Ausgabe downloaden - Alpmann Schmidt
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Juni 2005<br />
Für unsere Hörer<br />
und RÜ-BezieherM<br />
Annette-Allee 35 - 48149 Münster<br />
Tel.: 0251-98109-0 - Fax: -98109-62<br />
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AS aktuell<br />
Zivilrecht<br />
Schuldrecht BT<br />
Die Problematik der voreiligen Selbstvornahme<br />
der Mängelbeseitigung im Kaufrecht<br />
– trotz oder erst Recht wegen der<br />
BGH-Entscheidung bleibt die Klausurrelevanz<br />
bestehen<br />
Lorenz NJW 2005, 1321 ff.; Tonner/Wiese BB 2005,<br />
903 ff.; Bydlinski ZGS 2005, 129 ff.; Dauner-Lieb ZGS<br />
2005, 169 ff.; Katzenstein ZGS 2005, 184 ff.<br />
Kaum ein Problem des neuen Schuldrechts, zumindest<br />
des neuen Kaufrechts, wird gegenwärtig so kontrovers<br />
diskutiert wie die Frage nach den Folgen einer voreiligen<br />
Selbstvornahme der Nacherfüllung durch den Käufer.<br />
Es geht um die Frage, ob und gegebenenfalls welche<br />
Rechte ein Käufer gegenüber dem Verkäufer hat, wenn er,<br />
während des Laufs einer von ihm gesetzten Frist zur<br />
Nacherfüllung wegen eines Mangels der Kaufsache oder<br />
sogar ohne überhaupt eine solche Frist zu setzen, den<br />
Mangel der Kaufsache selbst beseitigt oder durch einen<br />
Dritten beseitigen lässt.<br />
Aus den §§ 434 ff. BGB lässt sich ein solcher Anspruch<br />
nicht ableiten. Die Problematik der „voreiligen“ Selbstvornahme<br />
umfasst gerade die Fallgestaltung, dass der<br />
Mangel zu einem Zeitpunkt beseitigt wird, in welchem<br />
ein Rücktritts- oder Minderungsrecht bzw. ein Anspruch<br />
auf Schadensersatz statt der Leistung mangels gesetzter<br />
Frist bzw. Fristablauf noch nicht entstanden ist.<br />
Dennoch plädiert eine nicht zu unterschätzende Gruppe<br />
innerhalb der Literatur mit unterschiedlichen Anknüpfungspunkten<br />
für einen Anspruch des Käufers gegen den<br />
Verkäufer auf Ersatz der dem Verkäufer dadurch erspart<br />
gebliebenen Nacherfüllungsaufwendungen – zu unterscheiden<br />
ist dieser Anspruch auf Ersatz der ersparten<br />
Aufwendungen von einem eventuellen Anspruch des<br />
Käufers auf Ersatz seiner eigenen Nacherfüllungskosten,<br />
der unstreitig nicht gegeben ist.<br />
Teilweise wird hierbei ein solcher Anspruch auf Ersatz<br />
bzgl. der ersparten Nacherfüllungskosten des Verkäufers<br />
auf §§ 326 Abs. 2 S. 2 (analog), 326 Abs. 4 BGB gestützt<br />
(vgl. nur Bydlinski ZGS 2005, 130; Lorenz NJW 2005,<br />
1322), teilweise auf bereicherungsrechtliche Grundsätze<br />
(direkt: Katzenstein ZGS 2005, 193 oder über den Verweis<br />
des § 684 S. 1 BGB: Oechsler NJW 2004, 1825).<br />
Der BGH wiederum hat mit seinem Urteil vom<br />
23.02.2005 diesen Ansätzen eine unmissverständlich<br />
klare Absage erteilt und jegliche Ansprüche des Käufers<br />
abgelehnt (VIII ZR 100/04; ausführlich dargestellt in der<br />
RÜ Heft 06, S. 288–294).<br />
Diese Streitfrage scheint sich damit für die Praxis erledigt<br />
zu haben, sodass insbesondere der Referendar im Rahmen<br />
des Assessorexamens sich davor hüten sollte, dem<br />
meist in der Praxis tätigen Korrektor ein gegenteiliges<br />
Ergebnis zu präsentieren, auch wenn dieses mit noch so<br />
vertretbaren Argumenten (vgl. dazu unten) angereichert<br />
ist. Ein hohes Risiko geht auch ein Anwalt ein, wenn er<br />
seinem Mandanten, der voreilig einen Mangel selbst oder<br />
durch einen Dritten beseitigt hat, zu einer entsprechenden<br />
Klage rät.<br />
Dennoch bleibt die Problematik, insbesondere mit den<br />
facettenreichen Argumentationsstrukturen der jeweiligen<br />
Ansichten, extrem examensrelevant, sodass im folgenden<br />
die einzelnen Ansätze mit dem jeweiligen Hintergrund<br />
dargestellt werden sollen.<br />
A. Ansatz der Rechtsprechung<br />
Die Rechtsprechung, die von einem Teil der Literatur<br />
unterstützt wird (vgl. Tonner ZGS 2005, 903 ff.; Dauner-<br />
Lieb ZGS 2005, 169 ff.), lehnt mangels der erforderlichen<br />
Nachfristsetzung sowohl einen Schadensersatzanspruch<br />
