Aus Vielfalt eigene Stärken entwickeln - bei der ...
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B E R I C H T Z U R S O Z I A L E N L AG E 2 012<br />
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S P R AC H F Ö R D E R U NG – A B E R W I E ?<br />
Mehr sprachsensibel ausgebildetes Personal in den Bildungseinrichtungen,<br />
gezielte Fortbildungen für Erzieherinnen/Erzieher und<br />
Lehrerinnen/Lehrer sowie För<strong>der</strong>programme mit nachprüfbaren<br />
Standards sind jedoch zwingend erfor<strong>der</strong>lich.<br />
Die bisherige Praxis <strong>der</strong> Sprachför<strong>der</strong>ung<br />
Die Politik <strong>der</strong> deutschen Einsprachigkeit setzte<br />
lange, zumindest <strong>bei</strong> den hier aufgewachsenen Kin<strong>der</strong>n<br />
<strong>der</strong> Migranten, auf eine naheliegende und<br />
kostensparende Vorstellung. Der Spracherwerb sei<br />
durch die sie umgebende deutsche Sprache auch<br />
ohne spezielle För<strong>der</strong>ung möglich. Dazu sollen die<br />
Kin<strong>der</strong> schon möglichst früh von <strong>der</strong> deutschen<br />
Sprache ›umgeben‹ sein. Auch deshalb wird insbeson<strong>der</strong>e<br />
<strong>der</strong> freiwillige, aber kostenpflichtige<br />
Besuch einer Kin<strong>der</strong>tagesstätte gefor<strong>der</strong>t und dann<br />
vor allem durch den verpflichtenden Schulbesuch.<br />
Erst durch die PISA-Ergebnisse wurde offensichtlich,<br />
worüber viele Praktiker ›vor Ort‹ schon lange<br />
sprechen. Nicht alle Sprachgruppen an allen Orten<br />
erreichen in <strong>der</strong> gegebenen Zeit die erfor<strong>der</strong>lichen<br />
Sprachfähigkeiten. Vermittelt werden kann durchaus<br />
die Basis für eine alltagstaugliche deutsche<br />
›Umgangssprache‹. Viele Kin<strong>der</strong> erreichen jedoch<br />
nicht hinreichende Fertigkeiten in <strong>der</strong> Schriftlichkeit<br />
und <strong>der</strong> sogenannten Bildungssprache. Diese<br />
Kompetenzen können aber auch nicht durch mehr<br />
Sprachunterricht in herkömmlicher Form erreicht<br />
werden, wie zum Beispiel durch mehr Lernzeit in<br />
Ganztagsschulen. Sowohl die Praktikerinnen und<br />
Praktiker aus den Einrichtungen, wie auch Wissenschaftlerinnen<br />
und Wissenschaftler, die sich auf<br />
Ergebnisse von entsprechenden Modellprojekten<br />
stützen, sind sich einig: Ein Teil <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong> aus Einwan<strong>der</strong>erfamilien<br />
erlernen die zusätzliche zweite<br />
Sprache we<strong>der</strong> spielend neben<strong>bei</strong> noch durch För<strong>der</strong>kurse<br />
von wenigen Stunden pro Woche ein Jahr<br />
vor <strong>der</strong> Einschulung. Doch gerade das ist die dominierende<br />
Erwartung und Praxis.<br />
Eine an<strong>der</strong>e wichtige Frage <strong>bei</strong> <strong>der</strong> Sprachför<strong>der</strong>ung<br />
ist selbst international weiterhin umstritten.<br />
Erleichtert die Konzentration auf ein möglichst<br />
gutes Erlernen <strong>der</strong> Muttersprache das spätere Erlernen<br />
einer zweiten Sprache (hier Deutsch)? O<strong>der</strong><br />
behin<strong>der</strong>t das Sprechen <strong>der</strong> Herkunftssprache den<br />
