Liebe Gemeinde, in seinem letzten Lebensjahr verfasste Paul ...

Liebe Gemeinde, in seinem letzten Lebensjahr verfasste Paul ... Liebe Gemeinde, in seinem letzten Lebensjahr verfasste Paul ...

29.12.2013 Aufrufe

Auslegung I: Biografische Erinnerungsarbeit Bitte nehmen Sie Ihr Gesangbuch zu Hand und schlagen Sie Lied Nr. 529 auf, um den Liedtext während der Auslegung vor Augen zu haben: 1) Ich bin ein Gast auf Erden und hab hier keinen Stand; der Himmel soll mir werden, da ist mein Vaterland. Hier reis’ ich bis zum Grabe; dort in der ew’gen Ruh ist Gottes Gnadengabe, die schließt all Arbeit zu. 2) Was ist mein ganzes Wesen von meiner Jugend an als Müh und Not gewesen? Solang ich denken kann, hab ich so manchen Morgen, so manche liebe Nacht, mit Kummer und mit Sorgen des Herzens zugebracht. 3) Mich hat auf meinen Wegen manch harter Sturm erschreckt; Blitz, Donner, Wind und Regen hat mir manch Angst erweckt; Verfolgung, Haß und Neiden, ob ich’s gleich nicht verschuldt, hab ich doch müssen leiden und tragen mit Geduld. Mit Hilfe des Motivs aus Psalm 119 Vers 19 vollzieht Paul Gerhardt mit uns seine biografische Erinnerungsarbeit: »Ich bin ein Gast auf Erden …« Das Leben steht als Reise vor Augen. Es ist Pilgerschaft. Der Weg bis zum Grab ist vorgezeichnet. Doch auch das Grab ist nicht letzte Station. Es geht über in das himmlische Vaterland. Gottes Gnadengabe wartet dort in der ewigen Ruhe und schließt die Lebensarbeit. Bereits in der 1. Strophe zeigt sich ein Wesenszug, der prägend für Paul Gerhardts geistliche Dichtung ist: Diesseits und Jenseits gehören zu der einen Welt Gottes. Und damit bekommen selbst so hoch ideologisch belastete Begriffe wie »Vaterland« einen völlig anderen, warmen und sehnsuchtsvollen Ton – weil hinter ihnen das Bild des gütigen Vaters aus dem Gleichnis vom Verlorenen Sohn aufleuchtet. In der Rückschau kennzeichnen Müh und Not das menschliche Wesen. Paul Gerhardt formuliert so offen, dass Generationen mit den unterschiedlichsten Erfahrungen in seinen Worten – 2 –

sich bergen können – ohne Verbitterung. Der Rückblick spart nichts aus an Kummer und Sorgen. Aber es ist nicht zufällig so manche liebe Nacht, die das Herz geplagt hat, und die nun aus dem leidvollen Abstand heraus angeschaut wird. Wie so oft bei Paul Gerhardt bildet die Natur menschliche Erfahrung ab und wird zum Spiegel der Seele: Sturm, Blitz, Donner, Wind und Regen stehen für das zugemutete Leiden. Aber, so vergewissert sich die Seele: obwohl nicht selbst verschuldet, war es zu tragen. Singen wir die Strophen 1 bis 3 und nähern wir die Lebensarbeit des Dichters unserer persönlichen Lebensgestalt an – im Vertrauen auf den Herrn, der in allem führt: EG 529, 1–3. Auslegung II: Die Welt als fremdes Zelt 4) So ging’s den lieben Alten, an deren Fuß und Pfad wir uns noch täglich halten, wenn’s fehlt am guten Rat; sie zogen hin und wieder, ihr Kreuz war immer groß, bis daß der Tod sie wieder legt in des Grabes Schoß. 5) Ich habe mich ergeben in gleiches Glück und Leid; was will ich besser leben als solche großen Leut? Es muß ja durchgedrungen, es muß gelitten sein; wer nicht hat wohl gerungen, geht nicht zur Freud hinein. 6) So will ich zwar nun treiben mein Leben durch die Welt, doch denk ich nicht zu bleiben in diesem fremden Zelt. Ich wandre meine Straße, die zu der Heimat führt, da mich ohn alle Maße mein Vater trösten wird. So ging’s den lieben Alten: In zwei nicht mehr im Gesangbuch aufgenommenen Strophen blickt der Sänger auf Abraham, Isaak und Jakob. Die biblischen Erzväter sind ganz nahe. Ihre Lebens- und Glaubenserfahrung wird zum Trost und verbindet über Zeiten und Orte hinweg. Im Rückblick vergewissert sich das Ich: Ich habe mich ergeben – in gleiches Glück und Leid. Auf einmal leuchtet auch das Glück mit auf und steht in Balance zum Leid. Es ist Frucht des notwendigen heilsamen Durchdringens: Neben die dunklen Seiten treten in der Lebensrückschau auch die hellen und fröhlichen – dort, wo ausgehalten und nicht geflohen wird. Wer – 3 –

