29.12.2013 Aufrufe

Liebe Gemeinde, in seinem letzten Lebensjahr verfasste Paul ...

Liebe Gemeinde, in seinem letzten Lebensjahr verfasste Paul ...

Liebe Gemeinde, in seinem letzten Lebensjahr verfasste Paul ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Paul</strong> Gerhardt: Ich s<strong>in</strong>ge dir mit Herz und Mund (EG 324)<br />

<strong>Liebe</strong> <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>,<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em <strong>letzten</strong> <strong>Lebensjahr</strong> <strong>verfasste</strong> <strong>Paul</strong> Gerhardt für se<strong>in</strong>en Sohn e<strong>in</strong> Vermächtnis, <strong>in</strong><br />

dem er ausspricht, was ihn zeitlebens bestimmt und se<strong>in</strong>e Lieder geprägt hat:<br />

„Nachdem ich nunmehr das 70. Jahr me<strong>in</strong>es Lebens erreichte, auch dabei die fröhliche Hoffnung<br />

habe, daß me<strong>in</strong> lieber frommer Gott mich <strong>in</strong> Kurzem aus dieser Welt erlösen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />

besseres Leben führen werde, als ich bisher auf Erden gehabt habe, so danke ich ihm zuvörderst<br />

für alle se<strong>in</strong>e Güte und Treue, die er mir von me<strong>in</strong>er Mutter Leibe an bis auf jetzige<br />

Stunde an Leib und Seele und an allem was er mir gegeben, erwiesen hat. Daneben bitte ich<br />

vom Grunde me<strong>in</strong>es Herzens, er wolle mir, wenn me<strong>in</strong> Stündle<strong>in</strong> kommt, e<strong>in</strong>e fröhliche Abfahrt<br />

verleihen, me<strong>in</strong>e Seele <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e väterlichen Hände nehmen und dem Leibe e<strong>in</strong>e sanfte<br />

Ruhe <strong>in</strong> der Erde bis zu dem lieben jüngsten Tage bescheren, da ich mit allen Me<strong>in</strong>igen, die<br />

nur vor mir gewesen und auch künftig nach mir bleiben möchten, wieder erwachen und me<strong>in</strong>em<br />

lieben Jesum Christum, an welchen ich bisher geglaubet und ihn doch nie gesehen habe,<br />

von Angesicht zu Angesicht schauen werde. [...]<br />

Es weiß me<strong>in</strong> Sohn, daß ich ihn von se<strong>in</strong>er zarten K<strong>in</strong>dheit an dem Herrn, me<strong>in</strong>em Gott, zu<br />

eigen gegeben, daß er e<strong>in</strong> Diener und Prediger se<strong>in</strong>es heiligen Wortes werden soll. Dabei<br />

soll er nun bleiben und sich daran nicht kehren, daß er nur wenig gute Tage dabei haben<br />

möchte. Denn da weiß der liebe Gott schon Rat zu und kann das äußerliche Trübsal mit <strong>in</strong>nerlicher<br />

Herzenslust und Freudigkeit des Geistes genugsam erwecken“ [HEKG II/1, 188 f.].<br />

„Zuvörderst“, also an erster Stelle, wird Gott gedankt für „alle se<strong>in</strong>e Güte und Treue“ bis zur<br />

Stunde. Dieser Dank gilt une<strong>in</strong>geschränkt, selbst wenn das Leben „nur wenig gute Tage“<br />

haben wird, wie der Liederdichter aus eigener Erfahrung se<strong>in</strong>em Sohn mit auf den Weg gibt.<br />

Viel entscheidender ist doch, dass der „liebe Gott“ <strong>in</strong> aller äußeren Trübsal Rat weiß und<br />

diese <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e tiefe <strong>in</strong>nere Herzensfreude verwandeln kann. An zweiter Stelle, nach dem Dank<br />

für Gottes Mitgehen selbst gegen den Augensche<strong>in</strong>, steht die Bitte um e<strong>in</strong>en gnädigen Tod,<br />

genauer um e<strong>in</strong>e „fröhliche Abfahrt“. Das bevorstehende Sterben ist für <strong>Paul</strong> Gerhardt nicht<br />

angstbesetzt, sondern e<strong>in</strong>e „fröhliche“ Hoffnung, die von der Sehnsucht nach dem Himmel<br />

getragen wird. Denn erst an diesem Ort wird er se<strong>in</strong>en „lieben“ Jesus Christus von Angesicht<br />

zu Angesicht schauen.<br />

Diese Lebensphilosophie spiegelt sich auch im Lied „Ich s<strong>in</strong>ge dir mit Herz und Mund“ deutlich<br />

wider. Die ersten Strophen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> staunendes Bekenntnis zu Gottes Güte und Treue,<br />

die sich <strong>in</strong> der ganzen Schöpfung zeigen. Tiefe und <strong>in</strong>nige Dankbarkeit spricht aus diesen<br />

Zeilen. Dies gilt für <strong>Paul</strong> Gerhardt gerade <strong>in</strong> den schweren Stunden, auf die er dann im weiteren<br />

Verlauf deutlich zu sprechen kommt: „wenn unser Herze seufzt und schreit“, wenn der<br />

Kummer drückt und die Tränen fließen. Der liebevolle Schöpfer weiß es und wird es für se<strong>in</strong>e<br />

geplagten Geschöpfe zu e<strong>in</strong>em guten Ende führen, bis der Himmel sich öffnet: „Du füllst des<br />

© Dr. Albrecht Schödl, 21. 01. 2007, St. Laurentius Neuendettelsau 1


<strong>Paul</strong> Gerhardt: Ich s<strong>in</strong>ge dir mit Herz und Mund (EG 324)<br />

Lebens Mangel aus / mit dem, was ewig steht, / und führst uns <strong>in</strong> des Himmels Haus, / wenn<br />

uns die Erd entgeht.“ Hier und <strong>in</strong> den beiden <strong>letzten</strong> Strophen wird die „fröhliche Abfahrt“<br />

thematisiert, um getröstet schwere Tage tragen zu können und sich jetzt schon auf den<br />

Himmel zu freuen.<br />

Wir sehen – der Dank für die erfahrene Nähe des Schöpfers und für se<strong>in</strong>e „Vorsehung“ /<br />

providentia (um es mit e<strong>in</strong>em alten theologischen Begriff zu sagen) prägen das Lied ebenso<br />

wie der Trost im persönlichen Leiden und der Ausblick auf e<strong>in</strong> gutes Ende. Was aber ist das<br />

Besondere des Liedes „Ich s<strong>in</strong>ge dir mit Herz und Mund“? Dankbarkeit für Gottes Regiment<br />

selbst <strong>in</strong> großer Anfechtung, Herzenstrost und Himmelssehnsucht f<strong>in</strong>den sich schließlich <strong>in</strong><br />

fast allen Liedern des Dichters.<br />

Ich will nur e<strong>in</strong>ige Themen anreißen, die gerade dieses Lied besonders wichtig machen.<br />

1) Da ist erstens die geistliche Bedeutung des S<strong>in</strong>gens zu nennen, die <strong>in</strong> diesem Lied so<br />

plastisch zur Sprache kommt: „Ich s<strong>in</strong>ge dir mit Herz und Mund, / Herr me<strong>in</strong>es Herzens Lust;<br />

/ ich s<strong>in</strong>g und mach auf Erden kund, was mir von dir bewußt.“ In der 13. Strophe steht die<br />

Selbstaufforderung: „Wohlauf me<strong>in</strong> Herze s<strong>in</strong>g und spr<strong>in</strong>g und habe guten Mut“.<br />

In bildhaften Wendungen wird beschrieben, was das S<strong>in</strong>gen bewirkt: Es schenkt Lebenslust<br />

und neuen Mut. Gesang umfasst den ganzen Menschen, mit „Herz“ und „Mund“. Das Innerste<br />

kommt nach außen, unsere Körper ist <strong>in</strong> allen Fasern davon umgriffen, wenn wir uns h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>nehmen<br />

lassen <strong>in</strong> den Gesang: Der Kopf, das Herz, die Stimme, die Körperhaltung, die<br />

Emotionen. Gerade im Theologiestudium, wo wir viel mit Texten und Theorien zu tun haben,<br />

ist es nicht selbstverständlich, dass das viele Wissen vom Kopf auch <strong>in</strong>s Herz rutscht. Es ist<br />

wichtig, dass neben dem Reden über Gott auch das Gespräch mit Gott gepflegt wird. Jemand<br />

hat mal gesagt: Es s<strong>in</strong>d die längsten 40 Zentimeter der Welt, vom Kopf zum Herz, bis<br />

uns e<strong>in</strong>e Erkenntnis so bestimmt, dass wir sie mit Leben füllen können.<br />

Das geistliche S<strong>in</strong>gen ist e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>fache und elementare Möglichkeit, dem Glauben ganzheitlich<br />

Ausdruck zu geben. „Wer s<strong>in</strong>gt, betet doppelt“ – so wusste man schon <strong>in</strong> der alten Kirche.<br />

Geistliche Lieder können mir helfen, beten zu lernen. Das Gespräch mit Gott erhält e<strong>in</strong>e<br />

neue Qualität, wenn es nicht nur mit Worten, sondern mit dem ganzen Leib geschieht.<br />

Ich kenne e<strong>in</strong>ige Menschen, denen das persönliche Beten schwer fällt, obwohl sie gern s<strong>in</strong>gen<br />

– zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten und besonders, wenn sie für sich alle<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d<br />

(<strong>in</strong> der Badewanne, im Auto oder bei e<strong>in</strong>em Waldspaziergang). E<strong>in</strong> geistliches Lied „von<br />

Herzen“ zu s<strong>in</strong>gen ist e<strong>in</strong>e vollwertige Möglichkeit, mit Gott zu reden, die Freude machen<br />

kann und nicht e<strong>in</strong>mal anstrengend ist.<br />

Vielleicht verstehen wir jetzt, warum die Lieder <strong>Paul</strong> Gerhardts so lang s<strong>in</strong>d. 18 Strophen<br />

s<strong>in</strong>d bei ihm ke<strong>in</strong> Seltenheit, er fordert lächelnd e<strong>in</strong>en langen Atem – für e<strong>in</strong> tiefgehendes<br />

