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Aus Vielfalt eigene Stärken entwickeln - bei der ...

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B E R I C H T Z U R S O Z I A L E N L AG E 2 012<br />

51<br />

I M U M G A NG M I T V I E L FA LT E I G E N E S TÄRKEN E N T W I C K E L N<br />

Im Umgang mit <strong>Vielfalt</strong><br />

<strong>eigene</strong> <strong>Stärken</strong> <strong>entwickeln</strong><br />

INTERVIEW MIT MARESI LASSEK<br />

UND BEATRIX HARNISCH-SOLLER<br />

Schulleitung Grundschule am<br />

Pfälzer Weg (Tenever), 2012 mit dem<br />

Deutschen Schulpreis ausgezeichnet.<br />

❚ Fragen: THOMAS SCHWARZER,<br />

Referent für kommunale Sozialpolitik,<br />

Ar<strong>bei</strong>tnehmerkammer Bremen<br />

THOMAS SCHWARZER: Frau Lassek, können Sie sich<br />

noch erinnern, als Sie das erste Mal nach Tenever gekommen<br />

sind? Wie war das damals für Sie?<br />

MARESI LASSEK: Ja, es war 1993, als ich mich für<br />

diese Schule in Tenever beworben habe und ich<br />

war unsicher.<br />

THOMAS SCHWARZER: Ob Sie das machen wollen?<br />

MARESI LASSEK: Nein, nicht ob ich es machen will,<br />

denn ich wusste, dass ich hierher möchte. Mein<br />

Ansatz war damals, eine an<strong>der</strong>e Vorstellung von<br />

Schule und von Unterricht einzubringen. Ich habe<br />

vorher in einem bürgerlichen Stadtteil gear<strong>bei</strong>tet<br />

und mir vielleicht etwas blauäugig auf die Fahnen<br />

geschrieben, das Image einer Schule in einem<br />

Stadtteil wie Tenever mit zum Positiven verän<strong>der</strong>n<br />

zu helfen. Jetzt, als wir den Schulpreis bekamen,<br />

habe ich so für mich ganz still und heimlich überlegt,<br />

ist dir das jetzt nach 19 Jahren ein bisschen<br />

gelungen – o<strong>der</strong> immer noch nicht? Deshalb ist<br />

Ihre Frage interessant, weil ich selbst diese Rückerinnerung<br />

hatte.<br />

Ich war damals auch unsicher, weil ich vorher<br />

eher Erfahrungen im bürgerlichen Umfeld hatte<br />

und nicht mit Kin<strong>der</strong>n aus so vielen Kulturen. Aber<br />

ich hatte auch nicht geahnt, wie wun<strong>der</strong>bar diese<br />

Kin<strong>der</strong> sein können. Es braucht eine Weile, bis<br />

man das feststellt und dann anfängt, in eine an<strong>der</strong>e<br />

Richtung zu denken und zu ar<strong>bei</strong>ten. Nicht<br />

in die Richtung, hier musst du immer nur Lücken<br />

stopfen und ausgleichen und unterstützen, son<strong>der</strong>n<br />

hier gibt es auch Ressourcen.<br />

THOMAS SCHWARZER: Aber ich habe in ähnlichen Stadtteilen<br />

oft erlebt, dass viele Kolleginnen stöhnen und über<br />

die Belastungen reden, durch die schwierigen materiellen<br />

Situationen, in denen viele dieser Kin<strong>der</strong> leben. Wie sind<br />

Sie hier auf den Weg gekommen in diese ›an<strong>der</strong>e Richtung‹?<br />

MARESI LASSEK: Also, ich gebe Ihnen recht mit<br />

dem Stöhnen. Als ich hier anfing, zu <strong>der</strong> Zeit als<br />

diese Schule im Aufbau war, kamen eine Reihe von<br />

Kolleginnen aus <strong>der</strong> Nachbarschule, die einfach zu<br />

groß geworden war, dazu. Der Pfälzer Weg wurde<br />

also mit einem Kollegium besetzt, das überwiegend<br />

aus dem Stadtteil kam. Zu <strong>der</strong> Zeit war genau<br />

dieses Stöhnen auch da. Es gab die <strong>Aus</strong>sage, Kin<strong>der</strong><br />

in diesem Quartier hätten keinen Zugang und<br />

wenig Interesse am Lernen in <strong>der</strong> Schule und am<br />

Erlernen <strong>der</strong> Kulturtechniken. Es wurde die viel<br />

zu geringe Lernmotivation <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> bedauert.<br />

Hier in <strong>der</strong> Grundschule am Pfälzer Weg wurde<br />

ab 1993 <strong>der</strong> Ansatz verfolgt, den Schulanfang zu<br />

verän<strong>der</strong>n. Kin<strong>der</strong>, denen es ohnehin nicht so gut<br />

geht, sollten nicht auch noch ständig ›sortiert‹ werden:<br />

in Vorklasse, erste Klasse, Son<strong>der</strong>schule o<strong>der</strong><br />

durch Rückstellung in den Kin<strong>der</strong>garten. Wir wollten<br />

einen Schulanfang, <strong>bei</strong> dem die Kin<strong>der</strong> ankommen<br />

in <strong>der</strong> Schule und bleiben. Die Schule muss<br />

sich auf die Kin<strong>der</strong> einstellen und nicht Kin<strong>der</strong> sortieren.<br />

