29.12.2013 Aufrufe

Aus Vielfalt eigene Stärken entwickeln - bei der ...

Aus Vielfalt eigene Stärken entwickeln - bei der ...

Aus Vielfalt eigene Stärken entwickeln - bei der ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

54<br />

B E R I C H T Z U R S O Z I A L E N L AG E 2 012<br />

55<br />

I M U M G A NG M I T V I E L FA LT E I G E N E S TÄRKEN E N T W I C K E L N<br />

Die Devise lautet, je<strong>der</strong> Unterricht ist auch Sprachunterricht<br />

und das muss überall indirekt mitgedacht werden.<br />

Viele Sprachen – mehrsprachiges Lernen<br />

THOMAS SCHWARZER: Es gibt ja den Standpunkt, gerade<br />

in Schulen mit so vielen internationalen Kin<strong>der</strong>n, unbedingt<br />

pädagogische Kräfte mit einer Migrationsgeschichte<br />

einzustellen, die auch noch an<strong>der</strong>e Sprachen sprechen.<br />

Suchen Sie aktiv nach solchen mehrsprachigen Kolleginnen<br />

und Kollegen?<br />

BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Wir haben immer<br />

schon eine türkische Kollegin und einen kurdischen<br />

Kollegen gehabt, wir hatten durch den muttersprachlichen<br />

Unterricht einen polnischen Kollegen<br />

und <strong>bei</strong> den pädagogischen Betreuern hatten<br />

wir eine Perserin über viele Jahre. Wir haben eine<br />

Russisch sprechende Sekretärin und jetzt, relativ<br />

neu, auch eine Russisch sprechende Lehrerin. Das<br />

ist einfach praktisch, wenn man Eltern vor sich<br />

hat, die wenig verstehen, dass man jemanden zur<br />

Verfügung hat, <strong>der</strong> helfen kann.<br />

MARESI LASSEK: Unsere Verwaltungskraft ist sehr<br />

hilfreich, weil wir einen relativ hohen Anteil<br />

von Kin<strong>der</strong>n aus Russland haben. Schon <strong>bei</strong> <strong>der</strong><br />

Schulanmeldung, wenn Eltern merken, ich kann<br />

das in meiner Muttersprache regeln, werden formale<br />

Angelegenheiten sehr erleichtert.<br />

BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Ich sage mal, <strong>bei</strong> den<br />

Grundschullehrern gab es bisher nicht viele Pädagoginnen<br />

und Pädagogen mit Migrationshintergrund.<br />

Das än<strong>der</strong>t sich jetzt. Also <strong>bei</strong> den Studenten,<br />

die <strong>bei</strong> uns ins Praktikum kommen, ist <strong>der</strong><br />

Anteil schon deutlich höher, <strong>bei</strong> den Referendaren<br />

geht es auch los und setzt sich <strong>bei</strong> den Kolleginnen<br />

und Kollegen fort.<br />

MARESI LASSEK: Ja, es ist hilfreich, aber wir können<br />

natürlich nie alles abbilden, was an Sprachen von<br />

den Familien mitgebracht wird. Aber für die Hauptgruppen<br />

ist es sehr entlastend, wenn jemand die<br />

Sprache spricht, zum Beispiel für Übersetzungen<br />

<strong>bei</strong> Elterngesprächen.<br />

BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Es hat auch eine Vorbildfunktion.<br />

Wir sehen das <strong>bei</strong> einem Arabisch<br />

sprechenden Physiklehrer hier in <strong>der</strong> Nachbarschule<br />

›Koblenzer Straße‹. Beson<strong>der</strong>s die Jungs nehmen<br />

das sehr positiv wahr, wenn es einen Lehrer aus<br />

ihrem ›Sprachraum‹ gibt.<br />

THOMAS SCHWARZER: Gut, bleiben wir noch <strong>bei</strong> den<br />

Sprachen. In vielen Schulen wird gesagt, es ist notwendig,<br />

auf jeden Fall gut Deutsch zu lernen. Aber es gibt gleichzeitig<br />

die For<strong>der</strong>ung, auch die Herkunftssprache anzuerkennen<br />

und zu för<strong>der</strong>n. In Ihrem Bewerbungspapier zum<br />

Deutschen Schulpreis habe ich gesehen, dass Sie einen<br />

›Dreischritt‹ praktizieren: Wichtig ist Deutsch, dann Englisch<br />

ab <strong>der</strong> dritten Schulklasse und gleichzeitig soll<br />

die Herkunftssprache aufgewertet werden. Wie genau<br />

sieht das im Schulalltag aus?<br />

MARESI LASSEK: Wir haben zum Beispiel eine sehr<br />

engagierte türkische Pädagogin. Sie hat das Prinzip<br />

<strong>der</strong> Alphabetisierung im Fach Deutsch auf den<br />

türkischen Muttersprachenunterricht übertragen<br />

und ar<strong>bei</strong>tet <strong>bei</strong> <strong>der</strong> Alphabetisierung in <strong>der</strong> türkischen<br />

