Aus Vielfalt eigene Stärken entwickeln - bei der ...
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B E R I C H T Z U R S O Z I A L E N L AG E 2 012<br />
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A R B E I T S M I G R A N T E N , F L Ü C H T L I NGE U N D AU S S I E D L E R AU F D E M B R E M E R A R B E I T S M A R K T<br />
Güler Binici ist <strong>bei</strong>m Jugendamt in einem Projekt<br />
beschäftigt. Ursprünglich war die Stelle auf<br />
zwei Jahre befristet, wurde aber schnell in eine<br />
Festanstellung umgewandelt. Demnächst geht<br />
sie in Erziehungsurlaub, ar<strong>bei</strong>tet aber noch fünf<br />
Stunden in <strong>der</strong> Woche weiter, damit sie<br />
auf <strong>der</strong> Stelle bleiben kann.<br />
BINICI: Ich merke schon, dass die Vorgesetzte<br />
guckt: Wer kann was und alle unterstützt. Ich<br />
ar<strong>bei</strong>te gerne hier.<br />
LORENZEN: Ist <strong>der</strong> öffentliche Dienst Vorreiter für solche<br />
Ar<strong>bei</strong>tsbedingungen?<br />
BINICI: Klar, in <strong>der</strong> freien Wirtschaft sind natürlich<br />
ganz an<strong>der</strong>e Bedingungen. Hier haben wir auch<br />
viele Kollegen mit Kin<strong>der</strong>n, darauf wird Rücksicht<br />
genommen. Da ist es nicht so ein Problem, wenn<br />
das Kind mal krank ist. Auf das Wohlbefinden <strong>der</strong><br />
Ar<strong>bei</strong>tnehmer wird hier mehr geachtet.<br />
LORENZEN: Was müsste generell getan werden, um<br />
Menschen mit Migrationshintergrund mehr zu för<strong>der</strong>n?<br />
BINICI: Es wird schon mehr getan, auch in Banken<br />
werden schon mehr Leute mit Migrationshintergrund<br />
eingestellt. Was mir auffällt ist, dass man sie<br />
eher selten in höheren Positionen, als Vorgesetzte<br />
sieht.<br />
LORENZEN: Woran liegt das?<br />
BINICI: Das weiß ich nicht. Vielleicht trauen sie<br />
sich noch nicht. Ich traue mich das auch noch<br />
nicht. Aber zwei Jahre sind ja noch zu früh, um<br />
daran zu denken. Vielleicht probiere ich das<br />
irgendwann mal, ich weiß es nicht. Aber in an<strong>der</strong>en<br />
Bereichen gibt es immer mehr: Makler, Psychologen.<br />
LORENZEN: Und Ihre Träume? Wo wollen Sie mal hin?<br />
BINICI: Erst mal Erfahrungen sammeln, das kann<br />
man hier sehr gut. Irgendwann würde ich gern<br />
noch eine Psychotherapieausbildung machen.<br />
LORENZEN: Und das weiß Ihre Chefin auch?<br />
BINICI: Ja, es gibt hier viele, die noch eine Zusatzausbildung<br />
machen und auch dafür freigestellt<br />
werden. Zur Supervisorin zum Beispiel.<br />
Zum Schluss gibt Güler Binici noch einen Einblick<br />
in ihre Ar<strong>bei</strong>t mit Jugendlichen, die einen<br />
Migrationshintergrund haben.<br />
BINICI: Jugendliche haben oft das Problem, dass<br />
sie zwischen den Stühlen sitzen. Die Eltern wollen<br />
teilweise das Alte, die Tradition <strong>bei</strong>behalten. Umso<br />
mehr die Jugendlichen an<strong>der</strong>s leben wollen, versuchen<br />
die Eltern sie festzuhalten. Es passiert öfter,<br />
dass die Mädchen hierher mit dem Wunsch <strong>der</strong><br />
Fremdplatzierung kommen. Sie leben einfach<br />
zwischen zwei Kulturen. Wenn ich dann zu den<br />
Eltern gehe, habe ich es etwas leichter, von ihnen<br />
angehört und anerkannt zu werden. Das Vertrauensverhältnis<br />
ist ein an<strong>der</strong>es. Dann versuche ich<br />
einerseits Empathie zu zeigen, aber auch Verständnis<br />
für die Bedürfnisse <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> zu wecken.<br />
