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Aus Vielfalt eigene Stärken entwickeln - bei der ...

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B E R I C H T Z U R S O Z I A L E N L AG E 2 012<br />

47<br />

S P R AC H F Ö R D E R U NG – A B E R W I E ?<br />

Mehr sprachsensibel ausgebildetes Personal in den Bildungseinrichtungen,<br />

gezielte Fortbildungen für Erzieherinnen/Erzieher und<br />

Lehrerinnen/Lehrer sowie För<strong>der</strong>programme mit nachprüfbaren<br />

Standards sind jedoch zwingend erfor<strong>der</strong>lich.<br />

Die bisherige Praxis <strong>der</strong> Sprachför<strong>der</strong>ung<br />

Die Politik <strong>der</strong> deutschen Einsprachigkeit setzte<br />

lange, zumindest <strong>bei</strong> den hier aufgewachsenen Kin<strong>der</strong>n<br />

<strong>der</strong> Migranten, auf eine naheliegende und<br />

kostensparende Vorstellung. Der Spracherwerb sei<br />

durch die sie umgebende deutsche Sprache auch<br />

ohne spezielle För<strong>der</strong>ung möglich. Dazu sollen die<br />

Kin<strong>der</strong> schon möglichst früh von <strong>der</strong> deutschen<br />

Sprache ›umgeben‹ sein. Auch deshalb wird insbeson<strong>der</strong>e<br />

<strong>der</strong> freiwillige, aber kostenpflichtige<br />

Besuch einer Kin<strong>der</strong>tagesstätte gefor<strong>der</strong>t und dann<br />

vor allem durch den verpflichtenden Schulbesuch.<br />

Erst durch die PISA-Ergebnisse wurde offensichtlich,<br />

worüber viele Praktiker ›vor Ort‹ schon lange<br />

sprechen. Nicht alle Sprachgruppen an allen Orten<br />

erreichen in <strong>der</strong> gegebenen Zeit die erfor<strong>der</strong>lichen<br />

Sprachfähigkeiten. Vermittelt werden kann durchaus<br />

die Basis für eine alltagstaugliche deutsche<br />

›Umgangssprache‹. Viele Kin<strong>der</strong> erreichen jedoch<br />

nicht hinreichende Fertigkeiten in <strong>der</strong> Schriftlichkeit<br />

und <strong>der</strong> sogenannten Bildungssprache. Diese<br />

Kompetenzen können aber auch nicht durch mehr<br />

Sprachunterricht in herkömmlicher Form erreicht<br />

werden, wie zum Beispiel durch mehr Lernzeit in<br />

Ganztagsschulen. Sowohl die Praktikerinnen und<br />

Praktiker aus den Einrichtungen, wie auch Wissenschaftlerinnen<br />

und Wissenschaftler, die sich auf<br />

Ergebnisse von entsprechenden Modellprojekten<br />

stützen, sind sich einig: Ein Teil <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> aus Einwan<strong>der</strong>erfamilien<br />

erlernen die zusätzliche zweite<br />

Sprache we<strong>der</strong> spielend neben<strong>bei</strong> noch durch För<strong>der</strong>kurse<br />

von wenigen Stunden pro Woche ein Jahr<br />

vor <strong>der</strong> Einschulung. Doch gerade das ist die dominierende<br />

Erwartung und Praxis.<br />

Eine an<strong>der</strong>e wichtige Frage <strong>bei</strong> <strong>der</strong> Sprachför<strong>der</strong>ung<br />

ist selbst international weiterhin umstritten.<br />

Erleichtert die Konzentration auf ein möglichst<br />

gutes Erlernen <strong>der</strong> Muttersprache das spätere Erlernen<br />

einer zweiten Sprache (hier Deutsch)? O<strong>der</strong><br />

behin<strong>der</strong>t das Sprechen <strong>der</strong> Herkunftssprache den<br />

