Predigt von stud. theol. Rahel Kießecker

Predigt von stud. theol. Rahel Kießecker Predigt von stud. theol. Rahel Kießecker

29.12.2013 Aufrufe

Seminarpredigt zu Lk 6,36-42 am 05.07.2009 in der St. Laurentiuskirche (von stud. theol. Rahel Kießecker) Liebe Gemeinde, Er zog einfach los, direkt ins Villenviertel, das hinter den Kliniken lag. Es war noch eine Weile hin, bis er wieder bei seiner Frau sein konnte. „Schon erstaunlich“, dachte er so bei sich, wie selten er in dieser Gegend war, obwohl er in dieser Stadt nun schon seit einigen Jahren lebte. Dabei war es sehr schön hier oben: Entlang der Straßen, die von ehrwürdigen Bäumen gesäumt waren, ragten stattliche Villen aus dem vorletzten Jahrhundert in den Himmel. Er überließ es dem Weg selbst, wo er ihn hinführen wollte, und folgte ihm, in blindem Vertrauen, um auf andere Gedanken zu kommen. Die Villen zeugten von einer langen Geschichte gut situierter Familien. Auch heute noch sprachen die Firmentafeln aus Kupfer und Plexiglas für diese Gegend: Zahlreich waren sie an den Hauswänden angebracht, mit den Namen von Steuerberatern, Rechtsanwälten und Therapeuten aller Art. Ohne Zweifel, es war eine gefragte Adresse. Für einen Moment überkam ihn das Gefühl, dass er damals doch auf seinen Vater hätte hören, und Jura oder Betriebswirtschaft studieren sollen. Sein Vater hatte es bis heute nicht verstanden, dass er einen sozialen Beruf ergriffen hatte. Doch er bereute diesen Entschluss nicht. Schließlich gab es einem viel, wenn die Patienten dankbar waren. Jetzt, Jahre später, stand seine Entscheidung nicht mehr trennend zwischen ihnen. Die Zeit heilt eben Wunden! Wie es wohl aussehen würde, wenn sein Name auf einer der Tafeln gestanden hätte, dachte er und musste schmunzeln. Was waren es für Leute, die hier lebten? Sie mussten Geld haben. Er sah eine Corvette in einer Einfahrt stehen. Ein Jaguar stand in der nächsten. Die sorgfältig gepflegten Vorgärten luden dazu ein, stehen zu bleiben. Er betrachtete die Balkone, die teilweise wie kleine Kunstwerke gestaltet waren und ging wieder weiter. Mitten zwischen zwei großen Anwesen, stand ein etwas kleineres Häuschen mit blauen Fensterläden. „Kirschen?“ rief eine Stimme aus dem Baum, unter dem er stand. Er blickte nach oben und sah einen rotbackigen Jungen im Kirschbaum sitzen. Drei weitere Kinder saßen um einen kleinen Tisch herum, und waren gerade dabei, ansprechende Reklameschilder zu malen. Geschäftstüchtig und erwartungsvoll schauten sie auf. Er war fast erleichtert, dass hier, für seine Begriffe, ganz normale Kinder mit ganz normalen Spielgewohnheiten wohnten und entschied sich für 300g. Sichtbar erfreut über die lang erwartete Kundschaft befüllten sie zu dritt die Waagschale einer alten Küchenwaage, gaben noch ein paar Kirschen dazu, nahmen wieder welche weg. Eines hatten sie in dieser Gegend schon gelernt, dachte er und grinste. Bloß nichts verschenken! Einer reichte ihm die randvoll gefüllte Tüte und streckte ihm die andere Hand entgegen: „Wer gibt, dem wird gegeben“, sagte der Junge keck und warf den anderen einen triumphierenden

Seminarpredigt zu Lk 6,36-42 am 05.07.2009 in der St. Laurentiuskirche (<strong>von</strong> <strong>stud</strong>. <strong>theol</strong>.<br />

<strong>Rahel</strong> <strong>Kießecker</strong>)<br />

Liebe Gemeinde,<br />

Er zog einfach los, direkt ins Villenviertel, das hinter den Kliniken lag. Es war noch eine<br />

Weile hin, bis er wieder bei seiner Frau sein konnte. „Schon erstaunlich“, dachte er so bei<br />

sich, wie selten er in dieser Gegend war, obwohl er in dieser Stadt nun schon seit einigen<br />

Jahren lebte. Dabei war es sehr schön hier oben: Entlang der Straßen, die <strong>von</strong> ehrwürdigen<br />

Bäumen gesäumt waren, ragten stattliche Villen aus dem vorletzten Jahrhundert in den<br />

Himmel.<br />

Er überließ es dem Weg selbst, wo er ihn hinführen wollte, und folgte ihm, in blindem<br />

Vertrauen, um auf andere Gedanken zu kommen.<br />

Die Villen zeugten <strong>von</strong> einer langen Geschichte gut situierter Familien. Auch heute noch<br />

sprachen die Firmentafeln aus Kupfer und Plexiglas für diese Gegend: Zahlreich waren sie an<br />

den Hauswänden angebracht, mit den Namen <strong>von</strong> Steuerberatern, Rechtsanwälten und<br />