Pelin Ögüt – selbstverständlich Bildung<br />
Ohne Umwege zum Studium verlief <strong>der</strong> Weg <strong>bei</strong><br />
Pelin Ögüt. In ihrem Elternhaus galt Bildung nicht<br />
als Schlüssel zum sozialen Aufstieg, son<strong>der</strong>n als<br />
Selbstverständlichkeit. Auch und gerade für Frauen.<br />
Schon für ihre Großeltern war die Vorstellung<br />
abwegig, eine Frau könne von ihrem Mann ökonomisch<br />
abhängig sein. Das Interview findet in Pelin<br />
Ögüts Rechtsanwaltspraxis statt, Bremer Innenstadt,<br />
beste Lage. Das bunte Aquarium verschönert<br />
die Wartezeit. Pelin Ögüt kommt gerade aus Hamburg,<br />
wo sie Betriebsräte in einem Ar<strong>bei</strong>tskonflikt<br />
vertritt.<br />
Pelin Ögüt ist in Ankara geboren. Als sie fünf<br />
Jahre alt ist, geht <strong>der</strong> Vater als Direktor des türkischen<br />
Kulturzentrums nach Köln, ursprünglich<br />
nur für ein Jahr. Die Familie bleibt zunächst in <strong>der</strong><br />
Türkei und zieht nach, als <strong>der</strong> Aufenthalt des<br />
Vaters sich doch verlängert. Die erste Klasse<br />
besucht sie noch in <strong>der</strong> Türkei und lernt Türkisch<br />
lesen und schreiben. In Deutschland beginnt sie in<br />
<strong>der</strong> zweiten Klasse ohne Deutschkenntnisse.<br />
ÖGÜT: Das geht in dem Alter aber sehr schnell. Meine<br />
Mutter war schon in <strong>der</strong> Türkei Deutschlehrerin<br />
und hat in Köln jeden Tag mit uns gelernt. Sie saß<br />
abwechselnd <strong>bei</strong> mir und meiner Schwester in <strong>der</strong><br />
Klasse und hat simultan übersetzt. Insofern hatten<br />
wir es relativ einfach, diese erste Zeit zu überbrücken.<br />
In ihrer Klasse kann sie sich nur noch an einen<br />
an<strong>der</strong>en türkischen Jungen erinnern – und auch<br />
das nur wegen einer beson<strong>der</strong>en Geschichte.<br />
ÖGÜT: Zum Karneval trug er sein Beschneidungskostüm.<br />
Er hat mich inständig gebeten, das nicht<br />
zu verraten, weil alle an<strong>der</strong>en dachten, er sei ein<br />
Prinz.<br />
Nach einem Jahr in Köln zieht die Familie nach<br />
Hannover, wo die Mutter bis zur Pensionierung<br />
als Lehrerin in einer Hauptschule mit einer<br />
Integrationsklasse für Kin<strong>der</strong> mit Migrationshintergrund<br />
unterrichtet.<br />
ÖGÜT: Ich kannte es nie an<strong>der</strong>s, als dass Frauen<br />
berufstätig sind. Meine Eltern kommen zwar <strong>bei</strong>de<br />
nicht aus akademischen Familien, haben sich aber<br />
selber im Studium kennengelernt. Bei meinen<br />
Eltern war es ganz selbstverständlich, dass meine<br />
Schwester und ich studieren. Für meine Mutter<br />
war es ganz wichtig, finanziell selbstständig und<br />
nicht von einem Mann abhängig zu sein. Das hat<br />
sie uns früh mitgegeben. Selbst für meine Großeltern<br />
war es nichts Ungewöhnliches, dass ihre Kin<strong>der</strong><br />
und Enkel diesen Weg eingeschlagen haben.<br />
Ich habe erst später begriffen, warum es wichtig<br />
ist, nicht abhängig zu sein. Als Kind habe ich mir<br />
darüber keine Gedanken gemacht. Mir hat die<br />
Schule einfach Spaß gebracht und ich bin automatisch<br />
von Stufe zu Stufe gegangen.<br />
Als Kind spielt sie mit deutschen Kin<strong>der</strong>n,<br />
wächst nicht in einem Ghetto auf. Die Diskriminierungserfahrungen<br />
sind entsprechend harmloser<br />
Natur.<br />
ÖGÜT: Im Gymnasium in Hannover hat unsere<br />
Direktorin, wenn sie mit mir sprach, automatisch<br />
ihre Sprache in Zeitlupe umgewandelt. Es gab da<br />
schon Anekdötchen, über die man nur den Kopf<br />
