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Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier ...

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Wochenspruchauslegung am 21.06.2004<br />

„<strong>Hier</strong> <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> <strong>Jude</strong> <strong>noch</strong> <strong>Grieche</strong>, <strong>hier</strong> <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> <strong>Sklave</strong> <strong>noch</strong> <strong>Freier</strong>, <strong>hier</strong> <strong>ist</strong><br />

<strong>nicht</strong> Mann <strong>noch</strong> Frau; denn ihr seid allesamt einer in Chr<strong>ist</strong>us Jesus.“<br />

(Gal 3,28)<br />

Liebe Hochschulgemeinde,<br />

von einem schwarzen Prediger, dessen Bücher Martin Luther King immer mit sich trug, wird<br />

folgende Geschichte überliefert: „Während meiner Knabenzeit kümmerte sich meine Großmutter<br />

viel um mich. Sie war als Sklavin geboren und lebte bis zum Bürgerkrieg auf einer<br />

Plantage in Florida. Zu meinen regelmäßigen Pflichten gehörte es, alles Lesen für meine<br />

Großmutter zu übernehmen − sie konnte weder lesen <strong>noch</strong> schreiben. Zwei- oder dreimal in<br />

der Woche las ich ihr aus der Bibel vor. Es machte mir einen tiefen Eindruck, wie äußerst<br />

sorgfältig sie war in der Auswahl der Heiligen Schrift. Z.B. las ich ihr immer wieder aus den<br />

Psalmen vor, manches aus Jesaja, wieder und wieder die Evangelien. Aber die paulinischen<br />

Briefe niemals − ausgenommen nur das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes. Meine Neugier,<br />

sie zu fragen, wurde immer größer, aber es war <strong>nicht</strong> üblich, sie über irgend etwas zu befragen.<br />

Als ich älter geworden war fragte ich sie eines Tages mit einem Gefühl großer Kühnheit,<br />

warum sie mich <strong>nicht</strong>s aus den Briefen des Paulus lesen ließ. „In den Tagen der <strong>Sklave</strong>rei“,<br />

sagte sie, „hielt der Pfarrer des <strong>Sklave</strong>nherrn gelegentlich Gottesdienste für die <strong>Sklave</strong>n ab.<br />

Der weiße Pfarrer predigte immer wieder über Texte von Paulus, z.B. über diesen: ,Ihr <strong>Sklave</strong>n<br />

seid gehorsam denen gegenüber, die eure Herren sind … wie Chr<strong>ist</strong>us gegenüber. Dann<br />

ging er zu ihnen hin und zeigte, daß es Gottes Wille war, daß wir <strong>Sklave</strong>n wären und wie Gott<br />

uns segnen würde, wenn wir gute und glückliche <strong>Sklave</strong>n seien. Ich versprach meinem Schöpfer,<br />

daß − falls ich jemals die Freiheit erleben sollte −, ich diesen Teil der Bibel niemals lesen<br />

würde.“<br />

Ich weiß <strong>nicht</strong>, ob die Großmutter jenes schwarzen Predigers den Satz aus dem 3. Kapitel des<br />

Galaterbriefes <strong>noch</strong> in ihrem Leben gehört hat, der der Wochenspruch für uns in dieser begonnenen<br />

Woche sein soll: „<strong>Hier</strong> <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> <strong>Jude</strong> <strong>noch</strong> <strong>Grieche</strong>, <strong>hier</strong> <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> Knecht <strong>noch</strong><br />

<strong>Freier</strong>, <strong>hier</strong> <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> Mann <strong>noch</strong> Frau; denn ihr seid alle eins in Chr<strong>ist</strong>us Jesus.“<br />

Freiheit <strong>ist</strong> das zentrale theologische Thema des Galaterbriefes und mit diesem Begriff der<br />

eleutheria wird die Situation der an Chr<strong>ist</strong>us Glaubenden vor Gott und in der Welt zusammenfassend<br />

ausgedrückt. „Zur Freiheit hat uns Chr<strong>ist</strong>us befreit … laßt euch <strong>nicht</strong> wieder in das<br />