statt der Leistung aus §§ 280, 281 BGB ab, als auch die<br />
Minderung des Kaufpreisanspruchs des Verkäufers.<br />
Der Gesetzgeber habe bei der Schuldrechtsreform bewusst<br />
davon abgesehen, einem Käufer ein Selbstvornahmerecht<br />
einzuräumen, aufgrund dessen der Käufer ohne<br />
Fristsetzung bzw. Fristablauf seine Aufwendungen vom<br />
Verkäufer erstattet bekommen könne. Die Gewährung<br />
eines derartigen Anspruchs sei mit der Konzeption des<br />
Gesetzgebers unvereinbar, der anders als im Werkvertragsrecht<br />
(§ 637 BGB) und bei der Miete (§ 536 a Abs. 2<br />
BGB) im Kaufrecht gerade kein Selbstvornahmerecht<br />
vorgesehen habe.<br />
In § 437 BGB sieht der BGH eine abschließende Aufzählung<br />
der Rechtsbehelfe des Käufers, die wegen des Vorrangs<br />
der Nacherfüllung den Rückgriff auf einen Anspruch<br />
aus § 326 Abs. 2 S. 2 BGB nicht gestatteten. Zudem<br />
widerspräche ein Anspruch des Käufers dem mit<br />
dem Nacherfüllungsanspruch verbundenen Recht des<br />
Verkäufers „zur zweiten Andienung“, mit dem der Gesetzgeber<br />
den Interessen des Verkäufers habe Rechnung<br />
tragen wollen. Die gegenteilige Ansicht, die einen Anspruch<br />
des Käufers auf § 326 Abs. 2 S. 2 BGB stützt,<br />
verkenne die grundlegende Wertentscheidung des europäischen<br />
wie des deutschen Gesetzgebers im Rahmen der<br />
Kaufrechtsreform. Hätte der Käufer die Möglichkeit,<br />
einfach dadurch ohne Fristsetzung einen Anspruch auf<br />
Ersatz ersparter Aufwendungen zum Entstehen zu bringen,<br />
dass er die Nacherfüllung unmöglich macht, könnte<br />
er das Recht des Verkäufers zur zweiten Andienung nach<br />
Belieben unterlaufen. Die gegenteilige Auffassung lasse<br />
daher die gesetzgeberische Konzeption völlig außer Betracht.<br />
Außerdem sei doch der praktische Regelfall nicht die<br />
Reparatur durch den Käufer selbst, sondern die Mangelbeseitigung<br />
durch einen fachkundigen Dritten. Auch<br />
AS aktuell Online: http://www.alpmann-schmidt.de 41
Juni 2005 AS aktuell<br />
dieser Umstand stelle ein Argument für die Position dar,<br />
dass das Recht des Verkäufers zur zweiten Andienung<br />
ausgehöhlt werde, weil häufig auch der Verkäufer selbst<br />
zur Behebung des Mangels einen Dritten hätte einschalten<br />
müssen. Dann frage sich aber auch, wo denn der<br />
Unterschied sei zwischen dem, was der Verkäufer erspart<br />
habe und dem was der Käufer habe aufwenden müssen.<br />
Praktisch laufe der Anspruch auf Ersatz der ersparten<br />
Aufwendungen des Verkäufers wirtschaftlich gesehen auf<br />
einen eigenen Aufwendungsersatzanspruch des Käufers<br />
hinaus, was gerade unstreitig nicht im Sinne des Gesetzgebers<br />
gewesen sei. Der Hinweis der Gegenmeinung, man<br />
müsse strikt zwischen dem Aufwendungsersatzanspruch<br />
des Käufers und dem Anspruch des Käufers in Höhe der<br />
ersparten Aufwendungen des Verkäufers unterscheiden,<br />
gehe daher wirtschaftlich fehl.<br />
Die Selbstvornahme nehme außerdem dem Verkäufer die<br />
Möglichkeit einer Untersuchung und Beweissicherung,<br />
mit Hilfe derer er sich gegen die Herabsetzung des Kaufpreises<br />
analog § 326 Abs. 2 S. 2 BGB wehren könnte.<br />
Auch wenn der Käufer selbst die ersparten Aufwendungen<br />
des Verkäufers beweisen müsse, drohe dem Verkäufer<br />
überdies eine ungerechtfertigte Verschlechterung seiner<br />
Beweislage, da er nach einer Selbstvornahme das Vorliegen<br />
des Mangels nicht mehr prüfen und hierzu Beweise<br />
sichern könne. Daran änderten die Grundsätze der Beweislastverteilung<br />
nichts. Zwar sei es richtig, dass der den<br />
Anspruch aus § 326 Abs. 2 S. 2 BGB geltend machende<br />
Käufer sowohl das Vorliegen des Mangels als auch den<br />
Umfang der ersparten Aufwendungen des Verkäufers<br />
darlegen und beweisen müsse. Gelinge ihm hierzu aber<br />
ein substantiierter Sachvortrag, etwa weil er den Mangel<br />
durch einen die Beseitigung durchführenden Dritten (z.B.<br />
Kfz-Vertragshändler) hat dokumentieren lassen, sei es<br />
Sache des Verkäufers, diesen Vortrag zu erschüttern. Dies<br />