© Dr. Albrecht Schödl, 21. 01. 2007, St. Laurentius Neuendettelsau 2


<strong>Paul</strong> Gerhardt: Ich s<strong>in</strong>ge dir mit Herz und Mund (EG 324)<br />

und anhaltendes Gespräch mit dem Schöpfer. Se<strong>in</strong>e Lieder hat der Dichterpfarrer ja zuerst<br />

für die persönliche Andacht, für das Gebet <strong>in</strong> häuslicher Geme<strong>in</strong>schaft und für das S<strong>in</strong>gen<br />

bei der Arbeit geschrieben. Dafür sollten wir sie heute auch noch gebrauchen. Erst später<br />

s<strong>in</strong>d se<strong>in</strong>e Choräle dann im Gottesdienst gesungen worden, und wir werden sie anders s<strong>in</strong>gen,<br />

wenn wir uns bewusst <strong>in</strong> das Zwiegespräch mit Gott h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> nehmen lassen. Über viele<br />

Strophen h<strong>in</strong>weg betrachten <strong>Paul</strong> Gerhardts Lieder den Weg des E<strong>in</strong>zelnen vor Gott und<br />

zeichnen se<strong>in</strong>e Schritte <strong>in</strong> die Wunderwerke der Schöpfung e<strong>in</strong>, die wir manchmal schon gar<br />

nicht mehr wahrnehmen. Er er<strong>in</strong>nert uns mit se<strong>in</strong>en Fragen unaufdr<strong>in</strong>glich an die vielen D<strong>in</strong>ge,<br />

die uns mit jedem neuen Morgen geschenkt werden. Die Zeile zum Beispiel: „Wer<br />

schützt uns vor dem W<strong>in</strong>d?“ bekommt e<strong>in</strong>e überraschende Wendung, wenn wir an den Orkan<br />

der <strong>letzten</strong> Tage denken. Haben wir Gott eigentlich schon dafür gedankt, dass wir heute<br />

heil und unbeschadet hier se<strong>in</strong> können?<br />

Wem das Beten schwer wird, der kann sich von <strong>Paul</strong> Gerhardt <strong>in</strong> diese staunenden Betrachtungen<br />

unter dem schönen Himmelszelt h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>nehmen lassen und e<strong>in</strong>stimmen: „Wohlauf,<br />

me<strong>in</strong> Herze, s<strong>in</strong>g und spr<strong>in</strong>g / und habe guten Mut!“<br />

2) E<strong>in</strong> zweiter Punkt, Gottes Umgang mit Sünde und Schuld, macht gerade dieses Lied bedeutsam.<br />

Genau <strong>in</strong> der Mitte des Liedes, <strong>in</strong> der 9. Strophe, wird Gott lobend auf se<strong>in</strong> heilvolles<br />

Handeln angesprochen. „Du strafst uns Sünder mit Geduld / und schlägst nicht allzusehr,<br />

/ ja endlich nimmst du unsere Schuld / und wirfst sie <strong>in</strong> das Meer“.<br />

Ich kann mir gut vorstellen, dass e<strong>in</strong>ige bei diesen befremdlichen Formulierungen Bauchschmerzen<br />

haben. Weckt dies nicht völlig falsche Vorstellungen von Gott, dem man auch<br />

noch für se<strong>in</strong>e „Strafen“ und „Schläge“ dankbar se<strong>in</strong> muss?<br />

Für den Liederdichter ist Gott auch als Richter se<strong>in</strong>en Geschöpfen nahe. Er sieht den gütigen<br />

und den zornigen Gott <strong>in</strong> dieser Welt am Regiment. Der Schöpfer des Universums ist<br />

nicht der harmlos liebe Kuschelgott, der mit mir auf dem Sofa sitzt und um den ich me<strong>in</strong>en<br />

Arm legen kann. Manche betonen ja nur diese e<strong>in</strong>e Seite Gottes und s<strong>in</strong>gen dann entsprechend:<br />

„Herr, de<strong>in</strong>e <strong>Liebe</strong> ist wie Gras und Ufer“. Das stimmt alles, aber es ist nur die halbe<br />

Wahrheit. Wer die Bibel aufmerksam liest, auch <strong>in</strong> den unbequemen Passagen, der merkt:<br />

Der Zorn ist nur die andere Seite von Gottes <strong>Liebe</strong>. ER ist doch ke<strong>in</strong> emotionsloser Klotz,<br />

sondern e<strong>in</strong> lebendiges Gegenüber! Aber Gott sei Dank ist se<strong>in</strong>e Barmherzigkeit viel größer,<br />

als es jeder von uns verdient hätte.<br />

Wie hieß es <strong>in</strong> der Lesung aus Jesaja 12 [Verse 1-6]? „Ich danke dir, HERR, daß du bist<br />

zornig gewesen über mich und de<strong>in</strong> Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest. Siehe,<br />

Gott, ist me<strong>in</strong> Heil“. Daran schließt sich die Aufforderung an: „Lobs<strong>in</strong>get dem HERRN!“ Gott<br />

zeigt se<strong>in</strong>e <strong>Liebe</strong> dar<strong>in</strong>, dass se<strong>in</strong> Zorn nicht das letzte Wort hat. Am Ende stehen Trost und<br />

Dank. In dieser zutiefst biblischen Traditionsspur bewegt sich <strong>Paul</strong> Gerhardt. Alles an Gottes<br />

Handeln <strong>in</strong> der Welt, selbst se<strong>in</strong> Gericht, ist ihm Anlass zum Lobpreis: „Du strafst uns Sünder<br />

mit Geduld und schlägst nicht allzusehr“. Hier spricht sich zwar e<strong>in</strong>e Pädagogik aus, die nicht<br />

© Dr. Albrecht Schödl, 21. 01. 2007, St. Laurentius Neuendettelsau 3


<strong>Paul</strong> Gerhardt: Ich s<strong>in</strong>ge dir mit Herz und Mund (EG 324)<br />

mehr unsere se<strong>in</strong> kann, geme<strong>in</strong>t ist doch aber Folgendes: Gott könnte ganz anders mit uns<br />

umgehen, <strong>in</strong>dem er uns gnadenlos abstraft für unsere Verfehlungen. Die Nähe des Schöpfers<br />

zeigt sich dar<strong>in</strong>, dass er viel Geduld bei unseren Fehltritten hat. Weil er gütig und treu<br />

ist, tut er das aber nicht, im Gegenteil! Se<strong>in</strong> Handeln an uns zielt auf Vergebung ab. Um das<br />

vor Augen zu malen, knüpft der Liederdichter wieder an alttestamentliche Bilder an: „ja endlich<br />

nimmst du unsre Schuld / und wirfst sie <strong>in</strong> das Meer“ – dort wird sie wirklich bleiben!<br />

3) E<strong>in</strong> dritter und letzter Punkt, auf den uns <strong>Paul</strong> Gerhardt aufmerksam macht, ist der richtige<br />

Umgang mit unseren Sorgen. „Was kränkst du dich <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>n / und grämst dich Tag<br />

und Nacht? Nimm de<strong>in</strong>e Sorg und wirf sie h<strong>in</strong> / auf den, der dich gemacht.“<br />

Aus diesem schlichten Reim spricht tiefe Erfahrung und Menschenkenntnis. Wenn uns die<br />

Sorgen Tag und Nacht beschäftigen und gar nicht mehr loslassen wollen, machen sie uns<br />

irgendwann krank. Dann ist es wichtig, dieser Kränkung zu widerstehen. „Was kränkst du<br />

dich <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em S<strong>in</strong>n?“ Hier ist nämlich der Punkt erreicht, wo sich niemand voreilig <strong>in</strong> se<strong>in</strong><br />

Schicksal fügen darf, sondern selbst aktiv werden muss. Die drückenden Sorgen können<br />

doch an der richtigen Adresse ausgesprochen werden, nämlich „bei dem, der dich gemacht“.<br />

Dazu kommt, was noch schwieriger als das Aussprechen ist: Vor Gott sollen die Sorgen<br />

wirklich „h<strong>in</strong>geworfen“ werden – das schließt e<strong>in</strong>, loslassen zu können und das eigene Handeln<br />

<strong>in</strong> größere Hände zu legen. Auch hier tut der Liederdichter nichts anderes, als elementare<br />

Bibelworte auszulegen: „Sorgt nicht um euer Leben“, sagt der Bergprediger [Mt 6,25],<br />

und im ersten Petrusbrief heißt es: „Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch“ [1.<br />

Petr 5,7].<br />

Man darf diese seelsorgerliche E<strong>in</strong>sicht Gerhardts nicht spiritualisieren oder politisch missbrauchen,<br />

als wären Christen zu völliger Passivität <strong>in</strong> ihren Leiden verurteilt. Der Liederdichter<br />

selbst war ke<strong>in</strong> Leisetreter, wie die Konflikte um se<strong>in</strong>e Amtsenthebung zeigen. Er hat sich<br />

se<strong>in</strong>em Schicksal nicht gefügt und dem Kurfürsten mutig widersprochen. Zugleich hat er betont,<br />

dass das eigene Handeln und alle Sorgen, die damit verbunden s<strong>in</strong>d, immer wieder <strong>in</strong><br />

Gottes Hände zurückgelegt werden müssen, damit ER wirklich zum Zuge kommt und wir ihm<br />

nicht an falscher Stelle im Wege stehen. Hier ist Ergebung <strong>in</strong> Gottes Führung angesagt.<br />

Dietrich Bonhoeffer hat später dieser wichtige geistliche Unterscheidung mit den Worten<br />

„Widerstand und Ergebung“ aufgegriffen und auf e<strong>in</strong>e kurze Formel gebracht. Es gibt Situationen,<br />

wo wir e<strong>in</strong>schreiten müssen gegen das Leiden. Auf der anderen Seite führt uns Gott<br />

ebenso durch das Leiden, wenn wir ihn denn lassen und auf se<strong>in</strong>e Möglichkeiten vertrauen.<br />

<strong>Paul</strong> Gerhardt gibt uns für diese Ergebung mit auf den Weg: „Ei nun, so laß ihn ferner tun /<br />

und red ihm nicht dare<strong>in</strong>, / so wirst du hier im Frieden ruhn / und ewig fröhlich se<strong>in</strong>.“<br />

Amen.<br />

© Dr. Albrecht Schödl, 21. 01. 2007, St. Laurentius Neuendettelsau 4


Dr. Moritz Fischer<br />

Augustana-Hochschule<br />

28.01.07/ LETZTER Sonntag n. Epiphanias/ St. Laurentius NEUENDETTELSAU<br />

Hochschul-Gottesdienst zur Predigtreihe zum „<strong>Paul</strong>-Gerhardt-Jahr 2007“<br />

BEFIEHL DU DEINE WEGE (eg 361)<br />

12 Etappen auf dem Weg durchs Leiden<br />

GOTTESDIENSTABLAUF<br />

• Orgelvorspiel<br />

• Lied 599: 1-3 „Kommt herbei“<br />

• Begrüßung: 2. Station unserer Predigtreihe zum „<strong>Paul</strong>-Gerhardt-Jahr“<br />

