Aus Vielfalt eigene Stärken entwickeln - bei der ...
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B E R I C H T Z U R S O Z I A L E N L AG E 2 012<br />
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I M U M G A NG M I T V I E L FA LT E I G E N E S TÄRKEN E N T W I C K E L N<br />
Die Devise lautet, je<strong>der</strong> Unterricht ist auch Sprachunterricht<br />
und das muss überall indirekt mitgedacht werden.<br />
Viele Sprachen – mehrsprachiges Lernen<br />
THOMAS SCHWARZER: Es gibt ja den Standpunkt, gerade<br />
in Schulen mit so vielen internationalen Kin<strong>der</strong>n, unbedingt<br />
pädagogische Kräfte mit einer Migrationsgeschichte<br />
einzustellen, die auch noch an<strong>der</strong>e Sprachen sprechen.<br />
Suchen Sie aktiv nach solchen mehrsprachigen Kolleginnen<br />
und Kollegen?<br />
BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Wir haben immer<br />
schon eine türkische Kollegin und einen kurdischen<br />
Kollegen gehabt, wir hatten durch den muttersprachlichen<br />
Unterricht einen polnischen Kollegen<br />
und <strong>bei</strong> den pädagogischen Betreuern hatten<br />
wir eine Perserin über viele Jahre. Wir haben eine<br />
Russisch sprechende Sekretärin und jetzt, relativ<br />
neu, auch eine Russisch sprechende Lehrerin. Das<br />
ist einfach praktisch, wenn man Eltern vor sich<br />
hat, die wenig verstehen, dass man jemanden zur<br />
Verfügung hat, <strong>der</strong> helfen kann.<br />
MARESI LASSEK: Unsere Verwaltungskraft ist sehr<br />
hilfreich, weil wir einen relativ hohen Anteil<br />
von Kin<strong>der</strong>n aus Russland haben. Schon <strong>bei</strong> <strong>der</strong><br />
Schulanmeldung, wenn Eltern merken, ich kann<br />
das in meiner Muttersprache regeln, werden formale<br />
Angelegenheiten sehr erleichtert.<br />
BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Ich sage mal, <strong>bei</strong> den<br />
Grundschullehrern gab es bisher nicht viele Pädagoginnen<br />
und Pädagogen mit Migrationshintergrund.<br />
Das än<strong>der</strong>t sich jetzt. Also <strong>bei</strong> den Studenten,<br />
die <strong>bei</strong> uns ins Praktikum kommen, ist <strong>der</strong><br />
Anteil schon deutlich höher, <strong>bei</strong> den Referendaren<br />
geht es auch los und setzt sich <strong>bei</strong> den Kolleginnen<br />
und Kollegen fort.<br />
MARESI LASSEK: Ja, es ist hilfreich, aber wir können<br />
natürlich nie alles abbilden, was an Sprachen von<br />
den Familien mitgebracht wird. Aber für die Hauptgruppen<br />
ist es sehr entlastend, wenn jemand die<br />
Sprache spricht, zum Beispiel für Übersetzungen<br />
<strong>bei</strong> Elterngesprächen.<br />
BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Es hat auch eine Vorbildfunktion.<br />
Wir sehen das <strong>bei</strong> einem Arabisch<br />
sprechenden Physiklehrer hier in <strong>der</strong> Nachbarschule<br />
›Koblenzer Straße‹. Beson<strong>der</strong>s die Jungs nehmen<br />
das sehr positiv wahr, wenn es einen Lehrer aus<br />
ihrem ›Sprachraum‹ gibt.<br />
THOMAS SCHWARZER: Gut, bleiben wir noch <strong>bei</strong> den<br />
Sprachen. In vielen Schulen wird gesagt, es ist notwendig,<br />
auf jeden Fall gut Deutsch zu lernen. Aber es gibt gleichzeitig<br />
die For<strong>der</strong>ung, auch die Herkunftssprache anzuerkennen<br />
und zu för<strong>der</strong>n. In Ihrem Bewerbungspapier zum<br />
Deutschen Schulpreis habe ich gesehen, dass Sie einen<br />
›Dreischritt‹ praktizieren: Wichtig ist Deutsch, dann Englisch<br />
ab <strong>der</strong> dritten Schulklasse und gleichzeitig soll<br />
die Herkunftssprache aufgewertet werden. Wie genau<br />
sieht das im Schulalltag aus?<br />
MARESI LASSEK: Wir haben zum Beispiel eine sehr<br />
engagierte türkische Pädagogin. Sie hat das Prinzip<br />
<strong>der</strong> Alphabetisierung im Fach Deutsch auf den<br />
türkischen Muttersprachenunterricht übertragen<br />
und ar<strong>bei</strong>tet <strong>bei</strong> <strong>der</strong> Alphabetisierung in <strong>der</strong> türkischen<br />
Sprache sozusagen parallel zum Deutschunterricht.<br />
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass<br />
