpretieren, und deshalb glaube ich,<br />

dass es sehr riskant ist, Kinder in der Kunst und bei Perfor -<br />

mances einzusetzen, sich ihrer überhaupt zu einem be -<br />

stimmten Zweck zu bedienen. Und das Besondere ist, dass<br />

in dieser Produktion der Tanz und die Kunst für die Kinder<br />

gemacht sind. Sie sind nicht einfach die Darsteller und<br />

das Publikum die Zuschauer. Irgendwie sind die Kinder die<br />

ersten Adressaten des Tanzes. Sie haben die Augen ge -<br />

schlossen, stellen sich die meiste Zeit schlafend, und das<br />

heißt, dass man die Bewegung im Verhältnis zur Wahrnehmung<br />

des Kindes sieht. Die Zuschauer denken darüber<br />

nach, was diese kleinen Körper auf der Bühne erfahren.<br />

Haben Sie je das Gefühl, dass Sie diese Kinder für Ihre<br />

Zwecke missbrauchen?<br />

Das war ein ziemliches Problem während der Produktion.<br />

Weil Kinder zunächst einmal gern alles spielen, was man<br />

ihnen sagt, auch Cowboy und Indianer und an den Marterpfahl<br />

gefesselt zu werden. Sie mögen jede Art von Spiel.<br />

Selbst wenn sie sich schlafend stellen und so tun sollen,<br />

als würden sie fliegen, ist das ein tolles Spiel für sie. Aber<br />

für die Erwachsenen war es schwer: Sie stellen sich selbst<br />

in diesen Situationen vor, und einige erinnern sich dabei<br />

an schreckliche Dinge, Albträume, Spannungen. Pädophilie<br />

und Kindesmissbrauch ist eine der größten Ängste in<br />

unserer Gesellschaft. In Avignon gab es eine ziemlich hef -<br />

tige Debatte darüber, und diese enorme Resonanz hat<br />

mir ganz schön Angst gemacht.<br />

Das voyeuristische Gefühl ist tatsächlich ziemlich stark,<br />

wenn man sich die Performance anschaut. Wir sind in<br />

unserer Sicht auf Kinder keineswegs frei.<br />

Man kann diese Frage nicht loswerden: Wie nehme ich die<br />

Kinder wahr? Wenn man eigene Kinder hat und an den<br />

Strand geht und sie sich nackt ausziehen wollen, denkt<br />

man heutzutage zuerst darüber nach, wer hinsieht. Ich<br />

glaube, wir müssen uns davon befreien, denn wenn<br />

wir das nicht tun, wird die Angst unser Leben bestimmen.<br />

Ich sage nicht, dass Kinder am Strand nicht mehr nackt<br />

sein können, aber es ist, als müssten alle Eltern davor darüber<br />

nachdenken, was die Leute sagen werden, wenn<br />

man seinem Kind das Nacktsein erlaubt. Selbst wenn man<br />

nur in der U-Bahn <strong>mit</strong> einem Kind herumalbert, muss<br />

man zuvor den Eltern zu verstehen geben: Ich bin OK. Wenn<br />

nicht, ist der erste Gedanke: Oh, da ist dieser komische<br />

Typ, der etwas <strong>mit</strong> meinem Kind macht … Ich hoffe, dass<br />

die Leute in enfant das Stück aus der Perspektive der<br />

Kinderkörper sehen werden. Aber hier geht es um kontroverse<br />

Fragen.<br />

Was sagt unser Umgang <strong>mit</strong> Kindern über unsere<br />

Gesellschaft aus?<br />

Für das Theater sind Kinder dasselbe wie Tanz für das<br />

Museum. Es ist schön, spielerisch, lebendiger, lustiger.<br />

Das kann ein Bild der Behaglichkeit erzeugen. Aber das ist<br />

ein falscher Eindruck. Da ist zum Beispiel Claire Simons<br />

Dokumentarfilm Récréations, der mich sehr erschüttert hat.<br />

Sie hat ein Jahr lang auf dem Schulhof einer Grundschule<br />