• Wir versammeln uns vor Gott/ EG 886: 3 geme<strong>in</strong>sam gesprochen<br />

• Lied 361: 1-2<br />

• Lesung Joh 14: 1-7 und Glaubensbekenntnis<br />

• Lied 361: 3-4<br />

• PREDIGT 1<br />

• Lied 361: 10-11<br />

• Text von Dag Hammarskjöld<br />

• Lied 361: 12<br />

• Abkündigungen<br />

• Fürbitten/ Vaterunser<br />

• Segen<br />

• Lied 168: 4-6 „Wenn wir jetzt weitergehen“<br />

• Orgelnachspiel<br />

1 Die Predigt ist auch <strong>in</strong> dankbarer Er<strong>in</strong>nerung an unsere ehemalige Pfarrei mit den Kirchengeme<strong>in</strong>den Wettelsheim<br />

und Bubenheim (Stadt Treuchtl<strong>in</strong>gen) im Dekanat Pappenheim entstanden, <strong>in</strong> der wir zwischen 2000 und<br />

2005 Dienst taten. Hier wurde mir dieses Lied erst richtig bekannt und <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Bedeutung bewusst. Unzählige<br />

Male stimmten wir, u. a. anlässlich von Aussegnungen und Beerdigungen „Befiehl du de<strong>in</strong>e Wege“ an, als <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>n<br />

bei der geme<strong>in</strong>samen Suche nach Trost.<br />

1


Dr. Moritz Fischer<br />

Augustana-Hochschule<br />

28.01.07/ LETZTER Sonntag n. Epiphanias/ St. Laurentius NEUENDETTELSAU<br />

Hochschul-Gottesdienst zur Predigtreihe zum „<strong>Paul</strong>-Gerhardt-Jahr 2007“<br />

BEFIEHL DU DEINE WEGE (eg 361)<br />

12 Etappen auf dem Weg durchs Leiden<br />

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die <strong>Liebe</strong> Gottes und die Geme<strong>in</strong>schaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.<br />

<strong>Liebe</strong> <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>, liebe Glaubensgeschwister, seien sie gegrüßt auf dem Lebens- und Glaubensweg,<br />

auf dem jede/jeder mehr oder weniger, die Erfahrung der Krise kennt!<br />

I) In unseren Krisen unsere Wege Gott befehlen<br />

Aber warum zählt „Befiehl du de<strong>in</strong>e Wege“ zu den mit Abstand bekanntesten Liedern <strong>in</strong> unserem<br />

Gesangbuch? Es liegt nicht nur an se<strong>in</strong>em kirchlichen „Sitz im <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>leben“ bei<br />

Beerdigungen bzw. <strong>in</strong> der Seelsorge; oder an se<strong>in</strong>er leicht e<strong>in</strong>gängigen, getragenen Melodie,<br />

bei der auch passionierte Nichtsänger sich trauen, mit e<strong>in</strong>zustimmen. Zu erwähnen ist vielmehr<br />

se<strong>in</strong> Inhalt und se<strong>in</strong> Aufbau, durch den es seit langem zum festen Bestandteil ökumenischer<br />

Frömmigkeitstradition zählt.<br />

Zudem wären weitere Gründe aufzuzählen, die es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en traditionsgeschichtlichen, literarisch-lyrisch-formalen,<br />

mnemotechnischen, stilistischen, philosophischen, historischen und<br />

nicht zuletzt theologischen Zusammenhänge stellen - Gründe, auf die ich aber hier nur andeutungsweise<br />

e<strong>in</strong>gehen kann….<br />

Es ist <strong>in</strong> diesem Lied nahezu alles vere<strong>in</strong>t, was dem <strong>in</strong> Jahre 1653 46jährigen P. Gerhardt als<br />

Kunst schaffendem Theologen verfügbar war – und nicht zuletzt als leidgeprüftem Menschen.<br />

Mir geht es <strong>in</strong> dieser Predigt zunächst um die <strong>in</strong>haltlich-seelsorglichen Gründe, die <strong>Paul</strong> Gerhardt<br />

als e<strong>in</strong>en zutiefst gläubigen Menschen bewegten, diese 12 Strophen mit je acht dreihebigen<br />

Versen (<strong>in</strong> Jamben) zu dichten: Er nimmt uns mit auf 12 Etappen als Menschen <strong>in</strong> der<br />

Lebens-, Leidens- und Glaubenskrise <strong>in</strong> den Blick. Er will uns aber auch den Weg durch das<br />

Leid h<strong>in</strong>durch führen, h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Prozess der Befreiung von den Beh<strong>in</strong>derungen, die mit<br />

jeder Krise e<strong>in</strong>hergehen. In Bezug auf uns gelesen ist <strong>in</strong> diesem Lied auch Raum für das, was<br />

e<strong>in</strong>en auch heute an Schwerem betrifft <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit Trauer und Abschiedsschmerz:<br />

• Viele kommen zum Studieren und nehmen erstmals Abschied vom Elternhaus...<br />

• Andere müssen demnächst nach diesem Semester wieder von der Augustana Abschied<br />

nehmen und fühlen sich vielleicht so wohl, dass es ihnen schwer fällt…<br />

• Andere unter uns müssen von lieben Menschen für immer Abschied nehmen, wenn sie<br />

ihnen <strong>in</strong>s Grab schauen – gerade auf dem Friedhof, wo Feierabendschwestern ihre<br />

letzte Ruhestätte f<strong>in</strong>den, ist das immer wieder der Fall<br />

2


• Manch e<strong>in</strong>er oder e<strong>in</strong>e hat sich bereits von der Bühne der offiziellen Berufstätigkeit<br />

verabschiedet und kämpft doch noch mit den Problemen, die sich damit ergeben, ke<strong>in</strong>e<br />

offizielle Funktion mehr zu haben<br />

• Eltern müssen <strong>in</strong> Abschnitten immer wieder neu von ihren K<strong>in</strong>dern Abschied nehmen,<br />

die das Zuhause verlassen (K<strong>in</strong>dergarten, Schule, Berufsausbildung) und sich vielleicht<br />

für immer an e<strong>in</strong>en Partner b<strong>in</strong>den<br />

Abschied nehmen bedeutet häufig auch Trauern - und Trauern ist immer auch Abschied nehmen<br />

von Menschen, Vorstellungen, Möglichkeiten, vielleicht auch von Illusionen… und Abschied<br />

ist immer auch e<strong>in</strong> bisschen wie Sterben, heißt es.<br />

II) „Befiehl du de<strong>in</strong>e Wege“ und die Ursprünge des Liedes<br />

Was hat Gott mit den vielen Abschieden, die das Leben mit sich br<strong>in</strong>gt zu tun? Wie kann unser<br />

Weg, gerade mit den schwierigen Etappen, von ihm bestimmt werden? Wie werden wir<br />

se<strong>in</strong>er Begleitung bewusst? Die radikale Antwort P. Gerhardts lautet: „Befiehl’ du de<strong>in</strong>e Wege...!“<br />

Blicke nach vorne, lass Dich nicht gefangen nehmen, von dem, was Dich fesselt und<br />

wie e<strong>in</strong>e Salzsäule zur Erstarrung br<strong>in</strong>gen will. Dann wirst Du <strong>in</strong>mitten De<strong>in</strong>er Krise hoffentlich<br />

den Abstand bekommen, der so wichtig ist – und selbst erkennen, dass da noch jemand<br />

anderes ist. Dass da nicht nur du selbst hockst <strong>in</strong> de<strong>in</strong>er Höhle, <strong>in</strong> de<strong>in</strong>er Depression, <strong>in</strong> de<strong>in</strong>er<br />

Angst… Dass Du nicht alle<strong>in</strong>e bist und dass er selbst, dieser manchmal so rätselhafte, <strong>in</strong> unserem<br />

diffusen Leid zunächst namenlose Gott dennoch da ist und sich Dir bekannt machen will!<br />

Es handelt sich bei „Befiehl’ du de<strong>in</strong>e Wege!“ nicht nur um e<strong>in</strong>e Meditation über die göttliche<br />

Vorsehung, die ihresgleichen <strong>in</strong> der gesamten christlichen Liedlyrik sucht. Wer nach den<br />

Wurzeln des Liedes sucht, wird <strong>in</strong> der Bibel fündig. P. Gerhardt hat sich hier den Psalmdichtungen<br />

bzw. der Tradition der weisheitlichen Theologie orientiert. Er tritt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e erfrischende<br />

Korrespondenz mit der Dichtkunst des Psalters e<strong>in</strong> und erfüllt sie mit neuem Leben. Gerhardts<br />

<strong>in</strong>tensives Denken und Dichten, Fragen, Klagen und Gottvertrauen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> typisches Erzeugnis<br />

des protestantischen Barock des 17. Jh.: Fast jede Liedstrophe spricht <strong>in</strong> emotional geladenen,<br />

seelische Zustände beschreibenden Begriffen wie Kummer, Sorgen, Not, Lebenslast,<br />

Leid, Tod, Sterblichkeit, Kränkung, Schmerz, Sorgen, Gram und Pe<strong>in</strong> von der Gefahr des<br />

menschlich-existentiellen Scheiterns. In der Anerkenntnis dieser Gefahr wird das befreiende<br />

Erleben der neu zu err<strong>in</strong>genden Freiheit dargestellt <strong>in</strong> den Aktivität be<strong>in</strong>haltenden Metaphern<br />

wie Weg, Bewegung, Vertrauens, Segen, Gang, Licht, Pflege, Sieg oder Gnade. Nichts wird<br />

verdrängt – all das muss zu Wort kommen: sowohl die Leiderfahrung, als auch die Anreizung<br />

zum Glauben. Freimütig wird beides zur Sprache gebracht.<br />

3


Unsere paradoxen Lebenserfahrungen zwischen Verzweiflung und Hoffnung spiegeln sich<br />

hier wider. Schauen wir doch <strong>in</strong> unser Leben, z. B. mit dem viel zitierten Hölderl<strong>in</strong>/ Patmos:<br />

„Wo Gefahr ist, da wächst das Rettende auch“. Das Gegenteil gilt ja leider auch: „Wo Rettung<br />

ist, da wächst das Gefährdende auch; wo Taufe ist, da ist Versuchung; wo Glaube ist, da<br />

ist Unglaube; wo Christus ist, da ist der Antichrist; wo <strong>Liebe</strong> ist, da ist der Tod“ (so J. Moltmann<br />

am Ende se<strong>in</strong>er Theologie der Hoffnung). Die Frage lautet: Wie kommen wir <strong>in</strong>mitten<br />

der Zerbrechlichkeiten des Dase<strong>in</strong>s zum Ziel? Wie werden wir hoffnungsvoll, erfüllt, getragen<br />

von e<strong>in</strong>er Hoffnung, die zudem auch andere ansteckt?<br />

III) Wir suchen auf unseren Wegen Gottes Heilsweg<br />

Antwort bekommen wir nur, wenn wir das Glaubensgedicht als Ganzes betrachten: Se<strong>in</strong>e 12<br />