Joch der <strong>Sklave</strong>rei spannen. Zur Freiheit seid ihr berufen.“ Wegen dieser klaren Sätze dürfte<br />

wohl kein schwarzer Prediger die alte Sklavin aus Florida belehren. Er hätte ja vielleicht die<br />

ganze Bibel lesen können und dabei die Entdeckung gemacht, daß Freiheit von allen Menschen<br />

gemachten Zwängen ihr großes und zentrales Thema <strong>ist</strong>. Immer wieder haben Menschen<br />

mit Texten aus dem Alten und Neuen Testament ihre große Sehnsucht nach Freiheit<br />

und Befreiung bestätigt gefunden, weil Gott selbst es <strong>ist</strong>, der sich den Menschen immer wieder<br />

zuwendet trotz ihrer Abwendung von ihm und sie aus ihren selbstgemachten oder erlittenen<br />

Käfigen herausführt und ihnen an seiner Gemeinschaft Anteil gibt. Freilich muß man<br />

auch die andere Seite wahr- und ernstnehmen, daß es immer wieder Menschen gegeben hat<br />

und gibt, die mit Hilfe der Bibel Ungleichheit und Unterdrückung rechtfertigen, die Geschlechts-,<br />

Rassen- und Religionsunterschiede zu Herrschaftszwecken ausbeuten und verewi-


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gen wollen. Wie alle Texte der Weltreligionen, so <strong>ist</strong> auch die Bibel vor diesem Mißbrauch<br />

<strong>nicht</strong> geschützt.<br />

Der Jubel der Befreiten durchklingt den ganzen Galaterbrief. Er bestimmt das Taufversprechen<br />

derer, die zum Glauben gekommen waren und die nun bekennen: „In Chr<strong>ist</strong>us gilt <strong>nicht</strong><br />

<strong>Jude</strong> <strong>noch</strong> <strong>Grieche</strong>, <strong>nicht</strong> <strong>Sklave</strong> <strong>noch</strong> <strong>Freier</strong>, <strong>nicht</strong> männlich und weiblich, wir sind alle eins<br />

in Chr<strong>ist</strong>us.“ Alle Getauften sind untereinander eins geworden. Ethnische und religiöse Unterschiede<br />

zwischen <strong>Jude</strong>n und <strong>Grieche</strong>n, Beschnittenen und Unbeschnittenen, gelten <strong>nicht</strong><br />

mehr. Im sozialen Bereich gibt es den Unterschied zwischen <strong>Sklave</strong>n und Freien <strong>nicht</strong> mehr,<br />

ja <strong>nicht</strong> einmal die Geschlechtsunterschiede haben irgendwelche Bedeutung. Man wird <strong>nicht</strong><br />

darauf getauft, Mann oder Frau zu sein. Die Taufe, diese Dramaturgie der Freiheit, wird im<br />

Galaterbrief wie sonst bei Paulus mit vielen eindrücklichen Bildern und Begriffen geschildert.<br />

Ob es um das Anziehen Chr<strong>ist</strong>i geht oder ob die Einheit in Chr<strong>ist</strong>us mit den vielen gleich<br />

wichtigen Gliedern an seinem Leibe oder das Wohnen seines Ge<strong>ist</strong>es in den einzelnen Gläubigen<br />

beschrieben wird − immer geht es um Gleichheit und Gemeinschaft, wodurch Ungleichheit,<br />

aus der alle Ungerechtigkeiten entstehen, für die Glaubenden und mit Chr<strong>ist</strong>us<br />

Vereinten − auch wenn die Unterschiede in dieser Weltzeit weiterbestehen − keine entscheidende<br />

Bedeutung mehr haben. Die Wendung „die Unterschiede haben für die Glaubenden<br />

keine entscheidende Bedeutung mehr“ <strong>ist</strong> der große Störfaktor inmitten dieses großartigen<br />

Manifestes der Freiheit! Jahrhunderte lang haben Exegeten sich Mühe gegeben, die sozialen,<br />

revolutionären Konsequenzen dieser paulinischen Sätze abzuschwächen. Noch heute wird<br />

einem durch gelehrte exegetische Abhandlungen versichert, man müsse diese Sätze streng<br />

theologisch nehmen. Aber was heißt das? Wie sieht diese strenge Theologie aus? Sehr schnell<br />

entpuppt sie sich als eine ganz billige Trennungslehre, was in der Welt und was vor Gott geschieht.<br />