gedreht. Die Kinder waren zwischen drei und sechs Jahre<br />

alt, französische Kinder, keine sehr schwierige Schule,<br />

eine ganz normale, und sie filmte die Spiele der Kinder<br />

während der Schulpausen. Und natürlich denkt man, dass<br />

die Schule ein geschützter Raum ist und dass die Schulpausen<br />

Momente des Spiels und der Entspannung sind,<br />

aber was man in dem Film sieht, ist ziemlich erschreckend.<br />

Man sieht Arbeitslosigkeit, Gefängnisse, Gewalt, Rassismus,<br />

wirtschaftliche Probleme … Eine Aussage des Films<br />

ist: Glaubt nicht, dass das Armutsproblem sich nicht auf<br />

Kinder auswirkt. Wenn man in den Zeitungen über Probleme<br />

<strong>mit</strong> Kindern liest, geht es immer um Kindesmissbrauch<br />

und Gewalt gegen Kinder, und ich will diese schrecklichen<br />

Dinge nicht bagatellisieren, aber die größten Probleme<br />

für Kinder sind die Armut und Arbeitslosigkeit der Eltern<br />

und die Auflösung des Sozialsystems, das Schulsystem<br />

– das sind un<strong>mit</strong>telbarere und weitverbreitetere Probleme<br />

für Kinder als Kindesmissbrauch. Die sozialen Probleme<br />

sind viel größer. In enfant wollen wir das thematisieren.<br />

Was kommt nach enfant?<br />

Nach enfant und Levée des conflits, zwei Produktionen,die<br />

ich sehr schnell, innerhalb eines Jahres, gemacht habe,<br />

stelle ich fest, dass ich nicht zu einem kleineren, vernünftigeren,<br />

wirtschaft licheren Format zurückkehren will. Also<br />

nehme ich mir Zeit, darüber nachzudenken, was ich in<br />

einem anderen Projekt <strong>mit</strong> vielen Leuten machen würde.<br />

Aber das braucht Zeit, und die Recherchen sind bei mir<br />

immer recht langwierig. Und ich arbeite als Tänzer derzeit<br />

<strong>mit</strong> Anne Teresa De Keersmaeker zusammen, weil ich<br />

auch gern als Tänzer für andere arbeite. Das Stück hat<br />

im nächsten Jahr Premiere und wird unter anderem zu<br />

Foreign Affairs nach Berlin kommen.<br />

Sie arbeiten nicht nur als Tänzer und Choreograf. Seit 2009<br />

leiten Sie auch das Musée de la danse in Rennes. Das<br />

hieß früher Centre chorégraphique national de Rennes et<br />

de Bretagne. Warum nennen Sie es Tanzmuseum?<br />

Wir haben im staatlichen System zwei unterschiedliche<br />

Formen von Tanzinstitutionen: Es gibt die Tanzschulen und<br />

die Theater, die Tanzstücke produzieren und aufführen.<br />

Ich mag beide Orte, habe eine Tanzschule besucht und an<br />

Theatern gearbeitet. Aber ich glaube irgendwie, dass<br />

diese beiden Räume nicht gut <strong>mit</strong>einander kommunizieren,<br />

und obwohl ich das Theater mag, habe ich mir gedacht,<br />

dass wir andere Räume brauchen, andere Türen<br />

aufstoßen müssen. Das Museum war für mich eine spannende<br />

Frage, weil es in Verbindung <strong>mit</strong> dem Tanz viele<br />

Befürchtungen weckt. Ich habe schnell festgestellt,<br />

dass viele Menschen Museen <strong>mit</strong> dem Tod verbinden.<br />

Wir sind die lebendigen Künste (Tanz, Theater), und<br />

Museen sind tot, sie sammeln tote Dinge aus der toten<br />

Vergangenheit. Und ich hatte diesen Albtraum, dass<br />

die Leute bei dem Begriff Musée de la danse an ein<br />

Krankenhaus für Tänzer, einen Friedhof für Performances<br />