Strophen s<strong>in</strong>d (am besten auswendig gelernt) meditiert, rezitiert, nachgelesen und <strong>in</strong>s persönliche<br />

(wie <strong>in</strong>s geme<strong>in</strong>same) Gebet h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> genommen, für viele Menschen treue geistliche Begleiter.<br />

Mit ihrer Botschaft der Hoffnung sagen sie uns zu, dass Gott selbst mit se<strong>in</strong>em Wort<br />

wie dem Psalmvers 37: 5 („Befiehl/ dem Herrn/ De<strong>in</strong>’/ Weg’/ und/ hoff’/ auf/ ihn/, er/<br />

wird’s/ wohl/ machen“) die alles entscheidende Wahrheit <strong>in</strong> unser Leben h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gelegt hat.<br />

Die Erkenntnis dieser Wahrheit geschieht durch den Glauben, den er uns schenkt bzw. immer<br />

wieder neu schenken will. Gerhardt schuf mittels der Verschmelzung von Text, Versmaß,<br />

Rhythmus und Ton e<strong>in</strong> Kle<strong>in</strong>od barocker evangelischer Liedlyrik: E<strong>in</strong>e Thematik: „Gott führt<br />

uns auf e<strong>in</strong>em an Etappen reichen Weg durch die Krise h<strong>in</strong> zur Erlösung“ wird mittels zweierlei<br />

mite<strong>in</strong>ander komb<strong>in</strong>ierter Kunstformen beschrieben, <strong>in</strong>dem sich dichterisch geformtes<br />

Wort (1) und zu s<strong>in</strong>gende Melodie (2) gegenseitig verstärken: Zu (1): Der offene (weibliche)<br />

Ausgang <strong>in</strong> den stets dreihebigen jambischen Versen entspricht e<strong>in</strong>em relativ höheren<br />

Schlusston („Befiéhl du dé<strong>in</strong>e Wége…“), bei den geschlossenen (männlichen) Versenden<br />

bewegt sich der Melodiebogen nach unten („…und wás De<strong>in</strong> Hérze kr´änkt“). Der offenpositive<br />

Inhalt von „Wege“ entspricht dem helleren Schlusston bzw. dem offenen vokalischen<br />

Versausgang, wie umgekehrt das eher bestimmend-negative Assoziationen weckende Verb<br />

„kränkt“ gesteigert wird mittels dem dunkleren Ton bzw. der geschlossenen konsonantisch<br />

auslautenden Schlussilbe. Jede Strophe ist eigentlich aus zwei parallelen Quartetten (Vierzeilern),<br />

also <strong>in</strong>sgesamt aus acht Versen gebildet. Diese lyrische Form hat ihre Ursprünge <strong>in</strong> der<br />

Antike, wird aber auch <strong>in</strong> der Romantik, etwa <strong>in</strong> den „Jugendgedichten“ Hölderl<strong>in</strong>s <strong>in</strong> exakt<br />

derselben Form wie bei „Befiehl Du De<strong>in</strong>e Wege“ verwandt. Stets greift der zweite Vierzeiler<br />

(c-d-c-d) <strong>in</strong>haltlich <strong>in</strong> den ersten (a-b-a-b) so e<strong>in</strong>, dass er, ihn verstärkend, se<strong>in</strong>e Aussage fortführt.<br />

Vgl. die erste Strophe: Hier kann der Reim wie beim ersten Vierzeiler deutlich, dazu<br />

dienen, das erste Schlusswort zu verstärken (Wege – Pflege) oder es mit e<strong>in</strong>em Gegenbegriff<br />

4


zu kontrastieren (kränkt – lenkt). Dadurch wird <strong>in</strong> jeder der Strophen, bzw. im ganzen Lied,<br />

nicht nur die aus paradoxen Aussagen bestehende Spannung erzeugt, sondern der jeweils<br />

zweite, sich reimende Strophenteil/ sich reimende Begriff führt zur Vermittlung, Überbietung<br />

oder Fortführung der vorhergehenden Aussage. So kommt es auf formalem Weg zu der stets<br />

vorwärts dr<strong>in</strong>genden Dynamik, die diesem Lied se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>haltlichen Reiz verleiht.<br />

IV) E<strong>in</strong> Blick auf das Lied als Ganzes<br />

1. Die, auch im Gesangbuch kursiv gedruckten, Strophenanfänge s<strong>in</strong>d, nache<strong>in</strong>ander gelesen,<br />

nichts anderes als e<strong>in</strong> nach Psalm 37:5 gebildetes Steilwort (Akrostichon). Dies war e<strong>in</strong>e beliebte<br />

barocke Stilübung. In der Regel wurden so mittels der Anfangs<strong>in</strong>itialen der Fürstennamen<br />

Lobgedichte oder Ehrengesänge auf diese verfasst. Die typische P. Gerhardt’sche Widerständigkeit<br />

gegenüber der absolutistischen Obrigkeit, zum<strong>in</strong>dest wenn es um Glaubensfragen<br />

geht, spiegelt sich hier wieder, wie auch im Liedanfang: „Befiehl’ du…“ – m. a. W. „mir hat<br />

(<strong>in</strong> guter Gefolgschaft M. Luthers) <strong>in</strong> Gewissensd<strong>in</strong>gen ke<strong>in</strong>er etwas zu befehlen, außer Gott<br />

selbst, dessen Macht ich mich anbefehle“. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass ausgerechnet<br />

der ‚Große’ Kurfürst Friedrich Wilhelm I von Preußen (reg. 1640-88) „Befiehl du<br />

de<strong>in</strong>e Wege“ zu se<strong>in</strong>em Liebl<strong>in</strong>gslied erklärt hatte! 2 Ihm hatte P. Gerhardt wegen Konfessionsfragen<br />

<strong>in</strong> Sachen Kirchenunion zwischen Lutheranern und Calv<strong>in</strong>isten <strong>in</strong> Preußen <strong>in</strong>s Angesicht<br />

widerstanden. Zudem nimmt Gerhardt mit diesem Steilwort e<strong>in</strong> wesentliches Stilmittel<br />

des Psalms 37 selbst auf. Dieser Vers Ps. 37: 5 wird von P. Gerhardt <strong>in</strong> barock-dichterischer<br />

Weise so ausgelegt, dass Form wie Inhalt e<strong>in</strong>en kunstvoll gestalteten Reflex auf Ps. 37/ Gottes<br />

Wort darstellen. Es spiegelt sich <strong>in</strong>haltlich wie formal <strong>in</strong> dem Glaubensgedicht Gerhardts wider.<br />

In dem der alttestamentlichen Weisheit zuzurechnenden, kunstvoll aufgebauten Psalm<br />

beg<strong>in</strong>nt jeder Vers mit e<strong>in</strong>em Buchstaben des hebräischen Alphabets, das vom ersten bis zum<br />

<strong>letzten</strong> Vers Schluss „durchbuchstabiert“ wird: so wie die Verse alles zur Aussage br<strong>in</strong>gen,<br />

was es zum Nachweis der Gerechtigkeit Gottes zu sagen gibt - trotz subjektiv erlebten Unrechtes<br />

im Leben der Menschen. Dichtung wird so zum <strong>in</strong>haltlich-formalen Medium, welches<br />

die Weisheit Gottes darstellt und wie sie sich der menschlichen Erkenntnis offenbart. Typisch<br />

für die Theologie bzw. das geistige Schaffen im Barock ist, dass an philosophische, künstlerische<br />

oder biblische Traditionen der Antike angeknüpft, und diese neu mite<strong>in</strong>ander komb<strong>in</strong>iert<br />

werden. 3 So wurden im enzyklopädischen Zeitalter über die Epochen h<strong>in</strong>weg geistesge-<br />

2 1666 Amtsenthebung von se<strong>in</strong>er prom<strong>in</strong>enten Berl<strong>in</strong>er Pfarrstelle an der Nicolai-Kirche, 1667 die Wiedere<strong>in</strong>setzung<br />

durch den Kurfürsten, die Gerhardt aber schriftlich ablehnte.<br />

3 Die Philosophie des Neostoizismus hatte seit Ende des 16. Jh. geistesgeschichtlich großen E<strong>in</strong>fluss; vgl. das<br />

Werk De constantia von Justus Lipsius, welches unzählige Auflagen nebst Übersetzung <strong>in</strong>s Deutsche erfuhr.<br />

5


schichtliche Bögen geschlagen und <strong>in</strong> die Gegenwart h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> Aussagen von allgeme<strong>in</strong>gültiger<br />

Qualität getroffen. Unser Lied „Befiehl du de<strong>in</strong>e Wege“ mit se<strong>in</strong>er evangelischen Barocklyrik<br />

ist hierfür e<strong>in</strong> hervorragendes Beispiel.<br />

Auch aus der evangelischen Variante der Barockmystik von Johann Arndt Gebetsanleitung<br />

„Vom Wahren Christentum“ hat Gerhardt entscheidende Anregungen für se<strong>in</strong>e Gedichte entnommen:<br />

In „Befiehl du de<strong>in</strong>e Wege“ lehnt er sich mit der ersten Strophe an Arndts „Paradiesgärtle<strong>in</strong>s“<br />

an (Buch II Kap. 29) und dichtet sie <strong>in</strong> typisch barocker Manier selbstständig<br />

weiter: „Siehe an die Luft und W<strong>in</strong>de, wie schön und klar machen sie den Himmel, vertreiben<br />

die Wolken und treiben die Wolken zusammen, … gießen es hernach aus auf die Erde.“<br />

2. Jede der Strophen für sich ist auch der Versuch e<strong>in</strong>er Entfaltung ihres Anfangsbegriffes aus<br />

Ps. 37: 5 <strong>in</strong> der Vertikale. Im wahrsten S<strong>in</strong>n des Wortes wird der Anfangsbegriff nach Rechts<br />

<strong>in</strong> den Satz und se<strong>in</strong>e Struktur h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> aus-gelegt. Wiederholend, verdeutlichend, steigernd<br />

werden mittels Symbolen und Bildern <strong>in</strong>nere Erfahrungen dargstellt, die das Glaubensleben<br />

des Menschen betreffen und im Kontrast mit Gottes Ratschluss bzw. Vorsehung vermittelt.<br />

Der „Himmel“ bezieht sich auf die planmäßig festgelegte Ordnung der Gestirne, während<br />