werde ihm aber in der Regel nicht gelingen. Ob er durch<br />
die Anwendung der Grundsätze über die Beweisverteilung<br />
ausreichend geschützt sei, erscheine daher zweifelhaft.<br />
Schließlich sei es schon bemerkenswert, dass die<br />
Wissenschaft die Rechtsprechung über die in der Praxis<br />
drohenden Beweisprobleme belehren wolle.<br />
Weiterhin sei § 326 Abs. 2 S. 2 BGB (analog) gar nicht<br />
anwendbar, da es insoweit an einer planwidrigen Regelungslücke<br />
fehle. Neben den bereits oben aufgeführten<br />
Argumenten (Gesetzgeber hat das Problem in §§ 637,<br />
536 a Abs. 2 BGB gesehen, dieses aber bewusst nicht im<br />
Kaufrecht geregelt; grds. wirtschaftlich gesehen keine<br />
Unterschiede zwischen dem Ersatz in Höhe der ersparten<br />
Aufwendungen des Verkäufers und dem eigenen Aufwendungsersatzanspruch<br />
des Käufers) spreche insbesondere<br />
die Gesetzesbegründung in ihrem Wortlaut gegen eine<br />
Annahme eines Anspruchs des Käufers. Es erscheine<br />
widersprüchlich, dem Käufer einen Anspruch auf die<br />
ersparten Aufwendungen des Verkäufers zu geben, wenn<br />
er ohne ein Recht hierzu gleichwohl eine Mängelbeseitigung<br />
vornehme.<br />
Schließlich weist der den BGH unterstützende Teil der<br />
Literatur darauf hin, dass dem Käufer auch keinerlei<br />
Ansprüche aus GoA oder § 812 BGB zustehen. Zwar hat<br />
sich der BGH in seinen Entscheidungsgründen mit keinem<br />
Wort mit möglichen Anspruchsgrundlagen aus diesem<br />
Bereich auseinandergesetzt, die ablehnende Haltung<br />
des BGH diesbezüglich ergebe sich aber schon daraus,<br />
dass er auf seine Rechtsprechung zum alten Werkvertragsrecht<br />
verweist, wonach dem Besteller bei voreiliger<br />
Selbstvornahme jegliche Ansprüche versagt wurden. Zudem<br />
ließen sich die Argumente des Gerichts gegen § 326<br />
Abs. 2 S. 2 BGB ohne weiteres auf eventuelle Ansprüche<br />
aus GoA oder § 812 BGB übertragen.<br />
Der von der Gegenseite angeführte Umstand, dass die<br />
relevanten Bestimmungen auf Richtlinienvorgaben fußten,<br />
die eine Besserstellung des Verbrauchers bei Käufen<br />
von Unternehmern bezweckten und daher eine Beschneidung<br />
der Rechte des Käufers nicht nachvollzogen<br />
werden könne, könne nicht überzeugen. In diesem Zusammenhang<br />
habe man sich die Frage zu stellen, ob denn<br />
immer noch ein solcher Anspruch des Käufers bejaht<br />
werden würde, wenn es um einen Autoverkauf eines Privatmanns<br />
an einen Gebrauchtwagenhändler ginge. Verbraucherschutzaspekte<br />
könnten dementsprechend nicht<br />
überzeugen.<br />
B. Ansätze der einen Anspruch befürwortenden Ansicht<br />
Die Gegenansicht weigert sich ein Ergebnis zu akzeptieren,<br />
welches den Verkäufer, der eine mangelhafte Sache<br />
geliefert hat und dementsprechend zur Nacherfüllung und<br />
damit auch zur Tragung der Nacherfüllungskosten nach<br />
§ 439 Abs. 2 BGB verpflichtet ist, so stellt, wie wenn er<br />
mangelfrei geleistet hätte. Der Käufer, der die mangelhafte<br />
Leistung erhält, muss weiterhin den vollen Kaufpreis<br />
zahlen. Damit werde die Selbstverbesserung im Ergebnis<br />
dem nachträglichen rechtsgeschäftlichen Verzicht auf Gewährleistungsrechte<br />
gleichgestellt. Der Verkäufer erspart<br />
die von ihm eigentlich geschuldeten Nacherfüllungskosten<br />
und kann diese behalten. Dies stelle gerade eine nicht<br />
mehr hinnehmbare Bereicherung des Verkäufers dar.<br />
Daher wird hiernach ein Anspruch des Käufers auf Ersatz<br />
der ersparten Aufwendungen des Verkäufers gegen diesen<br />
bejaht. Größtenteils wird ein solcher Anspruch auf § 326<br />
Abs. 2 S. 2 BGB (analog) gestützt, teilweise aber auch auf<br />
das Bereicherungsrecht.<br />
Der Hinweis der die Rechtsprechung unterstützenden<br />
Literaturansicht, dass der Anspruch auf Ersatz der ersparten<br />
Aufwendungen wirtschaftlich dem Aufwendungsersatzanspruch<br />
des Käufers selbst gleichsteht, könne bei<br />
Betrachtung der wirtschaftlichen Gegebenheiten in der<br />
Realität gerade nicht überzeugen. Gewerbliche Verkäufer<br />