Vor Gott solle gewiß volle Gleichheit herrschen, aber eine andere Sache sei es damit<br />

in äußerer, weltlicher Hinsicht. In einem sog. tieferen Verständnis gäbe es Gleichheit vor<br />

Gott, vielleicht <strong>noch</strong> vor dem Tod, dem großen Gleichmacher, aber <strong>nicht</strong> bezogen auf die<br />

Welt und ihre Ungleichheit. Macht, Besitz und Privilegien bleiben dort, wo sie immer schon<br />

waren. Wenn man mit der strengen Theologie <strong>nicht</strong> weiterkommt, dann stellt sich das Zauberwort<br />

„eschatologisch“ ein. Es eignet sich wunderbar zur Zähmung der Freiheit. Die wahr<br />

Freiheit sollte mit dem Ausblick auf die <strong>noch</strong> ausstehende Vollendung und das kommende<br />

Reich Gottes radikalisiert werden, aber machen wir uns <strong>nicht</strong>s vor, in Wirklichkeit entschwebt<br />

sie damit den irdischen Gefilden.<br />

Mit einigen Streiflichtern auf die Kirchengeschichte möchte ich diesen gewaltigen Satz aus<br />

dem Galaterbrief ein wenig zu illustrieren versuchen. Und <strong>hier</strong>bei stehen wir <strong>nicht</strong> in Gefahr,<br />

uns aus dem Irdischen zu entfernen. Die Geschichte <strong>ist</strong> etwas sehr Menschliches und Irdisches,<br />

und <strong>nicht</strong> zuletzt die Kirchen- und Chr<strong>ist</strong>entumsgeschichte. Was nehmen wir wahr?<br />

Die Gemeinden des frühen Chr<strong>ist</strong>entums waren tatsächlich Gemeinschaften von Gleichen,<br />

Frauen wie Männer, <strong>Jude</strong>nchr<strong>ist</strong>en und Heidenchr<strong>ist</strong>en, Besitzende und <strong>Sklave</strong>n − sie waren<br />

in einem Glauben an Jesus Chr<strong>ist</strong>us vereint. Das heißt <strong>nicht</strong>, daß diese Gemeinschaften ohne<br />

Konflikte gewesen wären, ganz im Gegenteil, solche Idealisierungen sind <strong>hier</strong> gewiß <strong>nicht</strong> am<br />

Platz. Aber es <strong>ist</strong> eben doch wichtig, zu sehen, daß <strong>nicht</strong> erst die Französische Revolution,<br />

sondern schon der Galaterbrief die grundlegende Einsicht geschaffen hat, daß die Grundlage<br />

der Freiheit die gleichrangige Gemeinschaft <strong>ist</strong>. Ohne egalité keine liberté! Bestehende Ordnungen<br />

wie die Überordnung einer Rasse, eines Geschlechtes, einer Wirtschaftsform, die<br />

<strong>Sklave</strong>n brauchte, um zu funktionieren, waren im Bannkreis des Chr<strong>ist</strong>entums entmächtigt. Es


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drängte die Menschen nach ganzheitlicher, eben auch sozialer Veränderung. Und <strong>nicht</strong> zuletzt<br />

war dies die Hauptanziehungskraft der chr<strong>ist</strong>lichen Mission. In der Gemeinschaft mit Chr<strong>ist</strong>us<br />

sollte das neue Sein sichtbar werden, wenigstens <strong>hier</strong> sollte die Macht <strong>nicht</strong> <strong>hier</strong>archisch,<br />

durch ewige Ungleichheit befestigt werden. Daneben steht freilich die gewaltige Macht der<br />

überkommenen Traditionen menschlichen Zusammenlebens, wo es stets ein Oben und ein<br />

Unten gibt. Schon sehr bald <strong>ist</strong> der Bischof der wesentliche Repräsentant der chr<strong>ist</strong>lichen<br />