„Wolken, Luft und W<strong>in</strong>de“ zufällige, unberechenbare Elemente s<strong>in</strong>d. In unserem Lied soll<br />

genau das zur Sprache kommen und als vertrauender Glauben <strong>in</strong> die Herzen der Betenden<br />

vermittelt werden: Beide: Für uns durchschaubare Ordnung und verme<strong>in</strong>tlicher Zufall unterstehen<br />

Gottes Macht. So wird der Schluss vom größeren zum Kle<strong>in</strong>eren gezogen: GOTT wird<br />

Wege f<strong>in</strong>den, da me<strong>in</strong> Fuß gehen kann. Vom Himmel wandert der Blick über die Wolken bis<br />

zu unseren Füßen; vom Großartig-Erhabenen bis zum Staub des Weges. Den „Wolken, Luft<br />

und W<strong>in</strong>den“ entsprechen „Wege, Lauf und Bahn“; nicht zufällig haben die ersten beiden<br />

Wortpaare dieselben Anfangsbuchstaben. Fast unmerklich werden aus de<strong>in</strong>en - Gottes Wege.<br />

3. Die dritte bzw. vierte „Dimension“ neben der Senkrechte und der Waagrechten kommt<br />

durch die 12-Strophigkeit zum Ausdruck: Im Rahmen der Zwölf als Zahl biblisch bezeugter<br />

heiliger Ordnungen und als Summe irdischer Vollkommenheit <strong>in</strong> Gottes Schöpfungswerk (12<br />

Monate des Jahres/ zwölf Stunden des Tages und der Nacht), sollen sich sowohl der E<strong>in</strong>zelne<br />

als auch die Geme<strong>in</strong>schaft der Gläubigen wiederf<strong>in</strong>den. Besieht man die erste und die letzte<br />

Strophe, fällt auf, dass der mit dem Beg<strong>in</strong>n des Liedes als mühsam, aber hoffnungsvoll beschriebene<br />

Anfang des Laufens am Liedschluss <strong>in</strong>s Ziel mündet: der Beter hat se<strong>in</strong>e Glaubensgewissheit<br />

wieder gefunden und schaut mit se<strong>in</strong>em geistlichen Auge über den Horizont<br />

irdischen Dase<strong>in</strong>s für e<strong>in</strong>en Augenblick h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die himmlische Welt, die sich ihm nach dem<br />

Tod voll eröffnen wird. Der Kreisbogen schließt sich und der Betende f<strong>in</strong>det sich nach der<br />

Überw<strong>in</strong>dung se<strong>in</strong>er Krise an anderem Ort wieder.<br />

6


V) 12 Strophen/ Etappen, vier Trauerphasen und die Genesung der Seele auf dem Weg<br />

Abschied nehmen bedeutet häufig Trauern. Trauern ist immer auch Abschied nehmen … und<br />

Abschied „ist immer e<strong>in</strong> bisschen wie Sterben“. Die diesbezüglichen „Trauerphasen“ 4 s<strong>in</strong>d <strong>in</strong><br />

ihrer Bedeutsamkeit, was die Tiefenstruktur der menschlichen Seele und ihre Dynamik betrifft,<br />

gut erforscht. Mir fällt auf, dass sie sich alle vier <strong>in</strong> unserem Lied wieder f<strong>in</strong>den – e<strong>in</strong><br />

Zeugnis dafür, welche e<strong>in</strong> ausgezeichneter Seelenkenner P. Gerhardt war. Abschließend<br />

möchte ich noch e<strong>in</strong>mal das Lied <strong>in</strong> vier Abschnitten mit Ihnen durchgehen entlang der Phasen,<br />

die sich widerspiegeln. Ich nenne nur e<strong>in</strong>ige beispielhafte Begriffe. 5<br />

Nr. 1. Die Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens = Strophe 1-4<br />

„Ich“ <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Sprachlosigkeit, Lähmung muss nicht aus eigenem Vermögen handeln, sondern<br />

<strong>in</strong> Orientierung an Gottes Werk (1)/ Gebet (2)/ Gott wird mit se<strong>in</strong>en Zusagen <strong>in</strong> die<br />

Pflicht genommen (3)/ Er soll handeln, wo ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Krise am Ende, gelähmt b<strong>in</strong> (4).<br />

Nr.2. Die Phase der aufbrechenden Emotionen = Strophe 5-6<br />

Der Kampf Gott – Höllenmacht ist im Gange, ich mit me<strong>in</strong>em Problem h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>verwickelt (5)/<br />

Am Tiefpunkt, <strong>in</strong> Dunkelheit und Depression die Hoffnung auf die Sonne, Gottessymbol (6).<br />

Nr. 3. Die Phase des Suchens und sich Trennens = Str. 7-10<br />

Immer wieder wird neu argumentiert und Stück für Stück beschrieben, wie ich mit me<strong>in</strong>em<br />

Leid umgehen soll, um davon befreit zu werden: „Auf, lass fahren“: Trennen (7)/ „Ihn lass<br />

walten“: F<strong>in</strong>den (8)/ Zwischenzustand, vielleicht psychisch schwierigster Moment, Schwebezustand<br />

zwischen Heil und Unheil erneute Du-Anrede (9)/ Übergang zu Phase Nr.4: Befeiung,<br />

<strong>in</strong>mitten der aufgewühlten Emotionen und der Orientierungsversuche unerwartet (10).<br />

Nr.4. Die Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs = Str. 11-12<br />

„Du hast und trägst davon“: Selbstbezug wieder hergestellt (11). Gott- bzw. Weltbezug s<strong>in</strong>d<br />

ebenso wieder angebahnt mit Blick auf das Lebensende und die Möglichkeit e<strong>in</strong>es <strong>letzten</strong>dlich<br />

wahrhaft gel<strong>in</strong>genden Lebens, <strong>in</strong> dem alle<strong>in</strong> durch Gottes Handeln jeder, wirklich jeder<br />

Situation ihr, wenn auch hier und jetzt häufig verschlossener S<strong>in</strong>n zukommt.<br />

Wir wissen, welche Schwierigkeiten es bedeutet, wenn man <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er dieser Phasen verbleibt<br />

oder glaubt, sie überspr<strong>in</strong>gen zu können. Aber wir dürfen glauben, dass sie jeweils mit Gottes<br />

Hilfe zu durchleben s<strong>in</strong>d. So können wir immer wieder neu weitergehen. So werden unsere<br />

Wege zu den se<strong>in</strong>en und umgekehrt se<strong>in</strong> Weg zu unserem. In dieser Identifikation der Wege<br />

kommt es zur heilvollen Begegnung Mensch und Gott, der mit uns leidet und Leid wendet,<br />

bereits hier gilt: Alle Wege führen letztlich <strong>in</strong> die Fülle se<strong>in</strong>er Gegenwart h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. AMEN<br />

4 Elisabeth Kübler-Ross/ Verena Kast u.a.<br />

5 Ich gehe im schriftlichen Text der Predigt die Strophen nicht im E<strong>in</strong>zelnen durch, <strong>in</strong> der mündlichen Predigtversion<br />

b<strong>in</strong> ich ausführlicher gewesen.<br />

7


Im Zusammenhang der Predigt stelle ich Ihnen noch e<strong>in</strong>en zur Meditation gedachten Text vor,<br />

der aus e<strong>in</strong>er viel späteren Epoche stammt, aber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ganz eigenen Dichte und Prägnanz<br />

e<strong>in</strong>e mit <strong>Paul</strong> Gerhardts „Befiehl du de<strong>in</strong>e Wege“ sehr gut vergleichbare Aussage trifft, was<br />

Theologie, existentielle Glaubwürdigkeit und sprachliche Leistung anbelangt. Es handelt sich<br />

um e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>trag des ehemaligen UN-Generalsekretärs (1953-1961) Dag Hammarskjöld <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong> so bedeutsam gewordenes Tagebuch, wenige Wochen vor se<strong>in</strong>em mysteriösen Tod durch<br />

e<strong>in</strong>en Flugzeugabsturz <strong>in</strong> Katanga/ Kongo <strong>in</strong> Afrika. Ich stelle ihn unter die Überschrift:<br />

„Dich wählte der Weg“<br />

6.7.1961<br />

Müde<br />

und e<strong>in</strong>sam.<br />

Müde<br />

bis der Verstand schmerzt.<br />

Von den Klippen<br />

r<strong>in</strong>nt das Schmelzwasser.<br />

Taub die F<strong>in</strong>ger,<br />

bebend die Knie.<br />

Jetzt gilt es,<br />

jetzt darfst du nicht loslassen.<br />

Anderer Weg<br />

hat Rastplätze<br />

<strong>in</strong> der Sonne<br />

sich zu begegnen.<br />

Aber dieser Weg<br />

ist der de<strong>in</strong>e,<br />

und es gilt jetzt,<br />

jetzt darfst du nicht versagen.<br />

We<strong>in</strong>e,<br />

wenn du kannst,<br />

we<strong>in</strong>e,<br />

doch klage nicht.<br />

Dich wählte der Weg –<br />

und du sollst danken.<br />

Dag Hammarskjöld<br />

(29.07.1905 –17.09.1961)<br />

aus: Zeichen am Weg,<br />

München/Zürich 1965, S.111–112<br />

8


Predigt im Rahmen der <strong>Paul</strong>-Gerhardt-Predigtreihe<br />

am Sonntag Septuagesimae 04.02.2007 um 11.00 Uhr<br />

<strong>in</strong> Neuendettelsau – St. Laurentius<br />

über Lied EG 529 »Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gast auf Erden«<br />

von Prof. Dr. Klaus Raschzok<br />

– 1 –


Auslegung I:<br />

Biografische Er<strong>in</strong>nerungsarbeit<br />

Bitte nehmen Sie Ihr Gesangbuch zu Hand und schlagen Sie Lied Nr. 529 auf, um den Liedtext<br />

während der Auslegung vor Augen zu haben:<br />

1) Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gast auf Erden<br />

und hab hier ke<strong>in</strong>en Stand;<br />

der Himmel soll mir werden,<br />

da ist me<strong>in</strong> Vaterland.<br />

Hier reis’ ich bis zum Grabe;<br />

dort <strong>in</strong> der ew’gen Ruh<br />

ist Gottes Gnadengabe,<br />

die schließt all Arbeit zu.<br />

2) Was ist me<strong>in</strong> ganzes Wesen<br />

von me<strong>in</strong>er Jugend an<br />

als Müh und Not gewesen?<br />

Solang ich denken kann,<br />

hab ich so manchen Morgen,<br />

so manche liebe Nacht,<br />

mit Kummer und mit Sorgen<br />

des Herzens zugebracht.<br />

3) Mich hat auf me<strong>in</strong>en Wegen<br />

manch harter Sturm erschreckt;<br />

Blitz, Donner, W<strong>in</strong>d und Regen<br />

hat mir manch Angst erweckt;<br />

Verfolgung, Haß und Neiden,<br />

ob ich’s gleich nicht verschuldt,<br />

hab ich doch müssen leiden<br />

und tragen mit Geduld.<br />

Mit Hilfe des Motivs aus Psalm 119 Vers 19 vollzieht <strong>Paul</strong> Gerhardt mit uns se<strong>in</strong>e biografische<br />

