Aus Vielfalt eigene Stärken entwickeln - bei der ...

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92 B E R I C H T Z U R S O Z I A L E N L AG E 2 012 93 S TADTTEILÖKO NOMIE B R E M E N - G RÖ P E L I NGEN Jahre im Stadtteil angesiedelt sind. Fast die Hälfte schaut aber lediglich auf bis zu sechs Jahre zurück und etwas weniger als ein Drittel ist ganz neu (Gründung 2011). Neben Kontinuität und einer relativen Stabilität, existiert auch ein Segment starker unternehmerischer Gründungsaktivitäten mit hoher Fluktuation. Bisher sind die migrantischen Selbstständigen in Gröpelingen (noch) überwiegend in den ›typischen‹ Branchen des Einzelhandels, der Gastronomie und der alltäglichen Dienstleistungen tätig. Es zeichnet sich jedoch mit dem Wechsel von der zweiten zur dritten Generation ein Wandel zu vielfältigeren und höherwertigen Angeboten ab. Diese jüngere Generation von Selbstständigen unterscheidet sich von der vorherigen durch eine andere Art des Wirtschaftens. Sie verfolgen ein gezielteres Marketing und sind seltener der prekären Ökonomie zuzuordnen. Aus Stadtteilsicht ist diese Entwicklung lediglich dann ambivalent, wenn erfolgreiche Selbstständige ihre Geschäfte in andere Stadtteile mit einer insgesamt höheren Kaufkraft verlagern, was selten geschied. Es gibt eher Geschäftsleute, die sich aufgrund der spezifischen Käuferstruktur gezielt in Gröpelingen ansiedeln. Eine weitere Entwicklung, die mit dem Wechsel der Generationen einhergeht, ist die Zunahme qualifizierter Dienstleistungen, bei der Mehrsprachigkeit bewusst als Kompetenz eingesetzt wird. Die personelle Situation in den migrantischen Unternehmen ist relativ ›typisch‹. Von den 30 selbstständigen Inhaberinnen und Inhabern sind die meisten männlich (24 Männer, 6 Frauen), bei den 72 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dominieren die Frauen (44 Frauen, 28 Männer). Die Geschäftsleute haben etwa zur Hälfte weder ihre Schulbildung noch ihre Berufsausbildung in Deutschland absolviert. Dennoch verfügen fast alle mindestens über eine berufliche Ausbildung, wenige haben einen Meistertitel und lediglich zwei haben einen Hochschulabschluss. Ihr Arbeitsalltag ist durch relativ lange Arbeitszeiten gekennzeichnet, wie sie ebenfalls typisch für viele Selbstständige sind. Die Hälfte gibt Arbeitszeiten von sieben bis zehn Stunden an, einige arbeiten 12 Stunden oder sogar 15 bis 16 Stunden. In zwei gerade neu eröffneten Unternehmen wurden 19 Stunden genannt. Vier der Selbstständigen bilden in ihrem Betrieb aus. Die Kundschaft in den befragten Unternehmen ist vielfältig, lediglich drei haben über- wiegend türkische Kunden, aber immerhin acht überwiegend deutsche Kunden. Die Beschäftigten finden ihre Arbeitsstellen in den migrantischen Unternehmen überwiegend über private Netzwerke, einige aber auch durch Eigeninitiative und nur wenige über die Zeitung. In lediglich drei Unternehmen sind ausschließlich Familienangehörige beschäftigt, in fast der Hälfte keine. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind zu etwa gleichen Teilen in Vollzeit oder Teilzeit angestellt, rund 60 Prozent haben einen Minijob. Als durchschnittlichen Nettostundenlohn für ihre Beschäftigten gaben die Geschäftsleute rund acht Euro an. Den migrantischen Selbstständigen wird im Stadtteil eine wichtige Bedeutung zugesprochen, die über die Versorgung mit alltäglichen Gütern und Dienstleistungen hinausgeht. Betont wird vor allem ihre besondere Rolle als Ansprechpartner für die lokalen Einrichtungen und öffentlichen Institutionen. Sie sind aber gleichzeitig für die migrantischen Bewohnerinnen und Bewohner und besonders für neu Zugewanderte auch Sprach- und Kulturinseln, wo Informationen und Tipps ausgetauscht werden und sie in ihrer Herkunftssprache sprechen können. Sie sind Orte der Kommunikation, der Information und auch der Identifikation. Die Ergebnisse der Studie zeigen außerdem, dass der weit überwiegende Teil der migrantischen Selbstständigen nicht eine materiell prekäre Nischenökonomie bildet. Sie sind Teil der im Stadtteil ebenfalls vorhandenen Mittelschicht und stabilisieren diese. Sie sind gleichzeitig ein stabilisierendes Element für die gesamte Stadtteilökonomie in Gröpelingen, die zu einem Drittel von ihnen getragen wird. Die Einbindung der Selbstständigen in den Stadtteil verläuft in erster Linie über (informelle) familiäre Netze und Kontakte zu anderen Gewerbetreibenden. Letztere genießen den Vorteil, dass es im Stadtteil seit 2007 einen richtungweisenden lokalen Ansatz für eine integrierte Förderung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Entwicklung des Stadtteils gibt. Dieser geht über die klassische Interessenvertretung lokaler Einzelhändler in einem Gewerbeverein weit hinaus und besteht aus zwei Partnern: dem Verein Gröpelinger Marketing und dem Verein Kultur vor Ort.