denken würden, einen Ort, an dem Tänzer musealisiert,<br />

ausgestopft werden. Und ich sage immer, nein,<br />

nein, es wird ein Ort des Lebens sein, ein Ort, an dem<br />

wir eine neue Art Institution und öffentlichen Raum<br />

schaffen können.<br />

Was machen Sie dort also tatsächlich?<br />

Ich stelle mir ein Musée de la danse zunächst einmal als<br />

einen Raum für Tänzer vor. Man kann dort Praxis, Theorie,<br />

Text, Bildende Kunst und Experiment zusammenführen.<br />

Text ist normalerweise nicht Tanz, aber für mich ist Text<br />

manchmal wichtiger als das eigentliche Tanzen. Also<br />

fragte ich mich, warum wir beim Tanzen Text nicht berücksichtigen.<br />

Weil es Text, demzufolge also tot ist? Zum<br />

Beispiel Lyrik: Sie ist voller Gehalt, Bewegung, Leben.<br />

Und man kann einen besseren Zugang zum Tanzen<br />

bekommen, wenn man diesen oder jenen Text liest, als<br />

wenn man sich diese oder jene Produktion ansieht. Selbst<br />

bei so großen Namen wie William Forsythe gibt es diese<br />

Skepsis. Als er vor einigen Jahren anfing, Installationen<br />

zu machen, gab es in Frankreich die Meinung, dass<br />

Installationen schon in Ordnung sind, und Forsythe kann<br />

das an seinem Wochenende ruhig machen, aber zuerst<br />

soll er mal das Chaillot-Theater füllen! Es geht also um<br />

Räume, um den Rahmen, aber auch um den Zeitrahmen,<br />

denn Museen bieten einerseits Raum, aber man kann<br />

in der zeitlichen Dimension denken und sich sagen, dass<br />

man am Musée de la danse ein Projekt für die nächsten<br />

zweihundert Jahre macht.<br />

Soll da<strong>mit</strong> auch eine Verbindung zur Vergangenheit<br />

hergestellt werden? Tanz wird immer als zeitgenössisch<br />

angesehen …<br />

Es hat so angefangen, weil ich nicht einfach nur ein zeitgenössischer<br />

Tänzer sein wollte. Ich habe improvisiert,<br />

aber sobald du improvisierst, erkennst du, dass du immer<br />

Bewegungen machst, die sich aus deinem geschichtlichen<br />

Hintergrund ergeben, auch wenn du das gar nicht<br />

willst. Ich interessiere mich für Steve Paxton, er war<br />

vor mir da, aber ich kann noch in sein T-Shirt schlüpfen.<br />

Die Frage ist also, wo ist die Vergangenheit, wo ist die<br />

Zukunft, wo sind wir jetzt? Aber da es bereits eine Welle<br />

von Rekonstruktionsprojekten, Reenactments und<br />

Diskussionen über den Umgang <strong>mit</strong> den Archiven gab,<br />

konzentriert sich Musée de la danse nicht speziell<br />

darauf. Das Hauptmotiv war, ein Musée de la danse zu<br />

erfinden. Es geht uns nicht darum, was wir von der<br />

die kinder sind die ersten<br />

adressaten des tanzes.<br />

Vergangenheit bewahren und ausstellen können, sondern<br />

wie wir neue Sammlungs- und Ausstellungsformen<br />

entwickeln können, zusammen <strong>mit</strong> Architekten, Bildenden<br />

Künstlern, Tänzern, Kura toren, Besuchern …<br />

Können Sie uns ein Beispiel für eine solche<br />

Ausstellung geben?<br />

In den letzten drei Jahren haben wir mehrere Ausstellungen<br />

gemacht, die veranschaulichen, was ein Musée de<br />

la danse sein kann. Ganz allmählich wird es zur Realität,<br />

ist nicht mehr nur ein Hirngespinst. Wir haben verschiedene<br />

kollektive Formate entwickelt: expo zéro, brouillon<br />