Er<strong>in</strong>nerungsarbeit: »Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gast auf Erden …«<br />

Das Leben steht als Reise vor Augen. Es ist Pilgerschaft. Der Weg bis zum Grab ist vorgezeichnet.<br />

Doch auch das Grab ist nicht letzte Station. Es geht über <strong>in</strong> das himmlische Vaterland.<br />

Gottes Gnadengabe wartet dort <strong>in</strong> der ewigen Ruhe und schließt die Lebensarbeit.<br />

Bereits <strong>in</strong> der 1. Strophe zeigt sich e<strong>in</strong> Wesenszug, der prägend für <strong>Paul</strong> Gerhardts geistliche<br />

Dichtung ist: Diesseits und Jenseits gehören zu der e<strong>in</strong>en Welt Gottes. Und damit bekommen<br />

selbst so hoch ideologisch belastete Begriffe wie »Vaterland« e<strong>in</strong>en völlig anderen, warmen<br />

und sehnsuchtsvollen Ton – weil h<strong>in</strong>ter ihnen das Bild des gütigen Vaters aus dem Gleichnis<br />

vom Verlorenen Sohn aufleuchtet.<br />

In der Rückschau kennzeichnen Müh und Not das menschliche Wesen. <strong>Paul</strong> Gerhardt formuliert<br />

so offen, dass Generationen mit den unterschiedlichsten Erfahrungen <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Worten<br />

– 2 –


sich bergen können – ohne Verbitterung. Der Rückblick spart nichts aus an Kummer und Sorgen.<br />

Aber es ist nicht zufällig so manche liebe Nacht, die das Herz geplagt hat, und die nun<br />

aus dem leidvollen Abstand heraus angeschaut wird.<br />

Wie so oft bei <strong>Paul</strong> Gerhardt bildet die Natur menschliche Erfahrung ab und wird zum Spiegel<br />

der Seele: Sturm, Blitz, Donner, W<strong>in</strong>d und Regen stehen für das zugemutete Leiden.<br />

Aber, so vergewissert sich die Seele: obwohl nicht selbst verschuldet, war es zu tragen.<br />

S<strong>in</strong>gen wir die Strophen 1 bis 3 und nähern wir die Lebensarbeit des Dichters unserer persönlichen<br />

Lebensgestalt an – im Vertrauen auf den Herrn, der <strong>in</strong> allem führt: EG 529, 1–3.<br />

Auslegung II:<br />

Die Welt als fremdes Zelt<br />

4) So g<strong>in</strong>g’s den lieben Alten,<br />

an deren Fuß und Pfad<br />

wir uns noch täglich halten,<br />

wenn’s fehlt am guten Rat;<br />

sie zogen h<strong>in</strong> und wieder,<br />

ihr Kreuz war immer groß,<br />

bis daß der Tod sie wieder<br />

legt <strong>in</strong> des Grabes Schoß.<br />

5) Ich habe mich ergeben<br />

<strong>in</strong> gleiches Glück und Leid;<br />

was will ich besser leben<br />

als solche großen Leut?<br />

Es muß ja durchgedrungen,<br />

es muß gelitten se<strong>in</strong>;<br />

wer nicht hat wohl gerungen,<br />

geht nicht zur Freud h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>.<br />

6) So will ich zwar nun treiben<br />

me<strong>in</strong> Leben durch die Welt,<br />

doch denk ich nicht zu bleiben<br />

<strong>in</strong> diesem fremden Zelt.<br />

Ich wandre me<strong>in</strong>e Straße,<br />

die zu der Heimat führt,<br />

da mich ohn alle Maße<br />

me<strong>in</strong> Vater trösten wird.<br />

So g<strong>in</strong>g’s den lieben Alten: In zwei nicht mehr im Gesangbuch aufgenommenen Strophen<br />

blickt der Sänger auf Abraham, Isaak und Jakob. Die biblischen Erzväter s<strong>in</strong>d ganz nahe. Ihre<br />

Lebens- und Glaubenserfahrung wird zum Trost und verb<strong>in</strong>det über Zeiten und Orte h<strong>in</strong>weg.<br />

Im Rückblick vergewissert sich das Ich: Ich habe mich ergeben – <strong>in</strong> gleiches Glück und Leid.<br />

Auf e<strong>in</strong>mal leuchtet auch das Glück mit auf und steht <strong>in</strong> Balance zum Leid. Es ist Frucht des<br />

notwendigen heilsamen Durchdr<strong>in</strong>gens: Neben die dunklen Seiten treten <strong>in</strong> der Lebensrückschau<br />

auch die hellen und fröhlichen – dort, wo ausgehalten und nicht geflohen wird. Wer<br />

– 3 –


nicht hat wohl gerungen, geht nicht zur Freud h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>: Wieder leuchtet e<strong>in</strong> Motiv aus den<br />

Gleichnissen Jesu auf – das E<strong>in</strong>gehen der tüchtigen Knechte zur Freude ihres Herrn.<br />

Die Welt ist e<strong>in</strong> fremdes Zelt, ohne dauerhaften Standplatz. Das Leben ist Wanderschaft.<br />

Aber auf e<strong>in</strong>mal hat das Ich die selbstbewusst-fröhliche Führung übernommen und wird nicht<br />

e<strong>in</strong>fach nur getrieben vom Lauf der D<strong>in</strong>ge: So will ich zwar umtreiben me<strong>in</strong> Leben durch die<br />

Welt, doch denk ich nicht zu bleiben <strong>in</strong> diesem fremden Zelt!<br />

Wie der Sohn im Gleichnis plötzlich <strong>in</strong> der tiefsten Not der Fremde se<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> die Hand<br />

nimmt und sich auf den Weg <strong>in</strong>s Haus des Vaters macht, so vollzieht sich <strong>in</strong> unserem Lied der<br />

Umbruch, nachdem durchgerungen und die Anfechtung durchstanden ist: Ich wandre me<strong>in</strong>e<br />

Straße, die zu der Heimat führt, da mich ohn alle Maße, me<strong>in</strong> Vater trösten wird.<br />

Wandern wir mit und stimmen e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Strophen 4 bis 6, um mit <strong>in</strong> diese Bewegung des<br />

Glaubens von der Anfechtung zur Gewissheit gezogen zu werden: EG 529, 4–6<br />

Auslegung III:<br />

Todesheimweh (Gabriele Wohmann)<br />

7) Me<strong>in</strong> Heimat ist dort droben,<br />

da alle Engel Schar<br />

den großen Herrscher loben,<br />

der alles ganz und gar<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Händen träget<br />

und für und für erhält,<br />

auch alles hebt und leget,<br />

wie es ihm wohlgefällt.<br />

8) Zu dem steht me<strong>in</strong> Verlangen,<br />

da wollt ich gerne h<strong>in</strong>;<br />

die Welt b<strong>in</strong> ich durchgangen,<br />

daß ich’s fast müde b<strong>in</strong>.<br />

Je länger ich hier walle,<br />

je wen’ger f<strong>in</strong>d ich Freud,<br />

die me<strong>in</strong>em Geist gefalle;<br />

das meist ist Herzeleid.<br />

9) Die Herberg ist zu böse,<br />

der Trübsaal ist zu viel.<br />

Ach komm, me<strong>in</strong> Gott, und löse<br />

me<strong>in</strong> Herz, wenn de<strong>in</strong> Herz will;<br />

komm, mach e<strong>in</strong> selig’s Ende<br />

an me<strong>in</strong>er Wanderschaft,<br />

und was mich kränkt,<br />

das wende durch de<strong>in</strong>en<br />

Arm und Kraft.<br />

– 4 –


10) Wo ich bisher gesessen,<br />

ist nicht me<strong>in</strong> rechtes Haus.<br />

Wenn me<strong>in</strong> Ziel ausgemessen,<br />

so tret ich dann h<strong>in</strong>aus;<br />

und was ich hier gebrauchet,<br />

das leg ich alles ab,<br />

und wenn ich angehauchet,<br />

so scharrt man mich<br />

<strong>in</strong>s Grab.<br />

Die Heimat ist dort, wo die Engel den großen Herrscher loben. Er hält alle <strong>in</strong> Händen und<br />

verb<strong>in</strong>det Himmel und Erde zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Raum se<strong>in</strong>es Handelns. Er, der Herr, hält es <strong>in</strong><br />

Händen. Ihm gehört auch me<strong>in</strong> Leben. Der Gottesdienst ist e<strong>in</strong>e der Schnittstellen zwischen<br />

unten und oben. Hier steht der Himmel schon offen.<br />

»Zu dem steht me<strong>in</strong> Verlangen, da wollt ich gerne h<strong>in</strong> …«<br />

Die Schriftsteller<strong>in</strong> Gabriele Wohmann spricht vom »Todesheimweh« <strong>Paul</strong> Gerhardts. Der<br />

Glaube wird zur Selbstverständlichkeit und ermöglicht diese Art der Todessehnsucht mit unglaublicher<br />

Bodenhaftung. Noch e<strong>in</strong>mal Gabriele Wohmann: <strong>Paul</strong> Gerhardts Lieder stellen<br />

e<strong>in</strong>e »Mischung aus Lebensaufsässigkeit mit dem Heimweh nach der endlich menschlichen<br />

Freiheit« dar.<br />

Mit der Dauer des Lebensweges steigert sich das Verlangen nach der anderen Heimat. Denn:<br />

»Die Herberg ist zu böse, der Trübsal ist zu viel.« Der Sänger bittet Gott um e<strong>in</strong> Ende der<br />

Wanderschaft – aber er überlässt ihm den Zeitpunkt: »…wenn de<strong>in</strong> Herz will«. Und er bittet<br />

um e<strong>in</strong> seliges Ende der Wanderschaft. Gott möge alles wenden durch se<strong>in</strong>en Arm und Kraft.<br />

Nochmals variiert <strong>Paul</strong> Gerhardt <strong>in</strong> der 10. Strophe das Motiv des nicht dauerhaften Bleibens.<br />