Erwerb <strong>der</strong> Verkehrssprache des Aufenthaltslandes?<br />
Weil dieser wissenschaftlich geführte Streit<br />
bisher ungeklärt ist, behelfen sich die für Sprachför<strong>der</strong>ung<br />
Zuständigen mit einer pragmatischen<br />
Position. Wichtiger als die ›Kür‹ <strong>der</strong> Mehrsprachigkeit<br />
sei als ›Pflichtprogramm‹ das Erlernen <strong>der</strong><br />
deutschen Sprache. Tatsächlich handelt es sich <strong>bei</strong><br />
dieser Position um keinen wirklichen Gegensatz.<br />
Denn in <strong>der</strong> Praxis von Kin<strong>der</strong>tagesstätten und<br />
Schulen zeigt sich, dass die Anerkennung und die<br />
Einbeziehung <strong>der</strong> Herkunftssprache, den Lernerfolg<br />
auch in <strong>der</strong> zweiten Sprache keineswegs<br />
bremst, son<strong>der</strong>n beför<strong>der</strong>t. Ganz abgesehen von<br />
<strong>der</strong> Wertschätzung, die den Kin<strong>der</strong>n auch für<br />
ihr Selbstbewusstsein zugutekommt, wenn ihre<br />
Muttersprache nicht als nachrangig behandelt<br />
o<strong>der</strong> sogar unterbunden wird.<br />
In den Alltag ›integrierte Sprachför<strong>der</strong>ung‹<br />
ist nicht zum Nulltarif zu haben<br />
Aufgrund <strong>der</strong> PISA-Ergebnisse haben Politikerinnen<br />
und Politiker und viele Einrichtungen begonnen,<br />
mehr Sprachför<strong>der</strong>ung in <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>gartenzeit<br />
anzubieten. Dadurch sind über die letzten zehn<br />
Jahre, in den einzelnen Bundeslän<strong>der</strong>n und <strong>bei</strong><br />
den unterschiedlichen Trägern, ganz verschiedene<br />
Sprachför<strong>der</strong>programme eingeführt worden. Heute<br />
liegen die ersten Ergebnisse von wissenschaftlich<br />
begleiteten Modellprojekten vor. Sie zeigen, dass<br />
mit den meist relativ kurzen und auf die letzte<br />
Kin<strong>der</strong>gartenphase begrenzten För<strong>der</strong>programmen,<br />
die ›Sprachrückstände‹ nicht aufgeholt werden<br />
können. Es gibt viel Engagement, aber wenig nachweisbare<br />
Effekte.<br />
Allerdings stellt sich aufgrund <strong>der</strong> dargestellten<br />
Befunde die berechtigte Frage, ob die Erwartung<br />
eines raschen Erwerbs einer zweiten Sprache überhaupt<br />
realisitsch ist? Was deutschsprachige Kin<strong>der</strong><br />
(auch nicht alle!) in sechs Jahren lernen, kann in<br />
den Kin<strong>der</strong>tagesstätten <strong>bei</strong> Kin<strong>der</strong>n mit an<strong>der</strong>en<br />
Muttersprachen nicht in viel weniger Zeit erlernt<br />
o<strong>der</strong> sogar aufgeholt werden.<br />
In den Modellprojekten hat sich außerdem<br />
gezeigt, dass es eher wenig hilft, wenn Eltern zu<br />
Hause Deutsch mit ihren Kin<strong>der</strong>n sprechen, die<br />
selbst die deutsche Sprache nicht gut beherrschen.<br />
Dann besteht die Gefahr, dass die Kin<strong>der</strong> we<strong>der</strong><br />
die deutsche Sprache noch die Muttersprache gut<br />
lernen. In diesen Fällen können die staatlichen<br />
Einrichtungen nicht auf große Unterstützung<br />
durch die Familien bauen.<br />
Erfor<strong>der</strong>lich ist in jedem Fall eine gezielte<br />