94 B E R I C H T Z U R S O Z I A L E N L AG E 2 012 95 A R B E I T S M I G R A N T E N , F L Ü C H T L I NGE U N D AU S S I E D L E R AU F D E M B R E M E R A R B E I T S M A R K T Dieses Netzwerk besitzt derzeit 120 Mitglieder, neben Einzelhändlern und Gewerbetreibenden auch Vereine und Institutionen aus dem Bildungs-, Sozial- und Kulturbereich. In der Vergangenheit konnte mithilfe dieses Netzwerks und durch öffentliche Fördermittel (EFRE und URBAN) wesentlich zur internen Stabilisierung, zur Vernetzung der Stadtteilökonomie und zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts beigetragen werden. Denn es sind häufig die nicht formalisierten Einbindungen in Bildungs-, Sozial- und Kulturaktivitäten, durch die auch viele Selbstständige und Gewerbetreibende erreicht werden, die einer formalen Mitgliedschaft in einem Gewerbeverein erst mal distanziert gegenüberstehen. Gerade durch die spezifische Verknüpfung der Bildungs-, Sozial- und Kulturnetzwerke mit den lokalen Wirtschaftsnetzwerken konnten migrantische Unternehmerinnen und Unternehmer eingebunden und mit kommunalen Förder- und Qualifizierungsangeboten in Kontakt gebracht werden. Zukünftig muss dieser besonders erfolgreiche Ansatz durch die bereits beginnenden Stadtentwicklungsplanungen für den ›Bremer Westen‹ weiter gestärkt und fortentwickelt werden. Dazu sind vor allem interkulturelle Kompetenzen zwingend erforderlich und Teile der migrantischen Selbstständigen in Gröpelingen können für diese Prozesse ein wichtiger ›Motor‹ sein. Literatur ❚ Der Senator für Wirtschaft und Häfen 19.05.2009: Vorlage Nr. 17/188-L für die Sitzung der Deputation für Wirtschaft und Häfen am 10. Juni 2009. Az.: 710-01-01/2-6-1 vom 19.05.2009. Strukturkonzept Land Bremen 2015 / Mittelstands- und Existenzgründungsoffensive. ❚ Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2010): 8. Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Juni 2010. ❚ Die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2012): 9. Bericht über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, Juni 2012. ❚ Hillmann, Felicitas (2011) (Hg.): Marginale Urbanität: Migrantisches Unternehmertum und Stadtentwicklung. ❚ Hillmann, Felicitas/Rohmeyer, Lea: Expertise im Auftrag der Arbeitnehmerkammer Bremen. Projektzeitraum: 01.01.2012–31.03.2012. Unter Mitarbeit bei der Datenerhebung von Lukas Engelmeier, Esra Nurgenç, Rafaela Rau. ❚ IBA Hamburg: IBA-Programm ›Lokale Ökonomie‹. ❚ Jung, Martin/Unterberg, Michael/Bendig, Mirko/Seidl-Bowe, Britta (2011): Unternehmensgründungen von Migranten und Migrantinnen. Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWi), Juli 2011. Arbeitsmigranten, Flüchtlinge und Aussiedler auf dem Bremer Arbeitsmarkt – ein Streifzug durch Betriebe, Verwaltungen und Beratungsstellen Manchmal gehört ein magischer Moment dazu, den Mut für eine Entscheidung zu fassen, die dem Leben eine neue Richtung gibt. Da beobachtet der 19-jährige Abiturient Nermin Sali während einer Abiklausur, wie seine Lehrerin die Prüfungsaufgaben nicht einfach auf den Tisch knallt und die Schüler ihrem Schicksal überlässt – er sieht, wie sie sich in den Stress und die Angst der Schüler hineinversetzt, geradezu mitleidet und versucht, ihnen die Situation emotional zu erleichtern. ›Da wurde mir das Menschliche klar, das ein Lehrer ja in sich tragen muss, die Fähigkeit zur Empathie. Das war das erste Mal, dass ich überhaupt daran dachte, Lehrer werden zu können‹, erzählt der heutige Lehrer Nermin Sali. ›Vorher hätte ich jeden ausgelacht, der mir gesagt hätte, dass das möglich ist. Selbst Kindern und Jugendlichen, die hier geboren sind und sich als Deutsche fühlen, weil sie perfekt Deutsch sprechen und die Kultur kennen, fehlt oft der Mut, sich hinzustellen und zu sagen: Ich kann so etwas erreichen, wie einen akademischen Grad, einen verantwortungsvollen Beruf. Ich muss nicht am Fließband stehen.