Erwerb <strong>der</strong> Verkehrssprache des Aufenthaltslandes?<br />

Weil dieser wissenschaftlich geführte Streit<br />

bisher ungeklärt ist, behelfen sich die für Sprachför<strong>der</strong>ung<br />

Zuständigen mit einer pragmatischen<br />

Position. Wichtiger als die ›Kür‹ <strong>der</strong> Mehrsprachigkeit<br />

sei als ›Pflichtprogramm‹ das Erlernen <strong>der</strong><br />

deutschen Sprache. Tatsächlich handelt es sich <strong>bei</strong><br />

dieser Position um keinen wirklichen Gegensatz.<br />

Denn in <strong>der</strong> Praxis von Kin<strong>der</strong>tagesstätten und<br />

Schulen zeigt sich, dass die Anerkennung und die<br />

Einbeziehung <strong>der</strong> Herkunftssprache, den Lernerfolg<br />

auch in <strong>der</strong> zweiten Sprache keineswegs<br />

bremst, son<strong>der</strong>n beför<strong>der</strong>t. Ganz abgesehen von<br />

<strong>der</strong> Wertschätzung, die den Kin<strong>der</strong>n auch für<br />

ihr Selbstbewusstsein zugutekommt, wenn ihre<br />

Muttersprache nicht als nachrangig behandelt<br />

o<strong>der</strong> sogar unterbunden wird.<br />

In den Alltag ›integrierte Sprachför<strong>der</strong>ung‹<br />

ist nicht zum Nulltarif zu haben<br />

Aufgrund <strong>der</strong> PISA-Ergebnisse haben Politikerinnen<br />

und Politiker und viele Einrichtungen begonnen,<br />

mehr Sprachför<strong>der</strong>ung in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>gartenzeit<br />

anzubieten. Dadurch sind über die letzten zehn<br />

Jahre, in den einzelnen Bundeslän<strong>der</strong>n und <strong>bei</strong><br />

den unterschiedlichen Trägern, ganz verschiedene<br />

Sprachför<strong>der</strong>programme eingeführt worden. Heute<br />

liegen die ersten Ergebnisse von wissenschaftlich<br />

begleiteten Modellprojekten vor. Sie zeigen, dass<br />

mit den meist relativ kurzen und auf die letzte<br />

Kin<strong>der</strong>gartenphase begrenzten För<strong>der</strong>programmen,<br />

die ›Sprachrückstände‹ nicht aufgeholt werden<br />

können. Es gibt viel Engagement, aber wenig nachweisbare<br />

Effekte.<br />

Allerdings stellt sich aufgrund <strong>der</strong> dargestellten<br />

Befunde die berechtigte Frage, ob die Erwartung<br />

eines raschen Erwerbs einer zweiten Sprache überhaupt<br />

realisitsch ist? Was deutschsprachige Kin<strong>der</strong><br />

(auch nicht alle!) in sechs Jahren lernen, kann in<br />

den Kin<strong>der</strong>tagesstätten <strong>bei</strong> Kin<strong>der</strong>n mit an<strong>der</strong>en<br />

Muttersprachen nicht in viel weniger Zeit erlernt<br />

o<strong>der</strong> sogar aufgeholt werden.<br />

In den Modellprojekten hat sich außerdem<br />

gezeigt, dass es eher wenig hilft, wenn Eltern zu<br />

Hause Deutsch mit ihren Kin<strong>der</strong>n sprechen, die<br />

selbst die deutsche Sprache nicht gut beherrschen.<br />

Dann besteht die Gefahr, dass die Kin<strong>der</strong> we<strong>der</strong><br />

die deutsche Sprache noch die Muttersprache gut<br />

lernen. In diesen Fällen können die staatlichen<br />

Einrichtungen nicht auf große Unterstützung<br />

durch die Familien bauen.<br />

Erfor<strong>der</strong>lich ist in jedem Fall eine gezielte<br />

Sprachför<strong>der</strong>ung auf dem pädagogisch ›neusten<br />

Stand‹. Doch trotz eines fast 30-jährigen Wissens<br />

mit Deutsch als Zweitsprache, existiert außerhalb<br />

einer überschaubaren Gruppe von sogenannten<br />

›<strong>Aus</strong>län<strong>der</strong>pädagogen‹ we<strong>der</strong> Lehrpersonal in hinreichen<strong>der</strong><br />