stünden nicht selten mit den Produzenten der gehandelten<br />
Waren in Geschäftsbeziehung, was ihnen bessere<br />
Konditionen bringt als dem Käufer, der die Ware von<br />
einem ihm unbekannten Dritten reparieren lassen muss.<br />
Die ersparten Aufwendungen des Verkäufers seien daher<br />
gerade meist viel geringer als die getätigten Aufwendungen<br />
des Käufers, dem es nicht möglich ist Rahmenvereinbarungen<br />
mit einer Reparaturwerkstatt zu treffen, um die<br />
Kosten so gering wie möglich zu halten. Aber auch wenn<br />
ausnahmsweise der Ansatz der Gegenauffassung greife,<br />
sei es nicht einzusehen, warum dem mangelhaft leistenden<br />
Verkäufer die von ihm eigentlich geschuldete Leistung<br />
(§ 439 Abs. 2 BGB) „zur Gänze erlassen“ werden<br />
42
AS aktuell Juni 2005<br />
sollte. Der Hinweis auf eine unzulässige Aushöhlung des<br />
gesetzgeberischen Verbesserungsvorrangs durch die Anwendung<br />
des § 326 Abs. 2 S. 2 BGB überzeuge nicht. Das<br />
Recht zur Nacherfüllung würde dem Verkäufer nicht<br />
genommen. Die Selbstvornahme des Käufers bliebe eine<br />
unberechtigte Handlung, wie es auch § 326 Abs. 2 S. 1, 2<br />
BGB voraussetze (alleinige oder weit überwiegende Verantwortlichkeit<br />
des Käufers für das Unmöglichwerden der<br />
Nacherfüllung). Dies mache aber die Frage, ob dem Verkäufer<br />
die Vorteile ersparter Aufwendungen gebühren,<br />
nicht obsolet. Vielmehr spreche die gesetzliche Wertung<br />
in anderen Bereichen für die hier vertretene Ansicht.<br />
Unberechtigte Handlungen führten nämlich schon nach<br />
allgemeinen Prinzipien dazu, dass entstehende Bereicherungen<br />
herauszugeben sind, wie aus der Regelung der<br />
unberechtigten GoA eindeutig zu entnehmen sei, §§ 684<br />
S. 1, 812 BGB. Nur dieser Grundsatz werde in § 326<br />
Abs. 2 S. 2 BGB wiederholt. Dass dem Verkäufer die<br />
Nacherfüllung nach der Selbstvornahme faktisch nicht<br />
mehr möglich sei, sei keine Konsequenz, sondern eine<br />
Voraussetzung der Anwendung des § 326 Abs. 2 S. 2<br />
BGB. Unmöglich werde eine Nacherfüllung ebenfalls,<br />
wenn die Kaufsache vom Blitz getroffen und untergehen<br />
würde. Niemand würde aber in einem solchen Fall behaupten,<br />
dass ein Käufer, der gem. § 285 BGB auf Ersatzansprüche<br />
des Verkäufers, z.B. Versicherungsleistungen,<br />
zurückgreifen dürfte, damit dessen Recht zur zweiten<br />
Andienung entwerten würde.<br />
Die mit der Gegenansicht verfolgte Sanktion des Käufers<br />
könne nicht überzeugen. Es gebe Situationen, wo die<br />
Vorgehensweise des Käufers nur all zu verständlich sei;<br />
bspw. wenn der Käufer die mangelfreie Sache so schnell<br />
wie möglich braucht (Bsp.: Laptop, welcher für eine kurzfristig<br />
anberaumte Auslandsreise schnellstmöglich gebraucht<br />
wird), weshalb er die an sich angemessene Frist<br />
nicht abwarten kann und daher einen über dem Marktpreis<br />
liegenden Reparatur-Schnellservice in Anspruch<br />
nimmt. Der Käufer müsse in einem solchen Fall die<br />
Mehrkosten selbst tragen, da zunächst einmal der Verkäufer<br />
das Recht hat, die Mängelbeseitigung herbeizuführen.<br />
Aber in Höhe der Leistung, die der Verkäufer auch<br />
hätte tragen müssen, wenn der Käufer ihm die Sache zur<br />
Reparatur gegeben hätte, sei er nunmehr bereichert und<br />
müsse diese analog dem Rechtsgedanken des § 326 Abs. 2<br />
S. 2 BGB herausgeben. Der Käufer, der meist nicht seine<br />
ganzen Aufwendungen herausbekommen würde und<br />
dementsprechend im Regelfall auf einem Teil seines Reparaturaufwands<br />
sitzen bliebe, sei dadurch in genügendem<br />
Maße sanktioniert.<br />
Der Unterschied zwischen dem ausgeschlossenen Anspruch<br />
auf Ersatz der Nacherfüllungskosten des Käufers<br />
und den ersparten Nacherfüllungsaufwendungen des<br />
Verkäufers könne also nicht vernachlässigt werden mit<br />
dem Hinweis darauf, dass es auch insoweit um die Kosten<br />
der Mängelbeseitigung gehe und deshalb dem Käufer<br />
durch deren Ersatz ein Recht zur Selbstbeseitigung zugestanden<br />
werde. Gerade weil es sich ausschließlich um<br />