‹ Diese Selbstzweifel werden in der Regel nicht aus den Herkunftskulturen mitgebracht, sondern entstehen in der Auseinandersetzung mit den Institutionen hierzulande. Auch diesen Wirkungszusammenhang bringt Nermin Sali auf den Punkt. ›Die Gesellschaft transportiert ein Bild, dass Menschen mit Migrationshintergrund etwas Besonderes leisten müssen, um anerkannt zu werden. Diese Message kommt bei Kindern an, die bildungsfern aufwachsen. Wenn man das im Elternhaus hört und von den Medien transportiert bekommt und dann in der Schule noch mit offener oder verdeckter Diskriminierung konfrontiert ist, ist es für eine Kinderseele programmiert, dass die Selbsteinschätzung nicht hinhaut.‹ Neben dieser Produktion eines Unterlegenheitsgefühls gibt es weiterhin Faktoren, die ohne Umwege auf die Bildungs- und Erwerbsbiografien von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern mit Migrationshintergrund einwirken: diskriminierende Einstellungs- beziehungsweise Beförderungspraxen, vorenthaltene Sprachkurse oder, wie bei RALF LORENZEN Soziologe, freier Journalist Flüchtlingen, gesetzliche Vorschriften, die das Arbeiten gleich ganz verbieten. Dazu kommen Faktoren, die nichts mit der ethnischen Herkunft zu tun haben, aber trotzdem die Stellung auf dem Arbeitsmarkt beeinflussen, wie die soziale Herkunft, das Geschlecht oder die Situation einer alleinerziehenden Mutter. Dieser Bericht kann es nicht leisten, die Faktoren in ihrem Zusammenspiel genau zu analysieren oder ein in irgendeiner Weise repräsentatives Bild der Situation von Migrantinnen und Migranten auf dem Bremer Arbeitsmarkt zu vermitteln. Aber die elf Interviews geben Einblicke in Lebensgeschichten, die sich beständig mit diesen Faktoren auseinandersetzen und die erlebten Hürden sichtbar machen. Die Interviews haben nicht nur einseitig nach Benachteiligungen gesucht, sondern auch nach Faktoren, die eine Integration auf dem Arbeitsmarkt befördert haben oder nach Ansätzen, solche Prozesse künftig bewusster zu initiieren. Dabei wird zum Beispiel deutlich, wie wichtig es für die zweite Generation türkischer Arbeitsmigranten war, dass Bremer Großbetriebe Ende der 1970er- Jahre in großem Stil ungelernte Arbeitskräfte eingestellt haben. Und wie wichtig es für die dritte Generation sein könnte, dass zumindest im öffentlichen Dienst die allerorts kursierenden ›Diversity‹- Sprechblasen ernst genommen werden und Arbeitsuchende mit Migrationshintergrund bevorzugt eingestellt werden. Die Interviewpartner dieses Berichts wurden relativ zufällig ausgewählt. Die Auswahl sollte lediglich gewährleisten, möglichst viele unterschiedliche Lebenslagen in den Blick zu bekommen. Dazu gehören auch jene Biografien, die gemeinhin als Erfolgsgeschichten bezeichnet werden. Diese Geschichten machen besonders deutlich, wie falsch und verzerrend die übliche Konnotation Migration=Defizit ist. Andererseits lässt sich gerade an ihnen besonders gut ablesen, welche Faktoren nötig sind, damit der Migrationshintergrund keine Rolle spielt und sich sowohl im Selbstbild als auch in der Wahrnehmung der anderen irgendwann verflüchtigt.