Sprache sozusagen parallel zum Deutschunterricht.<br />

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass<br />

die türkischen Kin<strong>der</strong> zu denen gehören, die am<br />

schnellsten lesen lernen. Sie bekommen das Prinzip<br />

in ihrer Muttersprache vermittelt und lernen<br />

alles praktisch zweimal. Durch die zusätzliche<br />

Praxis in <strong>der</strong> Muttersprache verstehen die Kin<strong>der</strong><br />

den Prozess besser. Die Erfahrung spricht ganz klar<br />

für den Muttersprachenunterricht.<br />

Aber wir müssen differenziert hingucken. Wir<br />

sagen nicht zu Eltern, sprecht Zuhause Deutsch<br />

und nicht mehr Türkisch. Es ist sehr wichtig, die<br />

Herkunftssprache gut zu sprechen, denn darin<br />

bilden Kin<strong>der</strong> Sprachstrukturen aus und können<br />

diese dann als Kompetenz auf an<strong>der</strong>e Sprachen<br />

übertragen. Nach unseren Erfahrungen lernen<br />

Kin<strong>der</strong>, die ihre Muttersprache gut sprechen, auch<br />

besser die deutsche Sprache.<br />

Aber dieses Sprachvermögen in <strong>der</strong> Muttersprache<br />

ist nicht <strong>bei</strong> allen Kin<strong>der</strong>n vorhanden, darauf<br />

können wir nicht bauen. Wir stehen im Alltag<br />

vor <strong>der</strong> Frage, wie auch diese Kin<strong>der</strong> am besten<br />

Deutsch lernen können.<br />

Für uns lag von jeher <strong>der</strong> entscheidende Ansatz<br />

zum Lernen (also auch zum Deutschlernen) in<br />

<strong>der</strong> Schul- und in <strong>der</strong> Unterrichtsorganisation mit<br />

dem Ansatz, Sprache zu lernen durch viel sprechen.<br />

Unser Konzept ist so angelegt, dass wir den Kin<strong>der</strong>n<br />

möglichst viele Gelegenheiten zum Sprechen<br />

geben, und zwar <strong>bei</strong>m Ar<strong>bei</strong>ten, <strong>bei</strong>m Üben, in<br />

freien Phasen und so weiter. Der Schwerpunkt liegt<br />

nicht auf Kleingruppenar<strong>bei</strong>t mit Wortschatz- und<br />

grammatikalischen Übungen, son<strong>der</strong>n auf dem<br />

Gesamtunterricht. Die Pause ist natürlich klassisch,<br />

dort dürfen unsere Kin<strong>der</strong> unbedingt ihre Muttersprache<br />

sprechen, also wir sagen hier nicht …<br />

THOMAS SCHWARZER: ... auf dem Schulhof ist nur<br />

Deutsch erlaubt.<br />

MARESI LASSEK: Das war mal ein Diskussionspunkt<br />

in den Medien, aber dieser Ansatz funktioniert<br />

nicht. Kleine Kin<strong>der</strong> müssen Gefühle und abstrakte<br />

Dinge in <strong>der</strong> Muttersprache ausdrücken können,<br />

das können sie nicht in <strong>der</strong> Fremdsprache. Es muss<br />

im Unterricht viele Möglichkeiten geben zum Sprechen,<br />

auch inhaltsvolle Möglichkeiten und dafür<br />

ist ein rhythmisierter Schultag sehr hilfreich, mit<br />

Phasen, in denen die Kin<strong>der</strong> miteinan<strong>der</strong> sprechen,<br />

wie sie wollen und können. Auch in den Ar<strong>bei</strong>tsphasen,<br />

wenn die Kin<strong>der</strong> miteinan<strong>der</strong> über ihre<br />

Ar<strong>bei</strong>t sprechen und sich gegenseitig helfen, bewusste<br />

Absprachen treffen o<strong>der</strong> etwas präsentieren.<br />

Also, immer wenn das Sprechen miteinan<strong>der</strong> eine<br />

wichtige Rolle spielt, sollen sie es tun können. Im<br />

Zentrum des Unterrichts steht <strong>bei</strong> uns nicht das<br />

Gespräch zwischen <strong>der</strong> Lehrerin hier und dem<br />

Kind dort, son<strong>der</strong>n das Gespräch <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> miteinan<strong>der</strong>.<br />

Schon im Morgenkreis spricht nicht ein<br />

Kind zur Lehrerin, son<strong>der</strong>n die Kin<strong>der</strong> sprechen<br />

miteinan<strong>der</strong>. So hat zum Beispiel die Morgenkreisleitung<br />

immer ein Kind, wodurch zentrierte Gespräche<br />

einen an<strong>der</strong>en Rahmen erhalten.<br />

BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Auch im Sachunterricht,<br />

in Mathematik und so weiter können Fachbegriffe<br />

und an<strong>der</strong>e neue Worte gelernt werden.<br />

MARESI LASSEK: Also, die Devise lautet, je<strong>der</strong> Unterricht<br />

ist auch Sprachunterricht und das muss<br />

überall indirekt mitgedacht werden: Welche neuen<br />

Begriffe sind in diesem Projekt wichtig, was müssen<br />

die Kin<strong>der</strong> lernen und wie bringe ich ihnen<br />

das ›rüber‹. Selbst <strong>bei</strong> je<strong>der</strong> Knobelaufgabe muss<br />

