Aus Vielfalt eigene Stärken entwickeln - bei der ...
Aus Vielfalt eigene Stärken entwickeln - bei der ...
Aus Vielfalt eigene Stärken entwickeln - bei der ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
96<br />
B E R I C H T Z U R S O Z I A L E N L AG E 2 012<br />
97<br />
A R B E I T S M I G R A N T E N , F L Ü C H T L I NGE U N D AU S S I E D L E R AU F D E M B R E M E R A R B E I T S M A R K T<br />
›Nicht weil ich<br />
blöd bin, son<strong>der</strong>n<br />
weil mir die<br />
Mittel fehlten.‹<br />
Aber, was ist schon Erfolg?! Für Ganesh N. aus Sri<br />
Lanka wäre es die Erfüllung des Kindheitstraums,<br />
wenn er nach Jahrzehnten endlich das zeigen<br />
könnte, was er kann: in einer festen Elektrikerstelle.<br />
Ar<strong>bei</strong>tsmigranten<br />
Nermin Sali – stolzer Exot<br />
mit Vorbildfunktion<br />
Ein Café auf dem Domshof. Nermin Sali kommt<br />
gerade von einer Konferenz, auf <strong>der</strong> er über seine<br />
Vorbildrolle als Lehrer gesprochen hat. Er nimmt<br />
an einem Projekt teil, das mehr Schüler mit Migrationshintergrund<br />
dazu motivieren möchte, Lehrer<br />
zu werden. Im Laufe des Gesprächs, das sich immer<br />
wie<strong>der</strong> gegen die Domglocken durchsetzen muss,<br />
wird deutlich, dass es wohl keinen besseren Botschafter<br />
für dieses Anliegen gibt. So leidenschaftlich<br />
und ansteckend begeisternd erzählt Nermin<br />
Sali von seinem Beruf. Immer aus <strong>der</strong> Perspektive<br />
eines Menschen, <strong>der</strong> vor allem eines lernen musste:<br />
Dass er überhaupt für eine akademische Tätigkeit<br />
geschaffen ist und nicht automatisch unten ins<br />
Rä<strong>der</strong>werk treten muss. Die Reflektiertheit, mit<br />
<strong>der</strong> er den Lernprozess vom Unterlegenheitsgefühl<br />
zum Selbstbewusstsein beschreibt, macht seine<br />
Geschichte auch zum passenden Einstieg in diesen<br />
kleinen Streifzug durch die Biografien von Bremern<br />
mit Migrationsgeschichte. Denn dort treffen<br />
wir auch auf Menschen, die irgendwo auf diesem<br />
Weg stecken geblieben sind.<br />
Nermin Salis Vater, ein Fabrikar<strong>bei</strong>ter, war vor<br />
35 Jahren in Berlin einer <strong>der</strong> ersten Ar<strong>bei</strong>tsemigranten<br />
vom Balkan. Die Familie stammt aus Mazedonien<br />
im ehemaligen Jugoslawien, wo drei verschiedene<br />
Volksgruppen zusammenleben.<br />
›Von <strong>der</strong> Kultur her bin ich eher Roma‹, sagt<br />
Nermin Sali. ›Von <strong>der</strong> Sprache aber albanisch<br />
geprägt. Die Sprache, die ich am besten kann, ist<br />
mazedonisch.‹<br />
Nach Bremen kommt Nermin Sali mit acht<br />
Jahren.<br />
SALI: Die ersten Lebensjahre waren nicht so toll,<br />
weil meine Familie die typischen Merkmale einer<br />
Ar<strong>bei</strong>tsmigrantenfamilie aufwies. Meine Mutter<br />
hat relativ lange nicht gut Deutsch gesprochen<br />
und nicht gear<strong>bei</strong>tet. Mein Vater hat umso mehr<br />
gear<strong>bei</strong>tet, so dass ich mich nicht an eine ausgewogene<br />
Kindheit im Hinblick auf Integration erinnern<br />
kann. Als wir nach Bremen gekommen sind,<br />
hat die Mehrheitssprache in Kin<strong>der</strong>garten und<br />
Schule eine größere Rolle gespielt. Inzwischen<br />
spricht auch meine Mutter sehr, sehr gut Deutsch.<br />
LORENZEN: Können Sie sich an Ihren ersten Berufswunsch<br />
erinnern?<br />
SALI: Nein. Das liegt, glaube ich, mit am Migrationshintergrund.<br />
Man bekommt relativ spät ein<br />
Bild davon, was man überhaupt machen kann. Bis<br />
zur zehnten Klasse habe ich mir darüber keine<br />
Gedanken gemacht. In <strong>der</strong> Schulzeit kann ich mich<br />
an eine einzige Bewerbung erinnern, die ich<br />