Sprachför<strong>der</strong>ung auf dem pädagogisch ›neusten<br />
Stand‹. Doch trotz eines fast 30-jährigen Wissens<br />
mit Deutsch als Zweitsprache, existiert außerhalb<br />
einer überschaubaren Gruppe von sogenannten<br />
›<strong>Aus</strong>län<strong>der</strong>pädagogen‹ we<strong>der</strong> Lehrpersonal in hinreichen<strong>der</strong><br />
Zahl für den Regelunterricht in den<br />
Schulen noch werden an den Fachschulen für<br />
Erzieherinnen und Erzieher o<strong>der</strong> an den Hochschulen<br />
für Pädagogik genügend speziell ausgebildete<br />
Lehrkräfte qualifiziert. Mehr sprachsensibel ausgebildetes<br />
Personal in den Bildungseinrichtungen,<br />
gezielte Fortbildungen für Erzieherinnen/Erzieher<br />
und Lehrerinnen/Lehrer sowie För<strong>der</strong>programme<br />
mit nachprüfbaren Standards sind jedoch zwingend<br />
erfor<strong>der</strong>lich.<br />
Im Bundesland Bremen wurde im Schulgesetz<br />
von 2005 eine verpflichtende Feststellung über die<br />
Kenntnisse <strong>der</strong> deutschen Sprache für alle Kin<strong>der</strong><br />
zwischen vier und fünf Jahren verankert. Die erfor<strong>der</strong>liche<br />
Sprachför<strong>der</strong>ung <strong>der</strong>jenigen Kin<strong>der</strong> mit<br />
einem festgestellten Sprachför<strong>der</strong>bedarf, wurde<br />
jedoch erst mit dem Bremer Schulgesetz 2009<br />
verpflichtend. Seitdem müssen Kin<strong>der</strong> mit nicht<br />
als ausreichend eingestuften Sprachkenntnissen,<br />
im Jahr vor <strong>der</strong> Einschulung, an Sprachfördekursen<br />
teilnehmen. Die Einstufung <strong>der</strong> Sprachkenntnisse<br />
erfolgt über ein computergestütztes<br />
Testverfahren, den sogenannten Cito-Sprachtest.<br />
An diesem Test nehmen aktuell in Bremerhaven<br />
94 Prozent aller Kin<strong>der</strong> im Alter von vier Jahren<br />
teil, in Bremen 92 Prozent. Als <strong>der</strong> Cito-Test erstmals<br />
zur Anwendung kam, wurde mit einem För<strong>der</strong>bedarf<br />
von rund 15 bis 20 Prozent aller vierjährigen<br />
Kin<strong>der</strong> gerechnet. Die Ergebnisse zeigen<br />
jedoch, dass über die ganze Stadt Bremen zwischen<br />
30 und 40 Prozent aller Kin<strong>der</strong> einen För<strong>der</strong>bedarf<br />
hatten, in vielen Ortsteilen weit über 50 Prozent.<br />
Deutlich wurde außerdem nicht allein <strong>der</strong><br />
große För<strong>der</strong>bedarf für Kin<strong>der</strong> aus Familien mit<br />
einer Migrationsgeschichte, son<strong>der</strong>n auch für<br />
Kin<strong>der</strong> deutscher Herkunft.<br />
In <strong>der</strong> Praxis wird <strong>der</strong> Cito-Test von den Kin<strong>der</strong>tagesstätten<br />
und den Grundschulen, die ihn durchführen,<br />
als ›notwendiges Übel‹ hingenommen.<br />
Aber erst seit <strong>der</strong> Einführung des Tests konnte erstmals<br />
<strong>der</strong> große Bedarf an Sprachför<strong>der</strong>ung nachgewiesen<br />
werden. Auf dieser Grundlage erhalten<br />
die Kitas die finanziellen Ressourcen für För<strong>der</strong>kurse.<br />
Diejenigen Kin<strong>der</strong>, die daraufhin in <strong>der</strong> Kita<br />
eine Sprachför<strong>der</strong>ung erhalten haben, werden am<br />