Therapeuten aller Art.<br />

Ohne Zweifel, es war eine gefragte Adresse.<br />

Für einen Moment überkam ihn das Gefühl, dass er damals doch auf seinen Vater hätte hören,<br />

und Jura oder Betriebswirtschaft <strong>stud</strong>ieren sollen.<br />

Sein Vater hatte es bis heute nicht verstanden, dass er einen sozialen Beruf ergriffen hatte.<br />

Doch er bereute diesen Entschluss nicht. Schließlich gab es einem viel, wenn die Patienten<br />

dankbar waren.<br />

Jetzt, Jahre später, stand seine Entscheidung nicht mehr trennend zwischen ihnen. Die Zeit<br />

heilt eben Wunden!<br />

Wie es wohl aussehen würde, wenn sein Name auf einer der Tafeln gestanden hätte, dachte er<br />

und musste schmunzeln.<br />

Was waren es für Leute, die hier lebten? Sie mussten Geld haben. Er sah eine Corvette in<br />

einer Einfahrt stehen. Ein Jaguar stand in der nächsten.<br />

Die sorgfältig gepflegten Vorgärten luden dazu ein, stehen zu bleiben. Er betrachtete die<br />

Balkone, die teilweise wie kleine Kunstwerke gestaltet waren und ging wieder weiter.<br />

Mitten zwischen zwei großen Anwesen, stand ein etwas kleineres Häuschen mit blauen<br />

Fensterläden. „Kirschen?“ rief eine Stimme aus dem Baum, unter dem er stand. Er blickte<br />

nach oben und sah einen rotbackigen Jungen im Kirschbaum sitzen. Drei weitere Kinder<br />

saßen um einen kleinen Tisch herum, und waren gerade dabei, ansprechende Reklameschilder<br />

zu malen. Geschäftstüchtig und erwartungsvoll schauten sie auf. Er war fast erleichtert, dass<br />

hier, für seine Begriffe, ganz normale Kinder mit ganz normalen Spielgewohnheiten wohnten<br />

und entschied sich für 300g.<br />

Sichtbar erfreut über die lang erwartete Kundschaft befüllten sie zu dritt die Waagschale einer<br />

alten Küchenwaage, gaben noch ein paar Kirschen dazu, nahmen wieder welche weg. Eines<br />

hatten sie in dieser Gegend schon gelernt, dachte er und grinste. Bloß nichts verschenken!<br />

Einer reichte ihm die randvoll gefüllte Tüte und streckte ihm die andere Hand entgegen: „Wer<br />

gibt, dem wird gegeben“, sagte der Junge keck und warf den anderen einen triumphierenden


Blick zu! Während die Kinder noch das Geld in die leere Margarinedose zählten, war er schon<br />

wieder ein paar Häuser weiter.<br />

Sein Weg führte ihn langsam bergab und er kannte sich allmählich wieder aus. Grob steuerte<br />

er die Richtung in den Stadtpark an.<br />

An der Fußgängerbrücke standen zwei Mitarbeiter einer Wohltätigkeitsorganisation. Sie<br />

hielten je eine Spendenbüchse in der Hand und baten die Vorübergehenden, ihren Zehnten für<br />

krebskranke Kinder zu spenden.<br />

„Wer gibt, dem wird gegeben“, sagte er sich und dachte dabei an die Kirschenkinder.<br />

Während er den Fünfer in den Schlitz der Blechdose stopfte, fühlte er sich irgendwie<br />

großartig. Sollten die anderen Passanten doch sehen, dass er da nicht so ist, und das, obwohl<br />

er es jetzt auch nicht so üppig hatte … .<br />

Er dachte an seine Frau und schaute auf die Uhr. In einer Stunde durfte er frühestens wieder<br />

bei ihr sein.<br />

„Kann man etwas als Gegenleistung dafür erwarten, dass man einen Fünfer für krebskranke<br />

Kinder gibt?“ Er erschrak über die abgründige Idee, durch sein Verhalten das Wohlergehen<br />

seiner Frau beeinflussen zu wollen. Seine Gedanken glitten wieder zu den Villen.<br />

Gab es dort, hinter den mächtigen, steinernen Fassaden auch Leid? Oder herrschte dort genau<br />

die Sicherheit, die sie ausstrahlten?<br />

Er setzte sich auf eine Parkbank.<br />

Erst jetzt fiel ihm auf, dass er so gut wie keinen gesehen hatte, in den Gärten der Villen – was<br />

machte ihn sicher, dass dort das Leben in Ordnung war? Aber selbst wenn es so sein sollte,<br />

dass es dort weder Krankheit noch anderes Leid gab, könnte er es diesen Menschen doch auch<br />

nicht missgönnen, nur weil sie dazu offensichtlich auch noch Geld hatten.<br />

Ein Mann, der ihm auf einer Parkbank gegenüber saß, sah müde aus. Er war noch jung, kaum<br />