und poster session. Poster session, ein Projekt, das wir<br />

in Avignon gemacht haben, ist ein sehr übliches Format<br />

für wissenschaftliche Tagungen. Du zeigst ein Poster<br />

<strong>mit</strong> einer Zusammenfassung deiner Forschungen und die<br />

Leute schauen es sich an und entscheiden, ob es sie<br />

interessiert, und dann nehmen sie Kontakt zu dir auf und<br />

reden <strong>mit</strong> dir. In der Wissenschaftswelt gibt es poster<br />

sessions <strong>mit</strong> 2000 Leuten. Aber in der Kunstwelt hat man<br />

nie davon Gebrauch gemacht. Für mich ist es eine Poster-<br />

Ausstellung, eine Reihe von Vorlesungen oder Dialogen,<br />

eine Performance <strong>mit</strong> visuellen Werkzeugen wie einem<br />

Poster. Es ist eines der Formate, die für das Musée de<br />

la danse wirklich gut funktioniert haben, als Mittelding<br />

zwischen Symposium, Ausstellung und Performance.<br />

Wie hat die Leitung des Musée de la danse Ihre<br />

Arbeitsweise beeinflusst?<br />

Seit ich nach Rennes gezogen bin, haben sich für mich<br />

viele Dinge verändert. Ich habe nie zuvor ein so großes<br />

Projekt gemacht, und ich genieße es, <strong>mit</strong> so vielen Leuten<br />

zusammenzuarbeiten. Auch wenn manche Dinge nicht<br />

mehr möglich sind. Aber ich habe festgestellt, dass bei der<br />

Arbeit in der Gruppe ein Mikrokosmos entsteht, der<br />

ziemlich interessant ist. Ich kann nicht der einzige sein,<br />

der Probleme löst. Ich habe also einerseits mehr Macht,<br />

weil ich <strong>mit</strong> so vielen Leuten arbeite, aber dann auch<br />

wieder weniger, denn ich habe weniger Zeit den Standpunkt<br />

des anderen zu verstehen.<br />

Haben Sie je darüber nachgedacht, das Tanzen aufzugeben?<br />

Ich habe <strong>mit</strong> sieben <strong>mit</strong> dem Tanzen angefangen, war <strong>mit</strong><br />

siebzehn professioneller Tänzer und werde nach meinem<br />

Aufenthalt in Berlin vierzig. Ich habe also zweiundzwanzig<br />

Jahre Erfahrung als professioneller Tänzer. Natürlich<br />

verändere ich mich, und wenn man eine Institution leitet,<br />

muss man wirklich aufpassen, dass man den Schwerpunkt<br />

nicht aus den Augen verliert. Nein, ich möchte auf jeden<br />

Fall Tänzer bleiben. Bevor ich enfant machte, war ich fast<br />

immer Teil der Performance. Ich wollte nicht der Dramaturg<br />

sein, der die Dinge von außen organisiert, denn für<br />

mich war es interessanter, die Stücke von innen zu sehen<br />

und zu erleben. Normalerweise sagt man, dass ein<br />

Choreograf der ›<strong>mit</strong>macht‹, ein schlechter Choreograf<br />

ist, weil er zu konzentriert auf andere Dinge ist, und<br />

die Choreografie nicht klar wird. In enfant trete ich nicht<br />

selbst auf, weil das Stück zu groß ist, um gleichzeitig<br />

aufzutre ten und zu inszenieren. Natürlich kannst du ein<br />

Stück in der Cour d’honneur machen und <strong>mit</strong> auf der<br />

Bühne stehen, <strong>mit</strong> sechzig Leuten, die um dich herum<br />

arbeiten. Alles ist möglich, aber manchmal ist es besser,<br />

sich nicht über mäßig zu belasten. Aber ja, ich möchte<br />

Tänzer bleiben.<br />

<strong>Boris</strong> <strong>Charmatz</strong><br />

<strong>Boris</strong> <strong>Charmatz</strong> ist Tänzer und Choreograf, zu seinen bekanntesten<br />