Zahl für den Regelunterricht in den<br />

Schulen noch werden an den Fachschulen für<br />

Erzieherinnen und Erzieher o<strong>der</strong> an den Hochschulen<br />

für Pädagogik genügend speziell ausgebildete<br />

Lehrkräfte qualifiziert. Mehr sprachsensibel ausgebildetes<br />

Personal in den Bildungseinrichtungen,<br />

gezielte Fortbildungen für Erzieherinnen/Erzieher<br />

und Lehrerinnen/Lehrer sowie För<strong>der</strong>programme<br />

mit nachprüfbaren Standards sind jedoch zwingend<br />

erfor<strong>der</strong>lich.<br />

Im Bundesland Bremen wurde im Schulgesetz<br />

von 2005 eine verpflichtende Feststellung über die<br />

Kenntnisse <strong>der</strong> deutschen Sprache für alle Kin<strong>der</strong><br />

zwischen vier und fünf Jahren verankert. Die erfor<strong>der</strong>liche<br />

Sprachför<strong>der</strong>ung <strong>der</strong>jenigen Kin<strong>der</strong> mit<br />

einem festgestellten Sprachför<strong>der</strong>bedarf, wurde<br />

jedoch erst mit dem Bremer Schulgesetz 2009<br />

verpflichtend. Seitdem müssen Kin<strong>der</strong> mit nicht<br />

als ausreichend eingestuften Sprachkenntnissen,<br />

im Jahr vor <strong>der</strong> Einschulung, an Sprachfördekursen<br />

teilnehmen. Die Einstufung <strong>der</strong> Sprachkenntnisse<br />

erfolgt über ein computergestütztes<br />

Testverfahren, den sogenannten Cito-Sprachtest.<br />

An diesem Test nehmen aktuell in Bremerhaven<br />

94 Prozent aller Kin<strong>der</strong> im Alter von vier Jahren<br />

teil, in Bremen 92 Prozent. Als <strong>der</strong> Cito-Test erstmals<br />

zur Anwendung kam, wurde mit einem För<strong>der</strong>bedarf<br />

von rund 15 bis 20 Prozent aller vierjährigen<br />

Kin<strong>der</strong> gerechnet. Die Ergebnisse zeigen<br />

jedoch, dass über die ganze Stadt Bremen zwischen<br />

30 und 40 Prozent aller Kin<strong>der</strong> einen För<strong>der</strong>bedarf<br />

hatten, in vielen Ortsteilen weit über 50 Prozent.<br />

Deutlich wurde außerdem nicht allein <strong>der</strong><br />

große För<strong>der</strong>bedarf für Kin<strong>der</strong> aus Familien mit<br />

einer Migrationsgeschichte, son<strong>der</strong>n auch für<br />

Kin<strong>der</strong> deutscher Herkunft.<br />

In <strong>der</strong> Praxis wird <strong>der</strong> Cito-Test von den Kin<strong>der</strong>tagesstätten<br />

und den Grundschulen, die ihn durchführen,<br />

als ›notwendiges Übel‹ hingenommen.<br />

Aber erst seit <strong>der</strong> Einführung des Tests konnte erstmals<br />

<strong>der</strong> große Bedarf an Sprachför<strong>der</strong>ung nachgewiesen<br />

werden. Auf dieser Grundlage erhalten<br />

die Kitas die finanziellen Ressourcen für För<strong>der</strong>kurse.<br />

Diejenigen Kin<strong>der</strong>, die daraufhin in <strong>der</strong> Kita<br />