Gemeinde, und im Zusammenhang mit der Konstantnischen Wende wird im späten 4. Jahrhundert<br />

der Klerikerstand immer mehr von den andern Chr<strong>ist</strong>en abgehoben, durch die Weihe<br />

bekommt der Priester einen unverlierbaren Charakter und auch der Verzicht auf Ehe breitet<br />

sich immer mehr aus. Durch das ganze Mittelalter hindurch entwickeln sich die <strong>Hier</strong>archien<br />

sowohl im ge<strong>ist</strong>lichen wie im weltlichen Bereich zu immer differenzierteren Gebilden.<br />

Daneben aber steht das Mönchtum als wahres Chr<strong>ist</strong>entum, die monastischen Reformbewegungen<br />

und die Armutsbewegung, die religiöse Frauenbewegung, das Beginentum, mystische<br />

Gemeinschaften, die unseren Vers aus dem Galaterbrief <strong>nicht</strong> nur theoretisch ernst nahmen,<br />

sondern in der Tat auch vielfältig praktisch lebten. Und <strong>nicht</strong> zuletzt der junge Martin Luther,<br />

der seine Briefe nach seiner reformatorischen Entdeckung mit eleutherius, d.h. ein <strong>Freier</strong>,<br />

unterzeichnete. Sein Traktat von der „Freiheit eines Chr<strong>ist</strong>enmenschen“ und seine Proklamation<br />

eines allgemeinen Priestertums aller Gläubigen, d.h. Getauften, sind gewaltige Manifeste<br />

chr<strong>ist</strong>licher Freiheit, die damals durch die ganze Chr<strong>ist</strong>enheit gingen und seitdem ein Schatz<br />

aller Kirchen, wahrlich <strong>nicht</strong> nur der reformatorischen, bedeutet. Aber wie <strong>ist</strong> schon Luther<br />

selbst damit umgegangen und wie <strong>ist</strong> dann in der Reformationsgeschichte und der ganzen<br />

neueren Kirchengeschichte mit diesem Schatz umgegangen worden? Massiv kamen sehr bald<br />

wieder die Gesetze der Macht dieser Welt zum Zuge und drängten z.B. die Gemeinschaften<br />

der Täufer und andere Seitenbewegungen der Reformation zurück. Aber auch in der evangelischen<br />

Kirchengeschichte gibt es immer wieder auch die andere Seite, denken wir nur an<br />

die einzige Kirchenbildung des deutschen Pietismus, die Herrnhuter Brüdergemeine. Nicht<br />

erst im Tod, wo auf einem Herrnhuter Friedhof jedes Grab dem anderen gleicht, sondern<br />

durchaus schon in diesem Leben gibt es eine praktizierte Gemeinschaft der Gläubigen, wie sie<br />

z.B. in einer Herrnhuter Abendmahlsfeier zum Ausdruck kommt. Auch in unserer Gegenwart<br />

gibt es manche verheißungsvollen Ansätze, die Gemeinschaft der Glaubenden im Sinne dieses<br />

Wortes aus dem Galaterbrief <strong>nicht</strong> nur theoretisch zu bekennen, sondern auch in den verschiedenen<br />

Lebensäußerungen praktisch werden zu lassen. Im Leben der Gemeinden, auf Kirchentagen,<br />

in Synoden oder in Kommunitäten − die durch die Taufe bewirkte wirkliche Gemeinschaft<br />

der unterschiedlichen Gaben am Leibe Chr<strong>ist</strong>i und die daraus folgende Freiheit, <strong>ist</strong><br />

auch gegenüber unzähligen Widerständen in unserer Zeit <strong>nicht</strong> versiegt. Sie <strong>ist</strong> auch eine wesentlich<br />

Kraftquelle in den ökumenischen Beziehungen unserer Zeit, auch wenn viele andere<br />

Zeitzeichen dagegen zu stehen scheinen.<br />

Der Vers aus dem Galaterbrief <strong>ist</strong> <strong>nicht</strong> eine wirklichkeitsferne Vision. Sie hat in der Geschichte<br />

des Chr<strong>ist</strong>entums vielfältige Verwirklichung gefunden, und wir wünschen und hoffen<br />

uns, daß wir selbst in diese Geschichte eingebunden werden und unseren bescheidenen Beitrag<br />

dazu le<strong>ist</strong>en. Amen!

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