Nun ist es das Bild des Hauses, nicht mehr das des Zeltes. »Wo ich bisher gesessen, ist nicht<br />

me<strong>in</strong> rechtes Haus.« Gottes K<strong>in</strong>der leben <strong>in</strong> vorläufigen Häusern, im Übergang. Wenn ihr Ziel<br />

ausgemessen ist, treten sie h<strong>in</strong>aus. Alles, was hier zum Leben erforderlich ist, kann dann abgelegt<br />

werden.<br />

Strophe 10 verdichtet nochmals die große Gewissheit <strong>in</strong> Gottes Führung im Leben wie im<br />

Sterben. Und vermag beides zusammenzusehen: die Notwendigkeiten des Lebens und die<br />

Schlichtheit se<strong>in</strong>es Endes: »… so scharrt man mich <strong>in</strong>s Grab.« Auch dies wird <strong>in</strong> der Vorstellung<br />

vorweggenommen und ausgehalten.<br />

Stimmen wir e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Strophen 7 bis 10 und treten e<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>Paul</strong> Gerhardts Todesheimweh mit<br />

se<strong>in</strong>er unendlichen Bodenhaftung: EG 529, 7–10.<br />

Auslegung IV:<br />

E<strong>in</strong>e Himmelssehnsucht, die auf Erden gelassener macht<br />

11) Du aber, me<strong>in</strong>e Freude,<br />

du me<strong>in</strong>es Lebens Licht,<br />

du ziehst mich, wenn ich scheide,<br />

h<strong>in</strong> vor de<strong>in</strong> Angesicht<br />

– 5 –


<strong>in</strong>s Haus der ewgen Wonne,<br />

da ich stets freudenvoll<br />

gleich wie die helle Sonne<br />

nebst andern leuchten soll.<br />

12) Da will ich immer wohnen<br />

– und nicht nur als e<strong>in</strong> Gast –<br />

bei denen, die mit Kronen<br />

du ausgeschmücket hast;<br />

da will ich herrlich s<strong>in</strong>gen<br />

von de<strong>in</strong>em großen Tun<br />

und frei von schnöden D<strong>in</strong>gen<br />

<strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Erbteil ruhn.<br />

Gott zieht mich im Scheiden <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Haus, vor se<strong>in</strong> Angesicht. Er ist me<strong>in</strong>es Lebens Licht und<br />

Freude. Mit den anderen soll ich dann <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaft der Erlösten leuchten wie die helle<br />

Sonne.<br />

Es wird dann e<strong>in</strong> dauerhaftes Wohnen se<strong>in</strong> – und nicht mehr nur e<strong>in</strong> Wohnen als e<strong>in</strong> Gast. Ich<br />

werde zu denen gehören, die der Herr mit den Kronen des Lebens schmückt. Ich kann dann<br />

herrlich s<strong>in</strong>gen von Gottes großem Tun. Ich habe me<strong>in</strong> Erbteil erhalten und kann <strong>in</strong> ihm ruhen.<br />

Die Wanderschaft ist zu Ende und erfüllt.<br />

Die ganze Zeit h<strong>in</strong>durch hat uns die ursprünglich von <strong>Paul</strong> Gerhardt vorgesehene Melodie aus<br />

»O Haupt voll Blut und Wunden« geführt und Spuren <strong>in</strong> unserer Seele h<strong>in</strong>terlassen. Auch<br />

wenn »Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Gast auf Erden« <strong>in</strong> unserem Gesangbuch h<strong>in</strong>ten unten der Rubrik »Sterben<br />

und ewiges Leben« zu f<strong>in</strong>den ist, ist es e<strong>in</strong> Lebenslied. Es weckt e<strong>in</strong>e Himmelssehnsucht, die<br />

auf Erden gelassener macht und den D<strong>in</strong>gen des Lebensalltags e<strong>in</strong>en transzendenten Glanz<br />

verleiht – weil alles e<strong>in</strong>gebunden wird <strong>in</strong> Gottes Wirken. Auf ihn ist Verlass.<br />

Stimmen wir zum Abschluss e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Strophen 11 und 12 und lassen die aus ihnen sprechende<br />

Freude überspr<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> unser Leben: EG 529, 11–12.<br />

– 6 –


– 7 –


Sexagesimä, 11.2.07, Hochschulgottesdienst Neuendettelsau-St. Laurentius<br />

Geh aus, me<strong>in</strong> Herz – EG 503 / EKG 371<br />

<strong>Paul</strong>-Gerhardt-Reihe (400. Geburtstag 2007)<br />

Choralvorspiel zu EG 503 und EKG 371;<br />

Strophen 1-3 (Mel.: EG)<br />

„Sommergesang“ – gesungen am 11. Februar 2007. Erste Narzissen habe ich bereits<br />

gesichtet <strong>in</strong> diesem warmen W<strong>in</strong>ter. Sommergesang als Lob der Klimawende?<br />

Wir täten <strong>Paul</strong> Gerhardt unrecht, sängen wir das Lied mit diesem Zweck. Wir<br />

wären nicht die ersten, die es verkürzten. Versuchen wir, es nicht e<strong>in</strong>fach zu<br />

<strong>in</strong>terpretieren; versuchen wir, es für uns zu hören, zu s<strong>in</strong>gen, zu beten; diese<br />

Sommerbilder <strong>Paul</strong> Gerhardts, von dem Rudolf Alexander Schröder sagte: „Es ist<br />

mir immer, als g<strong>in</strong>ge die Sonne auf, wenn der Name <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Gedächtnis tritt...“<br />

<strong>Liebe</strong> <strong>Geme<strong>in</strong>de</strong>!<br />

Viele von uns tragen Bilder schöner Gärten <strong>in</strong> sich. Umfriedete Bereiche, die der<br />

Seele wohltun; blühende, duftende, sonnendurchwärmte Oasen: Sie vor dem <strong>in</strong>nern<br />

Auge, verstehen wir, wie es geme<strong>in</strong>t ist: „Geh aus, me<strong>in</strong> Herz, und suche Freud...“<br />

Die Frage nach der Gartenarbeit tritt dabei <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund. Unser Lied stellt sie<br />

gar nicht. Der Garten me<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit taucht vor mir auf, der e<strong>in</strong>fach da war. Der<br />

schön war durch die Jahreszeiten, und im Sommer besonders. Im Abendlicht<br />

leuchtende Blumen sehe ich vor dem Schatten der Bäume. Und wenn wir <strong>in</strong> Gen 3<br />

lesen, daß Gott der Herr „im Garten g<strong>in</strong>g, als der Tag kühl geworden war“ (3,8),<br />

dann kann ich mir e<strong>in</strong> bißchen vorstellen, wie das Paradies ausgesehen hat.<br />

<strong>Paul</strong> Gerhardt wußte das auch als Sohn e<strong>in</strong>es Bauern aus Gräfenha<strong>in</strong>ichen. Er<br />

kannte Gärten, Scheunen, Ställe, Wald und Wiesen. So erlebte er Gottes Schöpfung.<br />

Er wußte, wie schön sie se<strong>in</strong> kann. Wieviel von Gottes Güte sich dr<strong>in</strong> spiegelt. Mit<br />

neugierig staunenden Augen betrachtet er die Natur, wie Franziskus <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

1


Sonnengesang. Und er erkennt die wunderbaren Schöpferhände Gottes dar<strong>in</strong>. Und<br />

erkennt sie nicht mit analytischem Blick, sondern sich selbst dar<strong>in</strong> als den, der sich<br />

diese Schönheit schenken läßt: „... und siehe, wie sie mir und dir sich<br />

ausgeschmücket haben.“<br />

In diese Schöpfungsfreude muß man sich e<strong>in</strong>üben, ja kann man sich e<strong>in</strong>s<strong>in</strong>gen. 15<br />

Strophen lang macht uns dieser Sommergesang das Angebot dazu. Und wir<br />

brauchen es. Denn wir pendeln oft zwischen der Sehnsucht nach heiler Natur und<br />

e<strong>in</strong>em depressivem Umweltbewußtse<strong>in</strong>. Horrorszenarien umgeben uns im<br />

Augenblick tagtäglich – der milde W<strong>in</strong>ter tut das Se<strong>in</strong>e dazu – und ändern doch<br />

kaum unser Verhalten. Glauben wir aber nicht, für <strong>Paul</strong> Gerhardt wäre das Leben ja<br />

noch viel e<strong>in</strong>facher gewesen. Dazu nachher. Ne<strong>in</strong>, erst e<strong>in</strong>mal wird <strong>in</strong> diesem Lied<br />

geübt, die Schöpferhandschrift Gottes zu erkennen.<br />

S<strong>in</strong>gen: Str. 4 (EG) – Sprechen: Str. 5 – S<strong>in</strong>gen: Str. 6 (EG) – Sprechen: Str. 7 –<br />

S<strong>in</strong>gen: Str. 8 (EG)<br />

Ja, diese Übung verwickelt e<strong>in</strong>en beim Mits<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> all die geschaute Schönheit:<br />

„Ich s<strong>in</strong>ge mit, wenn alles s<strong>in</strong>gt, und lasse, was dem Höchsten kl<strong>in</strong>gt, aus me<strong>in</strong>em<br />

Herzen r<strong>in</strong>nen.“ Und vielleicht haben wir das <strong>in</strong> der 8. Strophe ja schon von Herzen<br />

mitgesungen: „Ich selber kann und mag nicht ruhn, des großen Gottes großes Tun<br />

erweckt mir alle S<strong>in</strong>nen“: Gottes Handschrift <strong>in</strong> der Natur läßt sich erkennen. „Gott<br />

ist <strong>in</strong> jedem Baumblatt“, hat Luther behauptet, dann aber h<strong>in</strong>zugefügt: „aber nicht<br />

zu de<strong>in</strong>em Greifen“. Da müssen uns erst die S<strong>in</strong>ne erweckt werden durch Gottes<br />

großes Tun. Die Augen des Herzens müssen uns aufgehen, damit wir <strong>in</strong> der Natur<br />

Gottes Schöpfung erkennen, die er uns schenkt und noch immer erhält.<br />

E<strong>in</strong>e Wendung tritt nun e<strong>in</strong> mit Str. 9. Sie unterscheidet zwischen „Hier“ und<br />

„Dort“: „Ach, denk ich, bist du hier so schön ... auf dieser armen Erden: was will<br />

doch ... dort <strong>in</strong> dem reichen Himmelszeit ... werden!“ Und wenn es uns hier noch so<br />

lieblich ergeht, ist das doch nur e<strong>in</strong> Vorzeichen für e<strong>in</strong> Dort, für das uns die<br />

treffenden die Worte fehlen. Denn das Hier ist die „arme Erde“. Unter ihrer<br />