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Dieses Netzwerk besitzt <strong>der</strong>zeit 120 Mitglie<strong>der</strong>,<br />

neben Einzelhändlern und Gewerbetreibenden<br />

auch Vereine und Institutionen aus dem Bildungs-,<br />

Sozial- und Kulturbereich. In <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

konnte mithilfe dieses Netzwerks und durch öffentliche<br />

För<strong>der</strong>mittel (EFRE und URBAN) wesentlich<br />

zur internen Stabilisierung, zur Vernetzung <strong>der</strong><br />

Stadtteilökonomie und zur Stärkung des sozialen<br />

Zusammenhalts <strong>bei</strong>getragen werden. Denn es sind<br />

häufig die nicht formalisierten Einbindungen in<br />

Bildungs-, Sozial- und Kulturaktivitäten, durch die<br />

auch viele Selbstständige und Gewerbetreibende<br />

erreicht werden, die einer formalen Mitgliedschaft<br />

in einem Gewerbeverein erst mal distanziert<br />

gegenüberstehen. Gerade durch die spezifische<br />

Verknüpfung <strong>der</strong> Bildungs-, Sozial- und Kulturnetzwerke<br />

mit den lokalen Wirtschaftsnetzwerken<br />

konnten migrantische Unternehmerinnen und<br />

Unternehmer eingebunden und mit kommunalen<br />

För<strong>der</strong>- und Qualifizierungsangeboten in Kontakt<br />

gebracht werden. Zukünftig muss dieser beson<strong>der</strong>s<br />

erfolgreiche Ansatz durch die bereits beginnenden<br />

Stadtentwicklungsplanungen für den ›Bremer<br />

Westen‹ weiter gestärkt und fortentwickelt werden.<br />

Dazu sind vor allem interkulturelle Kompetenzen<br />

zwingend erfor<strong>der</strong>lich und Teile <strong>der</strong> migrantischen<br />

Selbstständigen in Gröpelingen können für diese<br />

Prozesse ein wichtiger ›Motor‹ sein.<br />

Literatur<br />

❚ Der Senator für Wirtschaft und Häfen<br />

19.05.2009: Vorlage Nr. 17/188-L für die Sitzung <strong>der</strong><br />

Deputation für Wirtschaft und Häfen am 10. Juni 2009.<br />

Az.: 710-01-01/2-6-1 vom 19.05.2009. Strukturkonzept<br />

Land Bremen 2015 / Mittelstands- und Existenzgründungsoffensive.<br />

❚ Die Beauftragte <strong>der</strong> Bundesregierung für<br />

Migration, Flüchtlinge und Integration (2010):<br />

8. Bericht über die Lage <strong>der</strong> <strong>Aus</strong>län<strong>der</strong>innen und<br />

<strong>Aus</strong>län<strong>der</strong> in Deutschland, Juni 2010.<br />

❚ Die Beauftragte <strong>der</strong> Bundesregierung für<br />

Migration, Flüchtlinge und Integration (2012):<br />

9. Bericht über die Lage <strong>der</strong> <strong>Aus</strong>län<strong>der</strong>innen und<br />

<strong>Aus</strong>län<strong>der</strong> in Deutschland, Juni 2012.<br />

❚ Hillmann, Felicitas (2011) (Hg.): Marginale<br />

Urbanität: Migrantisches Unternehmertum und Stadtentwicklung.<br />

❚ Hillmann, Felicitas/Rohmeyer, Lea: Expertise im<br />

Auftrag <strong>der</strong> Ar<strong>bei</strong>tnehmerkammer Bremen. Projektzeitraum:<br />