älter als er. Ob er wohl arbeitslos war, überlegte er sich und musterte ihn. Wer mitten am<br />

Nachmittag hier herum saß, ging wohl keiner geregelten Arbeit nach. Nun gut, er selbst saß ja<br />

auch hier, aber er hatte auch seine guten Gründe.<br />

Eine ältere Frau ging an ihm vorüber, gebeugt und schwer atmend schob sie einen ebenfalls<br />

älteren Mann im Rollstuhl vor sich her. Angestrengt tat sie einen Fuß vor den anderen. Sie<br />

schien nur den Weg vor sich zu sehen. Wer gibt, dem wird gegeben, ging ihm wieder durch<br />

den Kopf. Hatten sie beide ein schlechteres Leben als andere geführt, weil sie sich im Alter so<br />

quälen mussten? So nach dem Motto: Wer nicht gibt, dem wird nicht gegeben?<br />

Er griff noch einmal in die Kirschentüte, die er in seine Jackentasche gesteckt hatte.<br />

Eine junge Mutter mit zwei kleinen Kindern hatte sich inzwischen neben ihn gesetzt. Sie<br />

wirkte unkonzentriert und hektisch. Er suchte in den Gesichtern ihrer beiden Kleinen die<br />

Unbeschwertheit der Kirschenkinder. Wer hat diese Kinder gefragt, ob sie in diesen oder<br />

jenen Verhältnissen aufwachsen wollen? Ein unbehagliches Gefühl überkam ihn, bei dem<br />

Gedanken, dass er <strong>von</strong> Passanten für den Vater dieser Familie gehalten werden könnte. Mit<br />

einem unverbindlichen Gruß stand er hastig auf.<br />

Auf dem Rückweg zur Klinik ließ er es allmählich zu, sich zu erinnern. Seine Frau müsste die<br />

Operation nun hinter sich haben.


An der Krankenhauspforte traf er eine ältere Diakonisse, die ihm am Tag zuvor erklärt hatte:<br />

Sie sei noch ehrenamtlich im Haus tätig, die Menschen hier lägen ihr doch sehr am Herzen.<br />

Er nutzte die Gelegenheit und fragte sie nach der Bibelstelle, in der das mit dem „Wer gibt,<br />

dem wird gegeben“ steht.<br />

Hilfsbereit führte sie ihn in den Eingangsbereich der Krankenhauskapelle, wo sie zielsicher<br />

und gekonnt begann, in einer Bibel zu blättern. „Bergpredigt oder Feldrede“, murmelte sie<br />

und zeigte ihm schließlich die entsprechenden Stellen.<br />

Er bedankte sich bei ihr und gab ihr als Dankeschön das Tütchen mit den restlichen Kirschen.<br />

Er las im sechsten Kapitel des Lukasevangeliums:<br />

36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.<br />

37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet.<br />

Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.<br />

38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß<br />

wird man in euren Schoß geben;<br />

denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen.<br />

39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis:<br />

Kann ein Blinder einem Blinden den Weg weisen?<br />

Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen?<br />

40 Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein<br />

Meister.<br />

41 Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge<br />

nimmst du nicht wahr?<br />

42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem<br />

Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge?<br />

Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter<br />

aus deines Bruders Auge ziehst!<br />

Machte es Sinn, diese Zeilen als eine Anleitung zum Gutsein zu lesen? Würde ihm in seinem<br />

Leben nur Gutes widerfahren, wenn er sich an das, was hier stand, hielte?<br />

Wie konnte man es eigentlich schaffen, streng im Sinne dieser Ethik Jesu zu handeln?<br />

Bevor die freundliche Diakonisse die Kapelle verließ, deutete sie noch auf das modern<br />

gestaltete Kreuz hinter dem Altar:<br />

„Es kommt auf die Ausrichtung an, dann ist der Rest auch immer wieder klar.<br />

Diese Ausrichtung bestimmt letztlich das, was du denkst und wie du handelst.<br />

Er dachte an die Frau mit dem Rollstuhl, an die Kirschenkinder und die Unbekannten in den<br />

Villen, an den Mann auf der Parkbank, und die junge Mutter.<br />

Er dachte darüber nach, wie er diese Menschen etikettiert und über sie geurteilt hatte.<br />

Hatte er nicht den Splitter in deren Auge betrachtet, um <strong>von</strong> sich selbst abzulenken?<br />

Aus Angst vor dem eigenen Älterwerden, aus Angst vor dem sozialen Abstieg,<br />

aus Neid gegenüber dem finanziellen Wohlstand und gesellschaftlichen Ansehen.<br />

Aus Angst davor, dass seine Frau nicht wieder vollständig geheilt werden würde?


Nervös, wie vor einem großen Auftritt, stand er vor ihrer Zimmertür. „Ein volles, gedrücktes,<br />

gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben“, der Vers klang in ihm<br />

nach. Er klopfte an die Tür und trat leise ein.

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