Kosten handele, die nach § 439 Abs. 2 BGB der Verkäufer<br />
zu tragen hätte, könne ein solcher Anspruch keinen<br />
Wertungswiderspruch zum „Recht zur zweiten Andienung“<br />
begründen; denn dieses gebühre dem Verkäufer<br />
eben gerade nur um den Preis der hierfür von ihm aufzuwendenden<br />
Kosten. Im Übrigen verletze der Käufer nicht<br />
ein „Recht“ des Verkäufers, sondern verstoße lediglich<br />
gegen eine Obliegenheit, die ihn um das Recht zum Rücktritt,<br />
zur Minderung und den Anspruch auf Schadensersatz<br />
statt der Leistung bringt.<br />
Auch die Argumentation der Gegenansicht bzgl. der Beweisprobleme<br />
läge neben der Sache. Wenn nach Mängelbeseitigung<br />
der Käufer Ansprüche geltend macht, müsse<br />
er gem. § 363 BGB die Mangelhaftigkeit der Kaufsache<br />
beweisen und welche Aufwendungen dem Verkäufer erspart<br />
geblieben sind. Eine Selbstvornahme unterdrücke<br />
auch nicht stets mögliche Gegenbeweise des Verkäufers<br />
(Bsp.: Der ausgetauschte Motor befindet sich immer noch<br />
in der Werkstatt und kann untersucht werden). Häufige<br />
Beweisprobleme könnten auch schon deshalb nicht auftreten,<br />
da bei der regelmäßigen Einschaltung eines fachkundigen<br />
Dritten mit diesem ein gut geeigneter Zeuge zur<br />
Verfügung stehe.<br />
Auch der Verweis der Gegenseite auf die Rechtsprechung<br />
zum alten Werkvertragsrecht überzeuge nach der Schuldrechtsreform<br />
nicht mehr. Die Praxis sehe hierin nur den<br />
Vorteil, die praktische Arbeit zu vereinfachen: Keine umständlichen<br />
Beweisaufnahmen über die behauptete Mangelhaftigkeit<br />
der Kaufsache, wenn Nacherfüllungsfristen<br />
noch nicht abgelaufen sind. Nutznießer dieser Rechtsprechung<br />
seien also – und das sei nicht zu vernachlässigen –<br />
neben dem Verkäufer auch die Gerichte, sodass kaum zu<br />
erwarten sei, dass die Instanzgerichte sich dem BGH-<br />
Urteil nicht beugen werden.<br />
Gegen diesen Ansatz spreche aber eindeutig das Gebot<br />
der Gerechtigkeit („Bereicherungsverbot“). Es gebe keinen<br />
Grund, den Verkäufer gegenüber dem Käufer zu<br />
bevorteilen, soweit es um die ersparten Aufwendungen<br />
des Verkäufers gehe. Der Gesetzgeber habe genau diese<br />
Konstellation offenbar nicht erkannt, sodass die Anwendung<br />
des § 326 Abs. 2 S. 2 BGB hier geboten sei.<br />
Eine weitergehende Meinung (Katzenstein ZGS 2005,<br />
193) bejaht einen Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung.<br />
Die Bereicherung in Form der Leistungsbefreiung<br />
des Verkäufers sei durch § 812 BGB abzuschöpfen.<br />
Der Anspruch aus § 326 Abs. 2 S. 2 BGB sei daneben<br />
grds. auch gegeben; dies sei jedoch nicht entscheidend, da<br />
der bereicherungsrechtliche Anspruch in jedem Falle<br />
greife. Der Hinweis des BGH auf seine Rechtsprechung<br />
zum alten Werkvertragsrecht gehe hier fehl, sodass die<br />
Anwendbarkeit der §§ 812 ff. BGB gegeben sei.<br />
Beachte: Zur erfolgreichen Klausurlösung müssen in<br />
keinem Fall alle Argumente (auch in diesem Beitrag<br />
konnten nicht alle erwähnt werden) dargestellt werden.<br />
Insofern sollte man sich die Ausführungen des BGH als<br />
Leitlinie nochmals vergegenwärtigen und die diesbezüglichen<br />
Gegenargumente der Literatur.<br />
Empfohlen wird ausdrücklich die Entscheidungsbesprechung<br />
in der RÜ, Heft 06, S. 288–294, von RA H. Kiss.<br />
Ergänzung zu: AS-Skript SchuldR BT 1 (2004), S. 47 ff.<br />
43
Juni 2005 AS aktuell<br />
Strafrecht<br />
Nichtvermögensdelikte<br />
Verdeckungsmord durch Unterlassen<br />
nach bedingt vorsätzlicher Totschlagshandlung<br />
Wilhelm NStZ 2005, 177<br />
Die Besprechung des BGH Urteils vom 12.12.2002 – 4<br />
StR 297/02 – geht der Frage nach, ob das einer Tötungshandlung<br />
nachfolgende Unterlassen der Abwendung<br />
der tödlichen Folgen der vorausgegangenen<br />
Handlung als Verdeckungsmord gem. § 211 StGB<br />
strafbar sein kann. Der BGH hat (ungeachtet seiner<br />
Ansicht, aus einer von Tötungsvorsatz getragenen<br />
Handlung ergebe sich keine Handlungspflicht aus<br />