die türkischen Kin<strong>der</strong> zu denen gehören, die am<br />
schnellsten lesen lernen. Sie bekommen das Prinzip<br />
in ihrer Muttersprache vermittelt und lernen<br />
alles praktisch zweimal. Durch die zusätzliche<br />
Praxis in <strong>der</strong> Muttersprache verstehen die Kin<strong>der</strong><br />
den Prozess besser. Die Erfahrung spricht ganz klar<br />
für den Muttersprachenunterricht.<br />
Aber wir müssen differenziert hingucken. Wir<br />
sagen nicht zu Eltern, sprecht Zuhause Deutsch<br />
und nicht mehr Türkisch. Es ist sehr wichtig, die<br />
Herkunftssprache gut zu sprechen, denn darin<br />
bilden Kin<strong>der</strong> Sprachstrukturen aus und können<br />
diese dann als Kompetenz auf an<strong>der</strong>e Sprachen<br />
übertragen. Nach unseren Erfahrungen lernen<br />
Kin<strong>der</strong>, die ihre Muttersprache gut sprechen, auch<br />
besser die deutsche Sprache.<br />
Aber dieses Sprachvermögen in <strong>der</strong> Muttersprache<br />
ist nicht <strong>bei</strong> allen Kin<strong>der</strong>n vorhanden, darauf<br />
können wir nicht bauen. Wir stehen im Alltag<br />
vor <strong>der</strong> Frage, wie auch diese Kin<strong>der</strong> am besten<br />
Deutsch lernen können.<br />
Für uns lag von jeher <strong>der</strong> entscheidende Ansatz<br />
zum Lernen (also auch zum Deutschlernen) in<br />
<strong>der</strong> Schul- und in <strong>der</strong> Unterrichtsorganisation mit<br />
dem Ansatz, Sprache zu lernen durch viel sprechen.<br />
Unser Konzept ist so angelegt, dass wir den Kin<strong>der</strong>n<br />
möglichst viele Gelegenheiten zum Sprechen<br />
geben, und zwar <strong>bei</strong>m Ar<strong>bei</strong>ten, <strong>bei</strong>m Üben, in<br />
freien Phasen und so weiter. Der Schwerpunkt liegt<br />
nicht auf Kleingruppenar<strong>bei</strong>t mit Wortschatz- und<br />
grammatikalischen Übungen, son<strong>der</strong>n auf dem<br />
Gesamtunterricht. Die Pause ist natürlich klassisch,<br />
dort dürfen unsere Kin<strong>der</strong> unbedingt ihre Muttersprache<br />
sprechen, also wir sagen hier nicht …<br />
THOMAS SCHWARZER: ... auf dem Schulhof ist nur<br />
Deutsch erlaubt.<br />
MARESI LASSEK: Das war mal ein Diskussionspunkt<br />
in den Medien, aber dieser Ansatz funktioniert<br />
nicht. Kleine Kin<strong>der</strong> müssen Gefühle und abstrakte<br />
Dinge in <strong>der</strong> Muttersprache ausdrücken können,<br />
das können sie nicht in <strong>der</strong> Fremdsprache. Es muss<br />
im Unterricht viele Möglichkeiten geben zum Sprechen,<br />
auch inhaltsvolle Möglichkeiten und dafür<br />
ist ein rhythmisierter Schultag sehr hilfreich, mit<br />
Phasen, in denen die Kin<strong>der</strong> miteinan<strong>der</strong> sprechen,<br />
wie sie wollen und können. Auch in den Ar<strong>bei</strong>tsphasen,<br />
wenn die Kin<strong>der</strong> miteinan<strong>der</strong> über ihre<br />
Ar<strong>bei</strong>t sprechen und sich gegenseitig helfen, bewusste<br />
Absprachen treffen o<strong>der</strong> etwas präsentieren.<br />
Also, immer wenn das Sprechen miteinan<strong>der</strong> eine<br />
wichtige Rolle spielt, sollen sie es tun können. Im<br />
Zentrum des Unterrichts steht <strong>bei</strong> uns nicht das<br />
Gespräch zwischen <strong>der</strong> Lehrerin hier und dem<br />
Kind dort, son<strong>der</strong>n das Gespräch <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> miteinan<strong>der</strong>.<br />
Schon im Morgenkreis spricht nicht ein<br />
Kind zur Lehrerin, son<strong>der</strong>n die Kin<strong>der</strong> sprechen<br />
miteinan<strong>der</strong>. So hat zum Beispiel die Morgenkreisleitung<br />
immer ein Kind, wodurch zentrierte Gespräche<br />
einen an<strong>der</strong>en Rahmen erhalten.<br />
BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Auch im Sachunterricht,<br />
in Mathematik und so weiter können Fachbegriffe<br />
und an<strong>der</strong>e neue Worte gelernt werden.<br />
MARESI LASSEK: Also, die Devise lautet, je<strong>der</strong> Unterricht<br />
ist auch Sprachunterricht und das muss<br />
überall indirekt mitgedacht werden: Welche neuen<br />
Begriffe sind in diesem Projekt wichtig, was müssen<br />