Schönheit verbirgt sich viel Abgründiges.<br />

2


An dieser Stelle stieg man oft aus unserem Lied aus und ließ die andern Strophen<br />

weg, wollte nicht sehen, daß es h<strong>in</strong>ter <strong>Paul</strong> Gerhardt Fröhlichkeit diese<br />

schmerzliche Seite gibt. Die Romantik hielt da lieber das Bild vom sonnigen und<br />

heiteren <strong>Paul</strong> Gerhardt hoch. Ihr verdanken wir auch die volksliedhafte Melodie<br />

von August Harder im EG. Der Sommergesang als lyrische Beruhigungspille?, so<br />

hat jemand gefragt.<br />

Gedichtet ist er als Hoffnungshilfe! Die Bilder von hier lassen uns ahnen, worauf<br />

h<strong>in</strong> wir leben. Sie zeigen uns e<strong>in</strong>en zweiten Garten, Christi Garten <strong>in</strong> Strophe 10.<br />

Dort wird es erst wirklich schön! Und erst dort kommt Gottes Schöpfung zu ihrer<br />

Vollendung.<br />

Beide Gärten gehören zusammen, Christi Garten und die Schönheit, die uns hier<br />

begegnet. Und vom künftigen Garten fällt erst das Licht auf den gegenwärtigen.<br />

Weil am Ende die Rede von der „armen Erde“ nicht mehr zutreffen wird, bes<strong>in</strong>gen<br />

wir im Glauben schon jetzt ihren Reichtum. Wir verdrängen nicht, wie die Natur an<br />

allen Ecken und Enden verarmt und ausgeplündert wird. Und s<strong>in</strong>gen doch schon<br />

von ihrer Zukunft, von Gottes Zukunft.<br />

Mit welcher Melodie tut man das? Dieses Lied hat schon die unterschiedlichsten<br />

erlebt. Die im alten EKG abgedruckte aus dem 16. Jh. führte eher e<strong>in</strong><br />

Schattendase<strong>in</strong>. Die romantischen Bedürfnisse waren e<strong>in</strong>fach stärker, wie es das EG<br />

auch zeigt. Auch wenn dabei <strong>Paul</strong> Gerhardts Vermaß gestört wird durch die<br />

Verdoppelung der Schlußzeile <strong>in</strong> jeder Strophe. Ich frage mich, ob nicht die viel<br />

ältere Melodik die beiden Gärten besser zu verb<strong>in</strong>den weiß; ob sie nicht besser paßt<br />

zu Christi Garten und zum Psalmengesang der Engel vor Gottes Thron? Je öfter ich<br />

sie höre und s<strong>in</strong>ge, desto mehr nimmt die alte Melodie mich mit mit ihrem<br />

tänzerischen Takt. Versuchen wir es doch mit ihr. S<strong>in</strong>gen wir ihn mit, den Wunsch<br />

nach dem schönen Himmel, <strong>in</strong> dem alles zum Ziel gebracht wird.<br />

Strophe 9-11 (Mel.: EKG)<br />

Und doch, diese schmerzliche Unterseite des Liedes. <strong>Paul</strong> Gerhardt dichtet und übt<br />

sich im Staunen über die Schöpfung und <strong>in</strong> der Hoffnung auf die Vollendung. Und<br />

3


lebt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit, wo ihm und vielen Menschen das Letzte abhanden zu kommen<br />

droht: „... weil ich noch hier trage dieses Leibes Joch“, heißt es <strong>in</strong> Strophe 12. Als die<br />

erste Tochter mit acht Monaten gestorben ist, soll er das Lied der Mutter Anna<br />

Maria besonders empfohlen haben: „Geh aus, me<strong>in</strong> Herz ...“, bleib nicht bei dir<br />

selbst und de<strong>in</strong>em Kummer! Der schreckliche Krieg ist offiziell gerade fünf Jahre<br />

vorbei, nicht aber se<strong>in</strong>e Folgen: Das Heimatdorf ist niedergebrannt, der Bruder an<br />

der Pest gestorben, Hunger regiert die Tage: „ihr vormals schönen Felder, mit<br />

frischer Saat bestreut, jetzt aber lauter Wälder und dürre, wüste Heid ...“ (EKG<br />

392,4) dichtet er, was er sieht. Nur <strong>in</strong> ganz kle<strong>in</strong>en Zwischenrufen hören wir das<br />

Elend der geplagten Schöpfung durch die Strophen des Sommergesangs h<strong>in</strong>durch.<br />

In anderen Liedern wird es vernehmlicher. Es muß auch nicht immerzu meditiert<br />

werden.<br />

Oft ist die Not aber auch stumm oder fast wortlos.<br />

Manchmal macht sie auch das Weiters<strong>in</strong>gen schwer:<br />

„Geh aus, me<strong>in</strong> Herz, und suche Leid<br />

<strong>in</strong> dieser lieben Sommerzeit<br />

an de<strong>in</strong>es Gottes Gaben.<br />

Schau an der schönen Gifte Zier<br />

und siehe, wie sie hier und mir<br />

sich aufgereihet haben. ...<br />

Die unverdroßne Bienenschar<br />

nimmt summend ihren Auftrag wahr<br />

und nascht an jeder Blüte.<br />

Mir brummt der Kopf, mir taubt die Hand,<br />

statt süßem Duft füllt wüster Sand<br />

mir Seele und Gemüte. ..<br />

Ich selber möchte nichts als ruhn.<br />

Des großen Gottes großes Tun<br />

ist für mich schlicht Getue.<br />

Ich schweige still, wo alles s<strong>in</strong>gt<br />

und lasse ihn, da Zorn nichts br<strong>in</strong>gt,<br />

nun me<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong> Ruhe.<br />

4


So Robert Gernhardt, Dichter und Komik-Texter, während se<strong>in</strong>er<br />

Chemoptherapie.<br />

Gernhardt wird Gerhardt nicht los und kann ihm doch nicht mehr folgen, kann<br />

nicht mehr lobs<strong>in</strong>gen. Ne<strong>in</strong>, es ist nicht von vornhere<strong>in</strong> ausgemacht, daß e<strong>in</strong>er<br />

„unter des Leibes Joch“ nicht doch verstummt und se<strong>in</strong> Herz vom Lob Gottes<br />

zurückzieht.<br />

Werden wir <strong>in</strong> den Krisen unseres Lebens dabei bleiben: „me<strong>in</strong> Herze soll sich fort<br />

und fort an diesem und an allem Ort zu de<strong>in</strong>em Lobe neigen“?<br />

Wir sprechen Str. 12 geme<strong>in</strong>sam, und s<strong>in</strong>gen sie dann zweimal, erst nach der alten,<br />

dann nach der neueren Melodie. Wir achten dabei darauf, wie es für uns besser<br />

paßt.<br />

Str. 12 sprechen – Str. 12 s<strong>in</strong>gen (Mel.: EG) – Str. 12 s<strong>in</strong>gen (Mel.: EKG)<br />

Vielleicht haben wir gemerkt: Der Vorsatz „Ich will“ aus Str. 12 ist groß<br />

dimensioniert. Er braucht Kraft von außen. Ohne Gottes Segen ist er verwegen. Den<br />

Sommer kann ke<strong>in</strong>er von sich aus <strong>in</strong> sich ausrufen. Und daß der Glaube sich <strong>in</strong><br />

unserem Leben als fruchtbar erweist, kann man sich schon vornehmen. Es zu üben<br />

ist etwas anderes.<br />

Ne<strong>in</strong>, <strong>Paul</strong> Gerhardt verspricht ke<strong>in</strong> Christenleben auf e<strong>in</strong>er rosaroten Wolke. Er<br />

zeigt, wo es e<strong>in</strong>e stille Kraft zum Tragen dessen gibt, was wir hier nicht ändern<br />

können. Und das ist für ihn nicht denkbar ohne den anderen Garten. Am Ende<br />

se<strong>in</strong>es Lebens, im Jahr 1676, empfiehlt er se<strong>in</strong>em 13jährigen Sohn <strong>Paul</strong> Friedrich:<br />

„...bleibe <strong>in</strong> de<strong>in</strong>em Glauben und Bekenntnis beständig, so wirst du auch e<strong>in</strong>mal<br />

sterben und von dieser Welt scheiden willig, fröhlich uns seliglich.“ (Rößler,<br />

Liedermacher im Gesangbuch 2, 43) Und im Rückblick auf se<strong>in</strong> Leben schreibt er<br />

zuerst: „So danke ich Gott zuvörderst für alle se<strong>in</strong>e Güte und Treue.“ Das ist se<strong>in</strong><br />

Blick für die D<strong>in</strong>ge, der sich im Lob erneuert hat; der durch alle Brüche des Lebens<br />

h<strong>in</strong>durchschaut auf den anderen Garten, auf den er zulebt und -stirbt: „Ich werde<br />

mit allen Me<strong>in</strong>igen ... wieder erwachen und me<strong>in</strong>en lieben Herrn Jesum Christum<br />

schauen.“ (Bunners, GAGF 2/06, 20).<br />

5


Gabriele Wohmann nennt das den „speziellen <strong>Paul</strong>-Gerhardt-Optimismus“ und<br />

bekennt: „Se<strong>in</strong>e Strophen illum<strong>in</strong>ieren mich immer wieder mit ihrer Mischung aus<br />

Lebensaufsässigkeit und Ewigkeitszuversicht mit dem Heimweh nach der endlich<br />

unendlichen Freiheit.“ (ZZ 1/07, 27). Und <strong>Paul</strong> Gerhardt selbst schreibt für se<strong>in</strong>en<br />

Sohn, falls er nur wenige gute Tage erleben sollte: „da weiß der liebe Gott schon Rat<br />

zu und kann die äußerliche Trübsal mit <strong>in</strong>niglicher Herzenslust und Freudigkeit<br />

des Geistes genugsam ersetzen ...“ (Rößler, 42)<br />

Ab Strophe 11 ist das Lied e<strong>in</strong> Gebet. Wir halten etwas <strong>in</strong>ne und lesen die Strophen<br />

13 bis 15 betend still für uns.<br />

-.-<br />

Nun s<strong>in</strong>gen wir abschließend Str. 13-15:<br />

Str. 13 (Mel.: EKG) – Str. 14 (Mel.: EG) – Str. 15 (Mel.: EKG)<br />

Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und S<strong>in</strong>ne<br />

<strong>in</strong> Christus Jesus. Amen.<br />

Pfarrer PD Dr. Christian Eysele<strong>in</strong><br />

Dozent am Studiensem<strong>in</strong>ar<br />

Pfarrverwalter<strong>in</strong>nen- und Pfarrverwalterausbildung<br />

der Augustana-Hochschule<br />

6

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!