Ingerenz) die Ansicht vertreten, es handele sich bei der<br />
zu verdeckenden Straftat nicht um eine andere, da der<br />
Täter mit dem Unterlassen von Rettungsbemühungen<br />
für das Opfer nur denselben Taterfolg habe herbeiführen<br />
wollen, den er bereits bei Vornahme der vorausgegangenen<br />
Tötungshandlung herbeiführen wollte. Da es<br />
sich deshalb um einen fortdauernden Tatentschluss<br />
gleich bleibender Qualität handele, komme es, anders<br />
als im Falle mehrfacher nachfolgender Tötungshandlungen,<br />
auch nicht auf eine zeitliche Zäsur an. Dem<br />
tritt Wilhelm entgegen, da diese Rspr. zu einer überaus<br />
befremdenden Privilegierung eines mit Tötungsvorsatz<br />
Handelnden führe. Unterstellt, der mit Tötungsvorsatz<br />
handelnde Angeklagte wäre als Vater des Kindes garantenpflichtig<br />
gewesen, wäre es eine unerklärliche<br />
Privilegierung, ihn im Hinblick auf § 211 Abs. 2 StGB<br />
besser zu behandeln, als die nur untätige Kindesmutter,<br />
die die Rettung des Kindes zur Vermeidung strafrechtlicher<br />
Verfolgung der vorausgegangenen Tötungshandlung<br />
des Vaters unterlässt. Die zu verdeckende<br />
andere Straftat könne problemlos in dem vorangegangenen<br />
Tun gesehen werden. Es könne den<br />
Angeklagten nicht privilegieren, selbst die Todesgefahr<br />
heraufbeschworen zu haben. Jeder Dritte, der durch<br />
eine fahrlässige Körperverletzung eine tödliche Kausalkette<br />
in Gang gesetzt habe, sei bei entstehender<br />
Verdeckungsabsicht dem Risiko der Bestrafung als<br />
Mörder ausgesetzt. Dagegen könne nach der Rspr. der<br />
mit Tötungsvorsatz schlagende Garant nicht zum<br />
Mörder werden, weil er das Opfer sowieso töten wollte.<br />
Die sei nicht nachvollziehbar. Ferner sei bei Nichterweislichkeit<br />
des Tötungsvorsatzes während der vorausgegangenen<br />
Handlung insoweit in dubio pro reo<br />
von fehlendem Tötungsvorsatz auszugehen, während<br />
er bei der Prüfung der Verdeckungsabsicht im Rahmen<br />
der Subsumtion unter den Tatbestand des § 211, 13<br />
StGB zugunsten des Täters zu unterstellen wäre. Folge<br />
man weiter dem BGH dahin, dass der Vorsatztäter<br />
nicht Garant seines Opfers werde, müsste man auch<br />
bei der Prüfung der Garantenstellung zu seinen Gunsten<br />
von einem Tötungsvorsatz zum Zeitpunkt des<br />
aktiven Tuns ausgehen. Der Täter könnte dann nicht<br />
einmal wegen Totschlags durch Unterlassen bestraft<br />
werden, wenn er nicht aus einem anderen Grund Garant<br />
ist. Da dies absurd erscheine, könne allenfalls die<br />
Frage sein, ob die anzunehmende Verdeckungsabsicht<br />
auch die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe<br />
rechtfertige. Insoweit komme eine teleologische Reduktion<br />
des Tatbestandsmerkmals der Verdeckungsabsicht<br />
in Betracht, je nachdem, worin man die mordqualifizierende<br />
Wirkung dieses Tatbestandsmerkmals<br />
erblickt. Sieht man den Grund lebenslanger Freiheitsstrafe<br />
in Fällen der Verdeckungsabsicht in generalpräventiven<br />
Gesichtspunkten, bestehe wohl keine Möglichkeit<br />
einer weiteren Einschränkung des Tatbestandsmerkmals.<br />
Lege man das Schwergewicht hingegen<br />
auf die sich in der Verdeckungsabsicht zeigende<br />
besondere kriminelle Energie oder betrachte sie als<br />
Sonderfall eines niedrigen Beweggrundes, so sei aufgrund<br />
einer Einzelbetrachtung möglich, von der Annahme<br />
von Verdeckungsabsicht abzusehen.<br />
Geht man hiernach vom Vorliegen eines Verdeckungsmordes<br />
durch Unterlassen aus, so stellt sich die Frage<br />
nach dem Konkurrenzverhältnis zwischen dem durch<br />
Tun begangenen Totschlag und dem durch Unterlassen<br />
begangenen Mord. Da das Unterlassen der Erfolgsabwendung<br />
unerlässliche Voraussetzungen für die Vollendungshaftung<br />
auch wegen Totschlags durch Tun ist,<br />
sind nach Ansicht von Wilhelm beide Gesetzesverletzungen<br />
durch dieselbe Handlung verwirklicht. Eine<br />
andere Frage ist danach, ob Tateinheit gem. § 52 Abs. 1<br />
StGB anzunehmen ist oder Gesetzeskonkurrenz. Dies<br />