schütteln konnte. Aber nicht so viele, da habe ich<br />
wahrscheinlich Glück gehabt.<br />
LORENZEN: Können Sie sich an den ersten Berufswunsch<br />
erinnern?<br />
ÖGÜT: Architektin war so ein früher Wunsch. Ich<br />
habe immer gern geschwungene Treppen gemalt.<br />
Und eine Zeitlang habe ich an Meeresbiologie<br />
gedacht, aber das waren Kindheitswünsche, die<br />
aus Hobbys entstanden.<br />
LORENZEN: Wann kam die Idee auf, Rechtsanwältin<br />
zu werden?<br />
ÖGÜT: Ich kann nicht ausschließen, dass die Idee<br />
aus irgendwelchen amerikanischen Spielfilmen<br />
stammt, mit völlig falschen Vorstellungen über<br />
den Beruf.<br />
LORENZEN: Eine ausgeprägte soziale A<strong>der</strong> steckte nicht<br />
dahinter?<br />
ÖGÜT: Ein Gemisch aus <strong>bei</strong>den. Ich weiß, dass meine<br />
Familie mich immer schon damit aufgezogen<br />
hat, ich solle Rechtsanwältin werden, weil ich<br />
mich für Sachen eingesetzt habe und schon für<br />
meine ältere Schwester Dinge mit erstritten habe.<br />
Ich war auch immer gerne Klassensprecherin. Aber<br />
als ich dann mit dem Studium begann, hatte ich<br />
noch gar kein klares Berufsbild.<br />
LORENZEN: Gab es vielleicht Beispiele positiver Diskriminierung?<br />
ÖGÜT: Mir fällt nur ein Beispiel aus <strong>der</strong> Zeit ein, als<br />
ich schon gear<strong>bei</strong>tet habe. Da hatte ich mal einen<br />
Mandanten, <strong>der</strong> sagte, er sei auf mich gekommen,<br />
weil er annahm, dass eine Frau mit Migrationshintergrund,<br />
die es so weit gebracht hat, schon bissig<br />
sein müsste.<br />
Zum Studium kommt Pelin Ögüt nach Bremen,<br />
weil die Eltern ihr in Hannover keine <strong>eigene</strong><br />
Wohnung finanzieren wollen.<br />
ÖGÜT: Das hätten sie komisch gefunden.<br />
Nach fünf Jahren macht sie Examen, obwohl<br />
sie nach <strong>eigene</strong>r <strong>Aus</strong>sage ›das erste Jahr durchgefeiert‹<br />
hat. Während <strong>der</strong> Wartezeit auf eine<br />
Referendarinnenstelle beginnt sie, gewerkschaftliche<br />
Schulungen für Betriebsräte zu machen.<br />
Die Entscheidung für Ar<strong>bei</strong>tsrecht war bereits<br />
mit <strong>der</strong> Schwerpunktwahl im siebten Semester<br />
gefallen.<br />
ÖGÜT: Da wusste ich sofort: Dafür mache ich das.<br />
Ar<strong>bei</strong>tsrecht berührt alltägliche Fragen und es<br />
macht Sinn, weil es zum Schutze <strong>der</strong> abhängig<br />
Beschäftigten entstanden ist.<br />
Im Referendariat engagiert sie sich im<br />
<strong>Aus</strong>bildungspersonalrat. Doch dann führt <strong>der</strong><br />
Zufall sie zunächst auf einen verlockenden<br />
Umweg.<br />
ÖGÜT: Wir hatten <strong>bei</strong>m Unistreik den Lehrstuhl<br />
›Recht <strong>der</strong> Geschlechterbeziehungen‹ erkämpft.<br />
Nun wurde dort eine wissenschaftliche Mitar<strong>bei</strong>terin<br />
für eine Promotion gesucht. Als ich die <strong>Aus</strong>schreibung<br />
las, dachte ich: Wieso steht da nicht<br />
mein Name?<br />
Sie unterrichtet viel und promoviert schließlich.<br />
ÖGÜT: Die drei Jahre haben mich aber darin<br />
bestätigt, dass ich anwenden und nicht nur diskutieren<br />
will.<br />
Mit zwei Freunden macht sie sich als Anwältin<br />
selbstständig und schult weiterhin Betriebsräte.<br />
Vor acht Jahren fängt sie in ihrer jetzigen<br />
Kanzlei an, wo sie seit ein paar Jahren Partnerin<br />
ist. Dort vertritt sie nur Ar<strong>bei</strong>tnehmer und<br />
Betriebsräte.<br />
›Ich habe schon<br />
immer Sachen<br />
erstritten.‹