Arbeiten zählen Aatt enen tionon (1996) und seine neue Produktion<br />

enfant (Kind; 2011). Neben seinen ausgedehnten Tourneen nimmt<br />

er regelmäßig an Improvisationsprojekten teil (<strong>mit</strong> Saul Williams,<br />

Archie Shepp, Médéric Collignon) und arbeitet auch als Performer.<br />

Unter seiner Leitung ist das Centre chorégraphique national de<br />

Rennes et de Bretagne seit 2009 in das Musée de la danse, ein<br />

Tanzmuseum, umgewandelt worden. Zu den bisherigen Projekten<br />

zählen préfiguration, expo zéro, héliogravures, rebutoh, service<br />

commandé, brouillon, Jérôme Bel en 3 sec. 30 sec. 3 min. 30 min et 3<br />

h und Petit Musée de la danse. 2011 war <strong>Charmatz</strong> Associate Artist<br />

des Festival d’Avignon.<br />

54 — <strong>Boris</strong> <strong>Charmatz</strong><br />

Rennes<br />

55 — enfant<br />

56 — 05. oktoBer 2012, 20:00 Uhr<br />

06. oktoBer 2012, 18:00 Uhr<br />

haUs der <strong>Berliner</strong> festspiele,<br />

Grosse Bühne<br />

59 — Choreografie <strong>Boris</strong> <strong>Charmatz</strong><br />

Mit<br />

Eleanor Bauer, Nuno Bizarro, Matthieu Burner, Olga<br />

Dukhovnaya, Julien Gallée-Ferré, Lénio Kaklea, Maud<br />

Le Pladec, Thierry Micouin, Mani A. Mungai und einer<br />

Gruppe Kinder aus Rennes: Imane Alguimaret, Rémi<br />

Cazoulat, Abel <strong>Charmatz</strong>, Marguerite Chassé, Tikal<br />

Contant-Ricard, Noé Couderc, Louison Dumont,<br />

Gaspard Gitton, Lune Guidoni, Salomé Lebreton, Louane<br />

Mogis, Rosa Morel-Flouzat<br />

Dudelsack − Erwan Keravec<br />

Licht − Yves Godin<br />

Ton − Olivier Renouf<br />

Maschinen – Artefact, Frédéric Vannieuwenhuyse,<br />

Alexandre Diaz<br />

Assistent − Julien Jeanne<br />

Technische Leitung − Alexandre Diaz<br />

Regie Bühne − Max Potiron, François Aubry<br />

Kostüme − Laure Fonvieille<br />

Garderobière − Stefanie Gicquiaud<br />

Stimmarbeit − Dalila Khatir<br />

Software − Luccio Stiz<br />

Eine Produktion von Musée de la danse / Centre<br />

chorégraphique national de Rennes et de Bretagne –<br />

Leitung <strong>Boris</strong> <strong>Charmatz</strong>, Association gefördert von:<br />