die Kin<strong>der</strong> lernen und wie bringe ich ihnen<br />
das ›rüber‹. Selbst <strong>bei</strong> je<strong>der</strong> Knobelaufgabe muss<br />
man erst mal gucken, welche Begriffe kennen die<br />
Kin<strong>der</strong> und welche nicht.<br />
THOMAS SCHWARZER: Das habe ich noch nicht ganz<br />
genau verstanden. Wenn die Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> ersten Klasse<br />
eingeschult werden, läuft <strong>der</strong> Unterricht in Deutsch –<br />
immer –, aber es gibt für die türkischen, kurdischen, russischen<br />
o<strong>der</strong> arabischen Kin<strong>der</strong> am Nachmittag zusätzlich<br />
muttersprachlichen Unterricht?<br />
MARESI LASSEK: Wenn die Kin<strong>der</strong> nicht die deutsche<br />
Staatsbürgerschaft haben, ist muttersprachlicher<br />
Unterricht Pflicht. Wenn sie die deutsche<br />
Staatsbürgerschaft haben, können die Eltern über<br />
die Teilnahme entscheiden. Wir empfehlen immer<br />
auch den muttersprachlichen Unterricht, aber<br />
es gibt Eltern, die sagen: ›Nein, mein Kind soll<br />
Deutsch lernen.‹ Es ist <strong>bei</strong> einem Teil <strong>der</strong> zugewan<strong>der</strong>ten<br />
Eltern nicht verankert, dass es für ihre<br />
Kin<strong>der</strong> wichtig und hilfreich ist, auch die Mutter-<br />
sprache zu festigen und schreiben zu lernen. Wir<br />
leisten dann Beratungsar<strong>bei</strong>t und häufig nehmen<br />
die Eltern den Rat auch an.<br />
THOMAS SCHWARZER: Angenommen, eine deutsche<br />
Familie mit einer türkischen Migrationsgeschichte kommt<br />
zu ihnen und sagt, wir wollen, um den Kontakt in unsere<br />
Heimat pflegen zu können, dass unser Kind zusätzlich<br />
muttersprachlichen Unterricht bekommt, ist das möglich?<br />
MARESI LASSEK: Ja, das unterstützen wir. Es gibt<br />
manchmal auch den Wunsch von deutschen Eltern,<br />
die wollen, dass ihr Kind am türkischen Unterricht<br />
teilnehmen kann. Das funktioniert nicht, denn es<br />
ist ein Muttersprachenunterricht.<br />
BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Es gibt inzwischen<br />
auch türkische Familien, die überlegen, wie<strong>der</strong><br />
zurück in die Türkei zu gehen, um sich dort eine<br />
Existenz aufzubauen und die wollen den türkischen<br />
muttersprachlichen Unterricht ganz dringend.<br />
MARESI LASSEK: Ja und es gibt Umsiedler aus<br />
Russland, die sich früher als zugewan<strong>der</strong>te Deutsche<br />
von <strong>der</strong> russischen Sprache distanziert haben,<br />
die aber jetzt russischen muttersprachlichen<br />
Unterricht wünschen. Denen ist klar, was für ein<br />
Pfund diese Zweisprachigkeit für die Zukunft ist.<br />
Aber lei<strong>der</strong> können wir das bisher nicht finanzieren,<br />
da gibt es keine Möglichkeit.<br />
BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Weil sie die deutsche<br />
Staatsangehörigkeit haben, haben sie keinen<br />
Anspruch darauf.<br />
THOMAS SCHWARZER: Habe ich das richtig verstanden?<br />
Die Zuteilung von Stunden für den muttersprachlichen<br />
Unterricht ist an die Migrationsgeschichte gekoppelt?<br />
MARESI LASSEK: Ja, es wird nach dem Migrationshintergrund<br />
entschieden, nicht nach <strong>der</strong> Staatsbürgerschaft.<br />
Die Schulbehörde filtert ganz genau<br />
heraus, wie viele Kin<strong>der</strong> das sind.<br />
BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Und viele kurdische<br />
Kin<strong>der</strong> haben die türkische Staatsangehörigkeit,<br />
dann muss das erst mal diskutiert und ausgehandelt<br />
werden.<br />
MARESI LASSEK: In solchen Fällen diskutieren auch<br />
unsere <strong>bei</strong>den Lehrkräfte: Das Kind gehört zu mir<br />
– nein, das gehört zu mir. Ist so, da muss ich<br />
manchmal schlichten.<br />
THOMAS SCHWARZER: Beim Thema Sprache möchte ich<br />
gerne noch nach <strong>der</strong> Zusammenar<strong>bei</strong>t mit <strong>der</strong> Kita fragen.<br />
Wie ist das <strong>bei</strong> Ihnen, wenn Kin<strong>der</strong> etwa zwei Jahre den<br />
Kin<strong>der</strong>garten besucht haben, haben sie dann die erfor<strong>der</strong>lichen<br />
sprachlichen Grundlagen für die Grundschulzeit?