geschrieben habe: als Graveur. Aber auch nur, weil<br />
ich den Namen so schön fand.<br />
LORENZEN: Was für ein Schüler waren Sie denn?<br />
SALI: Ein schlechter. Bis zur neunten Klasse war ich<br />
eher ein Schüler, <strong>der</strong> schwänzte, wo es nur ging<br />
und die Zeit lieber mit Freunden verbrachte. In <strong>der</strong><br />
neunten Klasse bin ich dann mit Fünfen sitzen<br />
geblieben und musste die Klasse wie<strong>der</strong>holen.<br />
Durch diesen Umstand bin ich dann langsam mit<br />
<strong>der</strong> Schule warm geworden.<br />
LORENZEN: Welche Rolle hat in <strong>der</strong> Schulzeit Ihr<br />
Migrationshintergrund gespielt?<br />
SALI: Bis zur zehnten Klasse kann ich mich nicht<br />
erinnern, dass <strong>der</strong> irgendeine Rolle gespielt hat.<br />
Selbst viele Lehrer wussten nicht, wo ich herkomme.<br />
Bei mir kam hinzu, dass es komplex war, da<br />
hörten die Lehrer schnell auf mitzudenken. Sie<br />
haben das nie hinterfragt. Das meine ich aber negativ.<br />
Sie haben sich recht wenig Zeit genommen,<br />
um den Schüler als Menschen richtig vor Augen zu<br />
haben. Und wenn man nicht das Gefühl hat, als<br />
Mensch interessant zu sein, dann demotiviert das.<br />
LORENZEN: Wann kam denn <strong>der</strong> Kick, mehr in die Schule<br />
zu investieren?<br />
SALI: Gar nicht. Als ich nach <strong>der</strong> neunten Klasse<br />
sah, dass <strong>der</strong> Notendurchschnitt auf meinem<br />
Zeugnis ausreichen könnte, um eine höhere<br />
Schule zu besuchen, war das für mich einfach die<br />
Möglichkeit, weiter zur Schule zu gehen und mich<br />
nicht mit Ar<strong>bei</strong>t und <strong>Aus</strong>bildung zu befassen.<br />
Selbst in <strong>der</strong> Oberstufe wusste ich nicht, was ich<br />
machen will. Es hat mich auch niemand in die<br />
Bredouille gebracht, darüber nachzudenken. Die<br />
Oberstufe konnte ich nur mit sehr vielen Hürden<br />
meistern. Nicht weil ich blöd bin, son<strong>der</strong>n weil<br />
mir die Mittel fehlten. Ich hatte kaum Training,<br />
ich hatte nicht die gleichen Vorkenntnisse wie die<br />
Im dritten Semester lernt Nermin Sali seine<br />
Frau kennen, heiratet, Tochter und Sohn kommen<br />
zur Welt. Jetzt muss er neben dem Studium<br />
viel ar<strong>bei</strong>ten, in Tankstellen, in <strong>der</strong> Gastronomie<br />
und im Einzelhandel.<br />
SALI: Ich hatte Glück, dass ich <strong>bei</strong> meinen Jobs<br />
irgendwann auf die Bildungsschiene gekommen<br />
bin und den Internationalen Bund kennengelernt<br />
habe.<br />
Dort fängt er als Dozent an, wird sozialpädagogischer<br />
Betreuer und schließlich stellvertreten<strong>der</strong><br />
Projektleiter.<br />
SALI: Das war mein Ding, da habe ich die Wertschätzung<br />
bekommen, die man als ar<strong>bei</strong>ten<strong>der</strong><br />
Mensch braucht.<br />
Trotz <strong>der</strong> Doppelbelastung absolviert er<br />
sein Studium mit <strong>der</strong> Note 1,5 und beginnt<br />
sein Referendariat.<br />
SALI: Der Rollenwechsel war schwierig. Von <strong>der</strong><br />
selbstbewussten Rolle an <strong>der</strong> Tafel zum Lernenden.<br />
Lei<strong>der</strong> war es so, dass im Referendariat das Thema<br />
meiner Migration hier und da in ein Licht gerückt<br />
wurde, das mich traurig gemacht hat. Das war<br />
zwar keine offene Diskriminierung mehr, aber es<br />
war mit einigen Seminarleitern schwierig. Es gab<br />
auch Seminarleiter, die mir ein Übermaß an<br />
Respekt entgegengebracht haben und die mich<br />
dazu gebracht haben, darüber nachzudenken, was<br />
es identitätstechnisch für mich bedeutet, ein Vorbild<br />
für Kin<strong>der</strong> zu sein. Das hatte ich mich vorher<br />