Ministerium für Kultur und Kommunikation – Direction<br />

Régionale des Affaires Culturelles / Bretagne, Conseil<br />

régional de Bretagne, Stadt Rennes und Rennes<br />

Métropole, General Council llle-et-Vilaine.<br />

www.museedeladanse.org<br />

Koproduziert von Festival d’Avignon, Théâtre de la Ville<br />

/ Paris, Festival d’Automne / Paris, Internationales<br />

Sommerfestival Hamburg und Siemens Stiftung im<br />

Rahmen des Projekts Schauplätze, Théâtre National de<br />

Bretagne / Rennes, La Bâtie-Festival de Genève und<br />

Kunstenfestivaldesarts / Brüssel<br />

Mit besonderer Unterstützung des französischen<br />

Ministeriums für Kultur und Kommunikation – Direction<br />

Régionale des Affaires Culturelles / Bretagne, des<br />

Conseil régional de Bretagne, der Stadt Rennes und<br />

Rennes Métropole, des General Council von llle-et-Vilaine.<br />

Mit freundlicher Unterstützung des Institut français /<br />

Stadt Rennes für die internationale Tournee<br />

Dank an Or Avishay, Pierre Mathiaut, Julia Cima,<br />

Raimund Hoghe<br />

Dauer 60 min<br />

60 — artist talk<br />

61 — film<br />

05. Oktober 2012, im Anschluss an die Vorstellung<br />

<strong>Boris</strong> <strong>Charmatz</strong>, 26 min<br />

06. Oktober 2012, 19:30 Uhr, Haus der <strong>Berliner</strong><br />

<strong>Festspiele</strong>, Cinema<br />

Künstlerische Leitung – Frie Leysen<br />

Künstlerische Mitarbeit – Nadine Vollmer<br />

Finanzmanagement – Hanka Rörig<br />

Produktionsmanagement – Albrecht Grüß<br />

Rahmenprogramm/Publikumsarbeit – Anne Schulz<br />

Musikprogramm – Fred Fröse / Haute Areal<br />

Ausstattung Festivalzentrum – Heike Schuppelius<br />

Assistenz Ausstattung – Victoria Philipp<br />

Praktikum Produktion – Paola Eleonora Bascon Zegarra, Luisa Grass,<br />

Lydia Holter, Marie-Irène Igelmann, Gohsuke Masuda, Sandra Wieser<br />

Praktikum Publikumsarbeit/Student Affairs – Friederike Wohlfahrt<br />

Technische Leitung – Harald Frings<br />

Technische Leitung <strong>Berliner</strong> <strong>Festspiele</strong> – Andreas Weidmann<br />

Assistenz Technische Leitung – Ann-Christin Görtz<br />

Bühneninspektor – Thomas Pix<br />

Bühnenmeister – Dutsch Adams, Benjamin Brandt, Lotte Grenz<br />

Maschinerie – Lotte Grenz, Frederick Langkau, Manuel Solms,<br />

Marceese Trabus, Jesus Avila Pérez, Martin Zimmermann<br />

Bühnentechnik – Pierre Joël Becker, Benjamin Brandt, Sybille<br />

Casper, Maria Deiana, Birte Dördelmann, Stefan Frenzel, Alexander<br />

Gau, Edwin Greif, Engelbert Greif, Ivan Jovanovic, Frederick Langkau,<br />

Ricardo Lashley, Sander von Lingelsheim, Mirko Neugart, Jörg<br />

Neuhold, Jesus Avila Pérez, Dennis Schönhardt, Manuel Solms,<br />

Marceese Trabus, Martin Zimmermann<br />

Leitung Beleuchtung – Carsten Meyer<br />

Beleuchtungsmeister – Roman Fliegel, Hans Fründt,<br />

Bodo Gottschalk, Kathrin Kausche, Jürgen Koß, Thomas Schmidt<br />

Beleuchtung – Petra Dorn, Bastian Heide, Hado Hein,<br />

Kathrin Kausche, Mathilda Kruschel, Imke Linde, <strong>Boris</strong> Meier,<br />

Arndt Rhiemeier, Lydia Schönfeld, Frank Szardenings, Robert Wolf,<br />

Sachiko Zimmermann-Tajima<br />

Leitung Ton und Video – Manfred Tiesler<br />

Ton und Video – Matthias Hartenberger, Simon Franzkowiak, Stefan<br />

Höhne, Axel Kriegel, Tilo Lips, Sebastian Pieper, Felix Podzwadowski,<br />

Martin Trümper<br />

Requisite – Karin Hornemann<br />

Auszubildende Veranstaltungstechnik – Malte Gottschalk,<br />

Juri Rendler, Otis Weihrauch<br />

Maske – Manuela Jacob<br />

Garderobe – Monique Van den Bulck, Odile Hautemulle<br />

Leitung Haustechnik – Ulrike Johnson<br />

Haustechnik – Frank Choschzick, Stephan Fischer, Olaf Jüngling,<br />

Sven Reinisch<br />

180 — www.<strong>Berliner</strong>festspiele.de

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