01.01.2012–31.03.2012. Unter Mitar<strong>bei</strong>t <strong>bei</strong> <strong>der</strong><br />

Datenerhebung von Lukas Engelmeier, Esra Nurgenç,<br />

Rafaela Rau.<br />

❚ IBA Hamburg: IBA-Programm ›Lokale Ökonomie‹.<br />

❚ Jung, Martin/Unterberg, Michael/Bendig,<br />

Mirko/Seidl-Bowe, Britta (2011): Unternehmensgründungen<br />

von Migranten und Migrantinnen.<br />

Untersuchung im Auftrag des Bundesministeriums für<br />

Wirtschaft und Technologie (BMWi), Juli 2011.<br />

Ar<strong>bei</strong>tsmigranten, Flüchtlinge und<br />

<strong>Aus</strong>siedler auf dem Bremer Ar<strong>bei</strong>tsmarkt –<br />

ein Streifzug durch Betriebe,<br />

Verwaltungen und Beratungsstellen<br />

Manchmal gehört ein magischer Moment dazu,<br />

den Mut für eine Entscheidung zu fassen, die dem<br />

Leben eine neue Richtung gibt. Da beobachtet <strong>der</strong><br />

19-jährige Abiturient Nermin Sali während einer<br />

Abiklausur, wie seine Lehrerin die Prüfungsaufgaben<br />

nicht einfach auf den Tisch knallt und die<br />

Schüler ihrem Schicksal überlässt – er sieht, wie<br />

sie sich in den Stress und die Angst <strong>der</strong> Schüler<br />

hineinversetzt, geradezu mitleidet und versucht,<br />

ihnen die Situation emotional zu erleichtern.<br />

›Da wurde mir das Menschliche klar, das ein<br />

Lehrer ja in sich tragen muss, die Fähigkeit zur<br />

Empathie. Das war das erste Mal, dass ich überhaupt<br />

daran dachte, Lehrer werden zu können‹,<br />

erzählt <strong>der</strong> heutige Lehrer Nermin Sali. ›Vorher hätte<br />

ich jeden ausgelacht, <strong>der</strong> mir gesagt hätte, dass<br />

das möglich ist. Selbst Kin<strong>der</strong>n und Jugendlichen,<br />

die hier geboren sind und sich als Deutsche fühlen,<br />

weil sie perfekt Deutsch sprechen und die Kultur<br />

kennen, fehlt oft <strong>der</strong> Mut, sich hinzustellen und zu<br />

sagen: Ich kann so etwas erreichen, wie einen<br />

akademischen Grad, einen verantwortungsvollen<br />

Beruf. Ich muss nicht am Fließband stehen.‹<br />

Diese Selbstzweifel werden in <strong>der</strong> Regel nicht<br />

aus den Herkunftskulturen mitgebracht, son<strong>der</strong>n<br />

entstehen in <strong>der</strong> <strong>Aus</strong>einan<strong>der</strong>setzung mit den Institutionen<br />

hierzulande. Auch diesen Wirkungszusammenhang<br />

bringt Nermin Sali auf den Punkt.<br />

›Die Gesellschaft transportiert ein Bild, dass Menschen<br />

mit Migrationshintergrund etwas Beson<strong>der</strong>es<br />

leisten müssen, um anerkannt zu werden. Diese<br />

Message kommt <strong>bei</strong> Kin<strong>der</strong>n an, die bildungsfern<br />

aufwachsen. Wenn man das im Elternhaus<br />

hört und von den Medien transportiert bekommt<br />

und dann in <strong>der</strong> Schule noch mit offener o<strong>der</strong><br />