hängt von der bislang ungeklärten Frage des Nebeneinanders<br />
von Begehungs- und Unterlassungsdelikten<br />
ab. Da das Unterlassen nach § 13 Abs. 1 StGB von<br />
Gesetzes wegen der Verwirklichung des Tatbestandes<br />
durch Tun entspricht, die in Abs. 2 vorgesehene Strafmilderung<br />
nur fakultativ ist und allein das Unterlassungsdelikt<br />
den Strafrahmen des § 211 StGB eröffnet,<br />
hält Wilhelm jedenfalls für diskussionswürdig, nur<br />
wegen Mordes durch Unterlassen zu bestrafen.<br />
Ergänzung zu: AS-Skript StrafR BT 2 (2003), S. 45<br />
Vermögensdelikte<br />
Hinweis auf eine bei sich geführte Waffe<br />
als „Verwenden“ i.S.d. § 250 Abs. 2 Nr. 1<br />
StGB?<br />
Baumanns JuS 2005, 405<br />
Die Reichweite des Tatbestandsmerkmals „Verwenden“<br />
gem. § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB ist umstritten. Ein<br />
Vergleich zu § 250 Abs. 1 Nr. 1 a StGB ergibt, dass die<br />
schlichte Verfügbarkeit während der Tat nicht aus-<br />
44
AS aktuell Juni 2005<br />
reicht. Weiterhin ist dem Wortlaut „bei der Tat“ zu<br />
entnehmen, dass die Verwendung in einem funktionalen<br />
Zusammenhang mit der Begehung der Tat stehen<br />
muss. Während danach zweifellos eine Verwendung<br />
dann vorliegt, wenn die Waffe zur Gewaltanwendung<br />
eingesetzt wird, erscheint fraglich, ob alle Formen des<br />
Drohens, etwa auch in Gestalt eines bloßen Hinweises<br />
auf die Waffe, vom Tatbestand des § 250 Abs. 1 Nr. 1<br />
StGB erfasst sind.<br />
In der Rspr. des BGH ist anerkannt, dass der Einsatz<br />
der Waffe als Drohmittel – gleich welcher Art – ausreiche.<br />
Dies hält Baumanns für fragwürdig.<br />
Bereits der Begriff des Verwendens beinhalte einen<br />
tatsächlichen Umgang mit der Sache, sodass das Verwenden<br />
mehr als den bloßen Hinweis als das Beisichführen<br />
einer Waffe verlange. Nach der Systematik des<br />
§ 250 StGB komme als Verwenden nur ein solcher<br />
Einsatz infrage, der seinerseits in irgendeiner Weise<br />
zumindest latent gefährlich sei. Die Gesetzesmaterialien<br />
ergeben zwar, dass auch der Einsatz zur Drohung<br />
mit Gewalt tatbestandsmäßig sei. Ob damit jede Form<br />
der Drohung genüge, ergebe sich daraus jedoch nicht.<br />
Der gegenüber § 250 Abs. 1 StGB erhöhte Strafrahmen<br />
des § 250 Abs. 2 finde seine Legitimation nur in<br />
der erhöhten Gefahr für Leib oder Leben des Opfers.<br />
Der bloße Hinweis auf die Waffe setze das Opfer jedoch<br />
lediglich einer größeren psychischen Zwangswirkung<br />
aus. Ein gegenüber dem bloßen Beisichführen<br />
objektiv erhöhtes Gefahrenpotential ergebe sich aus<br />
dem bloßen Hinweis auf eine bei sich geführte Waffe<br />
gerade nicht.<br />
Hiernach sei zwar mit Rspr. und h.Lit. grundsätzlich<br />
davon auszugehen, dass auch der Einsatz einer Waffe<br />
als Drohmittel tatbestandsmäßig sei. Jedoch müsse die<br />
Drohung von solcher Art sein, dass sie eine gegenüber<br />
dem Beisichführen erhöhte, objektiv feststellbare Gefahr<br />
begründe. Der bloße Hinweis auf eine mitgeführte<br />
Waffe stelle mithin entgegen der Rspr. des BGH kein<br />
Verwenden dar.<br />
Ergänzung zu: AS-Skript StrafR BT 1 (2005), S. 213<br />
Raubgewalt durch Unterlassen?<br />
Walter NStZ 2005, 240<br />
Ob die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Gewalt<br />
gegen eine Person gem. § 249 StGB auch durch das<br />
Unterlassen der Beseitigung einer körperlichen Zwangslage<br />
möglich ist, ist umstritten. Der BGH (BGHSt 48,<br />
365) hat dies in der Sache bejaht, was in der Literatur<br />
ein überwiegend kritisches Echo fand.<br />
Gegen eine Unterlassungshaftung wird geltend gemacht,<br />
sie verwische die Grenze zwischen finaler Gewalt<br />
und dem Ausnutzen einer Zwangslage. Dem hält<br />
Walter entgegen, dass die Haftung für § 249 StGB eine<br />
Garantenstellung bedinge, deren Fehlen selbstverständlich<br />
die Annahme von Gewalt durch Unterlassen<br />
ausschließe. Ferner wird gegen die Unterlassungshaftung<br />
angeführt, dass Gewalt kein Erfolg i.S.d. § 13<br />
StGB sei, sondern die Eigenschaft eines positiven<br />