Die Kin<strong>der</strong> sollten Zeit haben, um klarzukommen<br />

und mithilfe von pädagogischen Konzepten<br />

unterstützt werden. Wir sind daher eingestiegen<br />

in die jahrgangsübergreifende Ar<strong>bei</strong>t, aber<br />

nicht allein als Schule, son<strong>der</strong>n in Zusammenar<strong>bei</strong>t<br />

mit dem Kin<strong>der</strong>garten (heute Familienzentrum<br />

Regenbogenhaus), von dem wir die meisten<br />

Kin<strong>der</strong> bekommen. Mit den Kita-Kolleginnen<br />

haben wir das Konzept vor Beginn des Schuljahres<br />

1993/94 besprochen und dann diese neue Organisationsform<br />

realisiert.<br />

Da eine so radikale Verän<strong>der</strong>ung nicht im Alleingang<br />

bewältigt werden kann, hat sich ein Team<br />

von Lehrerinnen mit dem Ansatz des jahrgangsübergreifenden<br />

Lernens auseinan<strong>der</strong>gesetzt. Dieses<br />

Team hat vor allem inhaltlich gear<strong>bei</strong>tet an Fragen<br />

wie: Welche Strukturen brauchen wir für die<br />

Ar<strong>bei</strong>t, welche Ar<strong>bei</strong>tsmaterialien, welche Methoden,<br />

wie richten wir die Räume ein und so weiter.<br />

Wir hatten ja das Glück, als neue Schule ein bisschen<br />

mitbestimmen zu können <strong>bei</strong> <strong>der</strong> Einrichtung<br />

<strong>der</strong> Räume und <strong>bei</strong> <strong>der</strong> Beschaffung <strong>der</strong> Materialien,<br />

das war gut. Im Laufe dieses Tuns, ich sag<br />

mal nach zwei bis drei Jahren, waren Diskussionen<br />

über die Einschätzung ›die Kin<strong>der</strong> sind nicht motiviert‹<br />

hier in dieser Schule weg. Es fiel erst nach<br />

längerer Zeit auf, dass wir schon länger nicht mehr<br />

darüber gejammert haben.<br />

Wir haben es an diesem Standort zu einem<br />

großen Teil mit Kin<strong>der</strong>n zu tun, die unter erschwerten<br />

Bedingungen in die Schule kommen.<br />

Zum Teil, weil ihre Familien sehr arm sind und sie<br />

nicht so ausstatten können wie an<strong>der</strong>e Familien,<br />

mit guten Ar<strong>bei</strong>tsmaterialien, gut gekleidet, saisongemäß<br />

gekleidet und solche Dinge. O<strong>der</strong> weil sie<br />

aus großen Familien kommen und nicht so viel<br />

Zuwendung durch die Eltern erfahren können,<br />

weil mehrere Geschwister Aufmerksamkeit verlangen.<br />

Viele Kin<strong>der</strong> haben keinen Zugang zu bedeutsamem<br />

Umweltwissen, weil sie aus Tenever nicht<br />

rauskommen. An<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong>um leben unter ganz<br />

schwierigen Bedingungen mit elementaren Problemen<br />

in den Familien. Diese Differenzierung hat<br />

sich immer mehr herausgebildet und auch das<br />

Wissen darum, wie unterschiedlich diese Kin<strong>der</strong><br />

sind, wie stark o<strong>der</strong> schwach und welche unterschiedlichen<br />

Kompetenzen sie mitbringen. Es sind<br />

eben nicht pauschal ›die Kin<strong>der</strong>‹, die bildungsfern<br />

sind, die deutsche Sprache nicht beherrschen<br />

o<strong>der</strong> nicht regelmäßig in die Schule kommen.<br />

THOMAS SCHWARZER: Ist nicht <strong>der</strong> Begriff ›bildungsfern‹<br />

überhaupt ungeeignet für die Ar<strong>bei</strong>t mit Kin<strong>der</strong>n?<br />

MARESI LASSEK: Also, ich definiere Bildungsferne<br />

an<strong>der</strong>s. Es geht nicht um die Zuschreibung an die<br />

Familien o<strong>der</strong> an die Kin<strong>der</strong>, die mit Bildung<br />

›nichts am Hut haben‹. Viele unserer Kin<strong>der</strong> haben<br />

zu wenig Gelegenheiten und Möglichkeiten, in<br />

denen sie sich bilden können. Wir verbinden Bildung<br />

immer mit dem, was in <strong>der</strong> Schule passiert,<br />

was sich jemand anliest, wie er sich in Fachthemen<br />

einar<strong>bei</strong>tet. Aber Bildung ist so viel mehr<br />

und davon sind unsere Kin<strong>der</strong> zu einem guten Teil<br />

abgeschnitten. Sie können nicht in den Urlaub<br />

fahren mit <strong>der</strong> Familie, um Erfahrungen mit an<strong>der</strong>en<br />