man erst mal gucken, welche Begriffe kennen die<br />

Kin<strong>der</strong> und welche nicht.<br />

THOMAS SCHWARZER: Das habe ich noch nicht ganz<br />

genau verstanden. Wenn die Kin<strong>der</strong> in <strong>der</strong> ersten Klasse<br />

eingeschult werden, läuft <strong>der</strong> Unterricht in Deutsch –<br />

immer –, aber es gibt für die türkischen, kurdischen, russischen<br />

o<strong>der</strong> arabischen Kin<strong>der</strong> am Nachmittag zusätzlich<br />

muttersprachlichen Unterricht?<br />

MARESI LASSEK: Wenn die Kin<strong>der</strong> nicht die deutsche<br />

Staatsbürgerschaft haben, ist muttersprachlicher<br />

Unterricht Pflicht. Wenn sie die deutsche<br />

Staatsbürgerschaft haben, können die Eltern über<br />

die Teilnahme entscheiden. Wir empfehlen immer<br />

auch den muttersprachlichen Unterricht, aber<br />

es gibt Eltern, die sagen: ›Nein, mein Kind soll<br />

Deutsch lernen.‹ Es ist <strong>bei</strong> einem Teil <strong>der</strong> zugewan<strong>der</strong>ten<br />

Eltern nicht verankert, dass es für ihre<br />

Kin<strong>der</strong> wichtig und hilfreich ist, auch die Mutter-<br />

sprache zu festigen und schreiben zu lernen. Wir<br />

leisten dann Beratungsar<strong>bei</strong>t und häufig nehmen<br />

die Eltern den Rat auch an.<br />

THOMAS SCHWARZER: Angenommen, eine deutsche<br />

Familie mit einer türkischen Migrationsgeschichte kommt<br />

zu ihnen und sagt, wir wollen, um den Kontakt in unsere<br />

Heimat pflegen zu können, dass unser Kind zusätzlich<br />

muttersprachlichen Unterricht bekommt, ist das möglich?<br />

MARESI LASSEK: Ja, das unterstützen wir. Es gibt<br />

manchmal auch den Wunsch von deutschen Eltern,<br />

die wollen, dass ihr Kind am türkischen Unterricht<br />

teilnehmen kann. Das funktioniert nicht, denn es<br />

ist ein Muttersprachenunterricht.<br />

BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Es gibt inzwischen<br />

auch türkische Familien, die überlegen, wie<strong>der</strong><br />

zurück in die Türkei zu gehen, um sich dort eine<br />

Existenz aufzubauen und die wollen den türkischen<br />

muttersprachlichen Unterricht ganz dringend.<br />

MARESI LASSEK: Ja und es gibt Umsiedler aus<br />

Russland, die sich früher als zugewan<strong>der</strong>te Deutsche<br />

von <strong>der</strong> russischen Sprache distanziert haben,<br />

die aber jetzt russischen muttersprachlichen<br />

Unterricht wünschen. Denen ist klar, was für ein<br />

Pfund diese Zweisprachigkeit für die Zukunft ist.<br />

Aber lei<strong>der</strong> können wir das bisher nicht finanzieren,<br />

da gibt es keine Möglichkeit.<br />

BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Weil sie die deutsche<br />

Staatsangehörigkeit haben, haben sie keinen<br />

Anspruch darauf.<br />

THOMAS SCHWARZER: Habe ich das richtig verstanden?<br />

Die Zuteilung von Stunden für den muttersprachlichen<br />

Unterricht ist an die Migrationsgeschichte gekoppelt?<br />

MARESI LASSEK: Ja, es wird nach dem Migrationshintergrund<br />

entschieden, nicht nach <strong>der</strong> Staatsbürgerschaft.<br />

Die Schulbehörde filtert ganz genau<br />

heraus, wie viele Kin<strong>der</strong> das sind.<br />

BEATRIX HARNISCH-SOLLER: Und viele kurdische<br />

Kin<strong>der</strong> haben die türkische Staatsangehörigkeit,<br />

dann muss das erst mal diskutiert und ausgehandelt<br />

werden.<br />

MARESI LASSEK: In solchen Fällen diskutieren auch<br />

unsere <strong>bei</strong>den Lehrkräfte: Das Kind gehört zu mir<br />

– nein, das gehört zu mir. Ist so, da muss ich<br />

manchmal schlichten.<br />

THOMAS SCHWARZER: Beim Thema Sprache möchte ich<br />

gerne noch nach <strong>der</strong> Zusammenar<strong>bei</strong>t mit <strong>der</strong> Kita fragen.<br />

Wie ist das <strong>bei</strong> Ihnen, wenn Kin<strong>der</strong> etwa zwei Jahre den<br />

Kin<strong>der</strong>garten besucht haben, haben sie dann die erfor<strong>der</strong>lichen<br />

sprachlichen Grundlagen für die Grundschulzeit?

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!