nicht gefragt. Da kam <strong>der</strong> Stein ins Rollen. Da habe<br />
ich dann auch gemerkt, dass ich für viele meiner<br />
Schüler tatsächlich eine Vorbildrolle habe. In <strong>der</strong><br />
Schule habe ich mich vom ersten Tag an als vollwertiger<br />
Lehrer gefühlt. Da war ich nie ein Außenseiter.<br />
Das zweite Staatsexamen besteht Nermin Sali<br />
mit <strong>Aus</strong>zeichnung und wird von seiner Schulleitung<br />
an einer Oberschule sofort übernommen.<br />
Einige Leute haben sich für ihn eingesetzt.<br />
SALI: Das war eine Wertschätzung ohnegleichen.<br />
LORENZEN: Viele, die hier geboren sind, sind ja eher<br />
genervt, nach all den Jahren immer noch auf ihren Migrationshintergrund<br />
angesprochen zu werden. Sie thematisieren<br />
das offensiv. Wie ist das zu dieser Entscheidung<br />
gekommen?<br />
SALI: Ich hatte mir erst nicht so viele Gedanken<br />
gemacht, was ich denn identitätstechnisch bin,<br />
Deutscher o<strong>der</strong> Migrant. Während des Referendariats<br />
habe ich von einigen Leuten den Rat bekomdeutschen<br />
Schüler, das musste ich mir dann selbst<br />
hart aneignen.<br />
LORENZEN: Spielte denn <strong>der</strong> Migrationshintergrund für<br />
Ihr Selbstbild irgendeine Rolle?<br />
SALI: Als Exot mit drei verschiedenen Volksgruppen<br />
in mir, war ich immer ein sehr stolzer Mensch.<br />
Ich habe Gott sei Dank gesehen, dass es etwas Positives<br />
ist, wenn man Verschiedenes in sich trägt<br />
und das hat mich unbewusst gelenkt.<br />
LORENZEN: Wann hatten Sie denn das erste Mal die Idee,<br />
Lehrer zu werden?<br />
SALI: Es gab ein Schlüsselerlebnis, das mich dazu<br />
gebracht hat, darüber nachzudenken. Bei meinem<br />
schriftlichen Abitur gab es eine Lehrerin, die uns<br />
die Aufgaben auf den Tisch legte. Sie hatte etwas<br />
Benommenes, Mitleidendes, das mir sehr imponierte.<br />
Ich fragte mich: Warum nimmt sie das so mit,<br />
dass wir hier jetzt fünf Stunden lang eine Klausur<br />
schreiben müssen? Da wurde mir das Menschliche<br />
klar, das ein Lehrer ja in sich tragen muss, die<br />
Fähigkeit zur Empathie. Das war das erste Mal,<br />
dass ich überhaupt daran dachte, Lehrer werden<br />
zu können. Vorher hätte ich jeden ausgelacht, <strong>der</strong><br />
mir gesagt hätte, dass das möglich ist. Selbst Kin<strong>der</strong><br />
und Jugendliche, die hier geboren sind und als<br />
Deutsche fühlen, weil sie perfekt Deutsch sprechen<br />
und die Kultur kennen, fehlt oft <strong>der</strong> Mut, sich hinzustellen<br />
und zu sagen: Ich kann so etwas erreichen,<br />
wie einen akademischen Grad, einen verantwortungsvollen<br />
Beruf. Ich muss nicht am Fließband<br />
stehen.<br />
Nach dem Schlüsselerlebnis <strong>bei</strong>m Abitur<br />
bewirbt sich Nermin Sali umgehend für einen<br />
Lehramtsstudienplatz in Bremen und wird<br />
angenommen.<br />
SALI: Ich hatte aber weiter Selbstzweifel, das schaffen<br />
zu können. Und wenn man dann mit Diskriminierung<br />
seitens <strong>der</strong> Professoren und Dozenten<br />
konfrontiert wird, rückt <strong>der</strong> Traum immer mehr<br />
in die Ferne. Dann denkt man sich, dass sich<br />
anschließend sowieso keine Tür mehr öffnen wird.<br />
LORENZEN: Welche Form von Diskriminierung haben<br />
Sie an <strong>der</strong> Uni erlebt?<br />
SALI: Man merkt das schon, wenn Intoleranz da ist,<br />
wenn keine Wertschätzung da ist, wenn Professoren<br />
sagen, dass man als Student mit Migrationshintergrund<br />
mehr leisten muss, um zu zeigen, dass<br />
man sich das verdient hat. Das habe ich so gehört.<br />
Das ist demotivierend und bringt einen dazu zu<br />
zweifeln. Das hatte ich bis zum Abschluss.