Sprachen zu machen und zu lernen, wie man<br />

reist, wie man in an<strong>der</strong>en Städten und Län<strong>der</strong>n<br />

lebt. Aber auch wie es zum Beispiel ist, im Zug zu<br />

fahren und Fragen stellen zu können. Wir müssen<br />

also schauen, was sie von Bildung fernhält o<strong>der</strong><br />

wodurch diese Distanz zu dem entsteht, was wir<br />

Bildung nennen. Wir haben zum Beispiel auch<br />

eine Reihe von Kin<strong>der</strong>n, die aus Akademikerfamilien<br />

kommen, nur hier leben sie in Armut, da die<br />

Eltern ihren Beruf nicht ausüben können. Aber<br />

diese Eltern haben ein Bildungsbewusstsein und<br />

möchten, dass ihre Kin<strong>der</strong> eine gute Schulausbildung<br />

machen.<br />

Wir haben, als wir mit <strong>der</strong> jahrgangsübergreifenden<br />

Ar<strong>bei</strong>t anfingen, eine Elternbefragung<br />

durchgeführt. Da gab es unter an<strong>der</strong>em die Frage,<br />

welchen Schulabschluss haben die Eltern und<br />

welchen wünschen sie sich für ihr Kind? Die Eltern<br />

haben durchweg registriert, ihr Kind soll und<br />

muss einen besseren Bildungsabschluss haben als<br />

sie selbst. Ihnen war zum großen Teil auch klar,<br />

dass ein Abschluss mit dem Abitur ausgesprochen<br />

wünschenswert wäre – <strong>bei</strong> manchen kein realistischer<br />

Wunsch, aber trotzdem war er im Wissen<br />

<strong>der</strong> Eltern da. Also, die Erfahrung mit den Kin<strong>der</strong>n<br />

zeigt, dass sie mit <strong>der</strong> Bezeichnung ›Bildungsferne‹<br />

nicht richtig beschrieben werden: Sie sind neugierig,<br />

sie möchten viel wissen und sie genießen jede<br />

zusätzliche Anregung am Nachmittag o<strong>der</strong> <strong>bei</strong><br />

Exkursionen. Sie sind begeisterungsfähig und sehr<br />

dankbar – unsere Kin<strong>der</strong> sind ausgesprochen dankbar<br />

– und das sind <strong>Stärken</strong>, die wir nutzen können.<br />

THOMAS SCHWARZER: Und das ist wie<strong>der</strong> für die Lehrer<br />

motivierend, wenn die Kin<strong>der</strong> begeistert sind?<br />

MARESI LASSEK: Ja, da kriegen wir viel zurück von<br />

den Kin<strong>der</strong>n und das hält wahrscheinlich auch<br />

viele Lehrerinnen lange in diesem Stadtteil.<br />

THOMAS SCHWARZER: Noch einmal zurück zu den<br />

Rahmenbedingungen. Sie haben ja gesagt, ein Team hat<br />

damals angefangen mit dem altersübergreifenden Lernen.<br />

Aber es braucht ja auch die Unterstützung <strong>der</strong> Schulleitung.<br />

War das auch für die Schulleitung klar, diesen Weg<br />

zu gehen?<br />

MARESI LASSEK: Das war klar. Es gab eine Abstimmung<br />

mit dem Eltern<strong>bei</strong>rat und in <strong>der</strong> Gesamtkonferenz<br />

und die Abstimmung hat ergeben: Ja, wir<br />

verän<strong>der</strong>n den Schulanfang. Die Abstimmung hat<br />

gleichzeitig auch die Konditionen klargemacht.<br />

Die Lehrerinnen und Lehrer, die das möchten,<br />

ar<strong>bei</strong>ten in den neuen, jahrgangsübergreifenden<br />

Lerngruppen und die an<strong>der</strong>en, die ar<strong>bei</strong>ten wie bisher<br />

in Klasse drei und vier weiter. Es war wichtig,<br />

dass keiner gezwungen wird.<br />

Das hat aber auch mit sich gebracht, dass nach<br />

zwei Jahren im Kollegium zwei Teams bestanden.<br />

Das Team <strong>der</strong> Lerngruppen eins/zwei hatte viel<br />

Unterstützung durch die Schulleitung und auch<br />

durch die Bildungsbehörde. Wir konnten damals<br />

mit <strong>der</strong> jahrgangsübergreifenden Ar<strong>bei</strong>t beginnen,<br />

weil zum selben Zeitpunkt die freie Kin<strong>der</strong>schule<br />

in das staatliche Bildungssystem übernommen<br />

wurde und gezeigt werden sollte, dass altersgemischte<br />

Ar<strong>bei</strong>t auch an ›normalen‹ staatlichen<br />

Schulen möglich ist.<br />

Der Wechsel in die jahrgangsübergreifende<br />

Organisation ist für die Klassen drei und vier sehr<br />

viel später (2004) beschlossen worden, also nach elf<br />

Jahren. Dieser Prozess hat richtig lange gedauert,

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