Schulanfang noch einmal mit dem ›Cito-Sprachtest‹<br />
hinsichtlich ihrer Fortschritte untersucht.<br />
Durch das computergestützte Verfahren kann <strong>der</strong><br />
Test zeitökonomisch durchgeführt und nach<br />
›objektiven‹ Kriterien ausgewertet werden: Das<br />
heißt, unabhängig von persönlichen Einschätzun-<br />
gen durch die Lehrkräfte. Außerdem hat die Einführung<br />
des Testverfahrens zu verstärkten Anstrengungen<br />
<strong>bei</strong> <strong>der</strong> Sprachför<strong>der</strong>ung in Bremen<br />
geführt.<br />
Dennoch gilt das Cito-Testverfahren mittlerweile<br />
als veraltet und viele Praktikerinnen und Praktiker<br />
sehen den Test ausgesprochen kritisch. Faktisch<br />
handelt es sich nicht um ein kommunikatives Verfahren,<br />
son<strong>der</strong>n um eine Überprüfung des passiven<br />
Wortschatzes (Begriffe, Formen, Mengen,<br />
Größen) und des Textverständisses. Die zugrunde<br />
liegenden Kategorien und Bewertungen des Tests<br />
›messen‹ außerdem eine einsprachige, ›normale‹<br />
Sprachentwicklung. Kin<strong>der</strong>, die zweisprachig aufwachsen,<br />
werden nicht speziell berücksichtigt. Aufgrund<br />
dieser Kritik ist das Cito-Testverfahren zum<br />
Beispiel in den Nie<strong>der</strong>landen längst wie<strong>der</strong> abgeschafft<br />
worden. In Nordrhein-Westfalen und Bremen<br />
wird <strong>der</strong> Cito-Test weitergeführt, weil er zeitökonomisch<br />
durchgeführt und ausgewertet werden<br />
kann. Die konkrete Sprachför<strong>der</strong>ung erfolgt<br />
dann in Form von zwei zusätzlichen Stunden im<br />
letzten Jahr vor <strong>der</strong> Einschulung. Nicht allein <strong>der</strong><br />
zeitliche Umfang ist jedoch deutlich zu gering.<br />
Auch <strong>der</strong> Zeitpunkt erst kurz vor <strong>der</strong> Einschulung<br />
liegt zu spät, um tatsächlich Chancengleichheit<br />
ermöglichen zu können.<br />
Diese Kritik berücksichtigt <strong>der</strong> Bremer Schulentwicklungsplan<br />
von 2008 durchaus. Er charakterisiert<br />
Sprachför<strong>der</strong>ung als ›ganzheitliches Vorhaben‹,<br />
das heißt, Sprachför<strong>der</strong>ung soll in allen Bereichen<br />
des Alltags Berücksichtigung finden. Dieser<br />
Appell gilt ganz unabhängig von weiteren, speziellen<br />
und zusätzlichen För<strong>der</strong>kursen vor <strong>der</strong> Einschulung.<br />
❚ 2011 nahmen in <strong>der</strong> Stadt Bremen 4.400 Kin<strong>der</strong><br />
am Cito-Testverfahren teil und <strong>bei</strong> fast 40 Prozent<br />
von ihnen wurde ein För<strong>der</strong>bedarf festgestellt.<br />
In <strong>der</strong> Stadt Bremerhaven wurden 1.200<br />
Kin<strong>der</strong> getestet und für 54 Prozent von ihnen ein<br />
För<strong>der</strong>bedarf erkannt. Im letzten Kin<strong>der</strong>gartenjahr<br />
2010/2011 nahmen in <strong>der</strong> Stadt Bremen<br />
1.450 Kin<strong>der</strong> in 297 Kleingruppen zweimal in<br />
<strong>der</strong> Woche an einem Sprachför<strong>der</strong>kurs teil<br />
(30 Prozent <strong>der</strong> getesteten Kin<strong>der</strong>).<br />
Quelle: Autorenteam Bildungsberichterstattung Bremen und<br />
Bremerhaven (2012), S. 104