verdeckter Diskriminierung konfrontiert ist, ist es<br />

für eine Kin<strong>der</strong>seele programmiert, dass die<br />

Selbsteinschätzung nicht hinhaut.‹<br />

Neben dieser Produktion eines Unterlegenheitsgefühls<br />

gibt es weiterhin Faktoren, die ohne Umwege<br />

auf die Bildungs- und Erwerbsbiografien von<br />

Ar<strong>bei</strong>tnehmerinnen und Ar<strong>bei</strong>tnehmern mit<br />

Migrationshintergrund einwirken: diskriminierende<br />

Einstellungs- beziehungsweise Beför<strong>der</strong>ungspraxen,<br />

vorenthaltene Sprachkurse o<strong>der</strong>, wie <strong>bei</strong><br />

RALF LORENZEN<br />

Soziologe, freier Journalist<br />

Flüchtlingen, gesetzliche Vorschriften, die das<br />

Ar<strong>bei</strong>ten gleich ganz verbieten. Dazu kommen<br />

Faktoren, die nichts mit <strong>der</strong> ethnischen Herkunft<br />

zu tun haben, aber trotzdem die Stellung auf<br />

dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt beeinflussen, wie die soziale<br />

Herkunft, das Geschlecht o<strong>der</strong> die Situation einer<br />

alleinerziehenden Mutter.<br />

Dieser Bericht kann es nicht leisten, die Faktoren<br />

in ihrem Zusammenspiel genau zu analysieren<br />

o<strong>der</strong> ein in irgendeiner Weise repräsentatives Bild<br />

<strong>der</strong> Situation von Migrantinnen und Migranten<br />

auf dem Bremer Ar<strong>bei</strong>tsmarkt zu vermitteln. Aber<br />

die elf Interviews geben Einblicke in Lebensgeschichten,<br />

die sich beständig mit diesen Faktoren<br />

auseinan<strong>der</strong>setzen und die erlebten Hürden sichtbar<br />

machen.<br />

Die Interviews haben nicht nur einseitig nach<br />

Benachteiligungen gesucht, son<strong>der</strong>n auch nach<br />

Faktoren, die eine Integration auf dem Ar<strong>bei</strong>tsmarkt<br />

beför<strong>der</strong>t haben o<strong>der</strong> nach Ansätzen, solche<br />

Prozesse künftig bewusster zu initiieren. Da<strong>bei</strong><br />

wird zum Beispiel deutlich, wie wichtig es für die<br />

zweite Generation türkischer Ar<strong>bei</strong>tsmigranten<br />

war, dass Bremer Großbetriebe Ende <strong>der</strong> 1970er-<br />

Jahre in großem Stil ungelernte Ar<strong>bei</strong>tskräfte eingestellt<br />

haben. Und wie wichtig es für die dritte<br />

Generation sein könnte, dass zumindest im öffentlichen<br />

Dienst die allerorts kursierenden ›Diversity‹-<br />

Sprechblasen ernst genommen werden und Ar<strong>bei</strong>tsuchende<br />

mit Migrationshintergrund bevorzugt<br />

eingestellt werden.<br />

Die Interviewpartner dieses Berichts wurden<br />

relativ zufällig ausgewählt. Die <strong>Aus</strong>wahl sollte<br />

lediglich gewährleisten, möglichst viele unterschiedliche<br />

Lebenslagen in den Blick zu bekommen.<br />

Dazu gehören auch jene Biografien, die<br />

gemeinhin als Erfolgsgeschichten bezeichnet werden.<br />

Diese Geschichten machen beson<strong>der</strong>s deutlich,<br />

wie falsch und verzerrend die übliche Konnotation<br />

Migration=Defizit ist. An<strong>der</strong>erseits lässt sich gerade<br />

an ihnen beson<strong>der</strong>s gut ablesen, welche Faktoren<br />

nötig sind, damit <strong>der</strong> Migrationshintergrund keine<br />

Rolle spielt und sich sowohl im Selbstbild als auch<br />

in <strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en irgendwann<br />

verflüchtigt.

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