Auslegung I:<br />

Biografische Er<strong>in</strong>nerungsarbeit<br />

Bitte nehmen Sie Ihr Gesangbuch zu Hand und schlagen Sie Lied Nr. 529 auf, um den Liedtext<br />

während der Auslegung vor Augen zu haben:<br />

1) Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gast auf Erden<br />

und hab hier ke<strong>in</strong>en Stand;<br />

der Himmel soll mir werden,<br />

da ist me<strong>in</strong> Vaterland.<br />

Hier reis’ ich bis zum Grabe;<br />

dort <strong>in</strong> der ew’gen Ruh<br />

ist Gottes Gnadengabe,<br />

die schließt all Arbeit zu.<br />

2) Was ist me<strong>in</strong> ganzes Wesen<br />

von me<strong>in</strong>er Jugend an<br />

als Müh und Not gewesen?<br />

Solang ich denken kann,<br />

hab ich so manchen Morgen,<br />

so manche liebe Nacht,<br />

mit Kummer und mit Sorgen<br />

des Herzens zugebracht.<br />

3) Mich hat auf me<strong>in</strong>en Wegen<br />

manch harter Sturm erschreckt;<br />

Blitz, Donner, W<strong>in</strong>d und Regen<br />

hat mir manch Angst erweckt;<br />

Verfolgung, Haß und Neiden,<br />

ob ich’s gleich nicht verschuldt,<br />

hab ich doch müssen leiden<br />

und tragen mit Geduld.<br />

Mit Hilfe des Motivs aus Psalm 119 Vers 19 vollzieht <strong>Paul</strong> Gerhardt mit uns se<strong>in</strong>e biografische<br />

Er<strong>in</strong>nerungsarbeit: »Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gast auf Erden …«<br />

Das Leben steht als Reise vor Augen. Es ist Pilgerschaft. Der Weg bis zum Grab ist vorgezeichnet.<br />

Doch auch das Grab ist nicht letzte Station. Es geht über <strong>in</strong> das himmlische Vaterland.<br />

Gottes Gnadengabe wartet dort <strong>in</strong> der ewigen Ruhe und schließt die Lebensarbeit.<br />

Bereits <strong>in</strong> der 1. Strophe zeigt sich e<strong>in</strong> Wesenszug, der prägend für <strong>Paul</strong> Gerhardts geistliche<br />

Dichtung ist: Diesseits und Jenseits gehören zu der e<strong>in</strong>en Welt Gottes. Und damit bekommen<br />

selbst so hoch ideologisch belastete Begriffe wie »Vaterland« e<strong>in</strong>en völlig anderen, warmen<br />

und sehnsuchtsvollen Ton – weil h<strong>in</strong>ter ihnen das Bild des gütigen Vaters aus dem Gleichnis<br />

vom Verlorenen Sohn aufleuchtet.<br />

In der Rückschau kennzeichnen Müh und Not das menschliche Wesen. <strong>Paul</strong> Gerhardt formuliert<br />

so offen, dass Generationen mit den unterschiedlichsten Erfahrungen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Worten<br />

– 2 –

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!