eine Sprachför<strong>der</strong>ung erhalten haben, werden am<br />

Schulanfang noch einmal mit dem ›Cito-Sprachtest‹<br />

hinsichtlich ihrer Fortschritte untersucht.<br />

Durch das computergestützte Verfahren kann <strong>der</strong><br />

Test zeitökonomisch durchgeführt und nach<br />

›objektiven‹ Kriterien ausgewertet werden: Das<br />

heißt, unabhängig von persönlichen Einschätzun-<br />

gen durch die Lehrkräfte. Außerdem hat die Einführung<br />

des Testverfahrens zu verstärkten Anstrengungen<br />

<strong>bei</strong> <strong>der</strong> Sprachför<strong>der</strong>ung in Bremen<br />

geführt.<br />

Dennoch gilt das Cito-Testverfahren mittlerweile<br />

als veraltet und viele Praktikerinnen und Praktiker<br />

sehen den Test ausgesprochen kritisch. Faktisch<br />

handelt es sich nicht um ein kommunikatives Verfahren,<br />

son<strong>der</strong>n um eine Überprüfung des passiven<br />

Wortschatzes (Begriffe, Formen, Mengen,<br />

Größen) und des Textverständisses. Die zugrunde<br />

liegenden Kategorien und Bewertungen des Tests<br />

›messen‹ außerdem eine einsprachige, ›normale‹<br />

Sprachentwicklung. Kin<strong>der</strong>, die zweisprachig aufwachsen,<br />

werden nicht speziell berücksichtigt. Aufgrund<br />

dieser Kritik ist das Cito-Testverfahren zum<br />

Beispiel in den Nie<strong>der</strong>landen längst wie<strong>der</strong> abgeschafft<br />

worden. In Nordrhein-Westfalen und Bremen<br />

wird <strong>der</strong> Cito-Test weitergeführt, weil er zeitökonomisch<br />

durchgeführt und ausgewertet werden<br />

kann. Die konkrete Sprachför<strong>der</strong>ung erfolgt<br />

dann in Form von zwei zusätzlichen Stunden im<br />

letzten Jahr vor <strong>der</strong> Einschulung. Nicht allein <strong>der</strong><br />

zeitliche Umfang ist jedoch deutlich zu gering.<br />

Auch <strong>der</strong> Zeitpunkt erst kurz vor <strong>der</strong> Einschulung<br />

liegt zu spät, um tatsächlich Chancengleichheit<br />

ermöglichen zu können.<br />

Diese Kritik berücksichtigt <strong>der</strong> Bremer Schulentwicklungsplan<br />

von 2008 durchaus. Er charakterisiert<br />

Sprachför<strong>der</strong>ung als ›ganzheitliches Vorhaben‹,<br />

das heißt, Sprachför<strong>der</strong>ung soll in allen Bereichen<br />

des Alltags Berücksichtigung finden. Dieser<br />

Appell gilt ganz unabhängig von weiteren, speziellen<br />

und zusätzlichen För<strong>der</strong>kursen vor <strong>der</strong> Einschulung.<br />

❚ 2011 nahmen in <strong>der</strong> Stadt Bremen 4.400 Kin<strong>der</strong><br />

am Cito-Testverfahren teil und <strong>bei</strong> fast 40 Prozent<br />

von ihnen wurde ein För<strong>der</strong>bedarf festgestellt.<br />

In <strong>der</strong> Stadt Bremerhaven wurden 1.200<br />

Kin<strong>der</strong> getestet und für 54 Prozent von ihnen ein<br />

För<strong>der</strong>bedarf erkannt. Im letzten Kin<strong>der</strong>gartenjahr<br />

2010/2011 nahmen in <strong>der</strong> Stadt Bremen<br />

1.450 Kin<strong>der</strong> in 297 Kleingruppen zweimal in<br />

<strong>der</strong> Woche an einem Sprachför<strong>der</strong>kurs teil<br />

(30 Prozent <strong>der</strong> getesteten Kin<strong>der</strong>).<br />

Quelle: Autorenteam Bildungsberichterstattung Bremen und<br />

Bremerhaven (2012), S. 104

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