Tuns. Demgegenüber ist nach Walter eine körperliche<br />
Zwangswirkung ebenso ein Erfolg wie zum Beispiel<br />
eine Gesundheitsbeschädigung. Ein weiterer Einwand<br />
gegen die Tatbestandsmäßigkeit passiver Gewalt wird<br />
aus der Entsprechungsklausel des § 13 StGB abgeleitet.<br />
Demgegenüber entspricht es beim Tatbestand der<br />
Nötigung ganz herrschender Meinung, Gewalt auch in<br />
einem Unterlassen zu sehen. Ferner wird gegen die<br />
Tatbestandsmäßigkeit des Unterlassens eingewandt,<br />
dass der Zweck des § 249 StGB darin zu finden sei,<br />
dass sich der Täter von einer Zueignungsabsicht zu<br />
Aggressionstaten motivieren lasse. Dies wäre nach<br />
Walter allerdings gerade zu beweisen. Nach seiner<br />
Ansicht liegt die ratio des § 249 StGB lediglich darin,<br />
dass der Täter sich motivieren lässt, körperlichen<br />
Zwang zu instrumentalisieren. Ein weiteres Argument<br />
gegen die Unterlassungshaftung wird daraus abgeleitet,<br />
dass sie den besonders brutalen Täter begünstige, der<br />
sein Opfer sofort bewusstlos schlage oder gar töte und<br />
dadurch daran gehindert sei, die Zwangslage der Opfers<br />
zu beseitigen. Walter sieht hierin jedoch keinen<br />
Wertungswiderspruch. Für besondere Brutalität werde<br />
der Täter auch besonders zur Rechenschaft gezogen,<br />
sei es gem. § 211 StGB oder gemäß den §§ 224, 226,<br />
227 StGB. Die Unmöglichkeit, den Tatbestand eines<br />
Unterlassungsdelikts zu erfüllen, lasse sich nicht als<br />
Privilegierung bezeichnen, sondern sei die unvermeidbare<br />
Folge dessen, dass unechte Unterlassungsdelikte<br />
die Chance einer Rettung bedingen. Ein weiterer Einwand<br />
gegen eine Unterlassungshaftung wird aus der<br />
Definition der Gewalt als eines Zwanges abgeleitet, der<br />
einen tatsächlichen oder erwarteten Widerstand überwinden<br />
sollte; denn der Widerstand sei doch bereits<br />
überwunden. Dem gegenüber verweist Walter darauf,<br />
dass das Unterlassen gegebenenfalls sehr wohl dazu<br />
dient, denjenigen Widerstand zu überwinden, den das<br />
Opfer leisten könnte, wenn es sich nicht in einer körperlichen<br />
Zwangslage befände.<br />
Zweifelhaft kann nach Walter jedoch die Annahme<br />
eines Finalzusammenhangs zwischen dem Unterlassen<br />
der Beseitigung einer Zwangslage und der Wegnahme<br />
der Beute sein. Zwar braucht die Wegnahme nicht der<br />
einzige Beweggrund der Nötigung zu sein. Hätte der<br />
Täter aber auch ohne den Entschluss zur Wegnahme<br />
der Beute die Zwangslage des Opfers aus anderen Gründen<br />
auf keinen Fall beseitigt, so wird der Wegnahmevorsatz<br />
derart von anderen Motiven dominiert, dass<br />
der Sprung von § 242 zu § 249 StGB nicht mehr gerechtfertigt<br />
ist. Nach Walter kann nur dann Raubgewalt<br />
sein, die Befreiung eines anderen zu unterlassen,<br />
wenn der Unterlassende ohne den Entschluss zur Wegnahme<br />
gehandelt und den anderen befreit haben würde.<br />
Hiernach hätte auch in der o.g. BGH-Entscheidung<br />
der Tatbestand des Raubes verneint werden müssen.<br />
Ergänzung zu: AS-Skript StrafR BT 1 (2005), S 207<br />
45
Juni 2005 AS aktuell<br />
Öffentliches Recht<br />
Verfassungsrecht<br />
Die Wahl des Bundespräsidenten Köhler –<br />
ein verfassungswidriger Vorgang?<br />
Fischer NVwZ 2005, 416 ff.<br />
Am 23.05.2004 wurde Horst Köhler in der Bundesversammlung<br />
mit der Mehrheit von 604 Stimmen zum<br />
Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland<br />
gewählt. Fischer wirft in seinem Beitrag die Frage auf,<br />
inwieweit diese Wahl den Vorgaben des Grundgesetzes<br />
entsprach.<br />
Gemäß Art. 54 Abs. 1 GG wird der Bundespräsident<br />
von der Bundesversammlung gewählt. Diese besteht<br />
gemäß Art. 54 Abs. 3 GG aus den Mitgliedern des<br />
Bundestages und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern,<br />
die von den Volksvertretungen der Länder nach<br />
den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden.<br />
Am 19.04.2004 verstarb eine Direktkandidatin des<br />
Bundestages. Da der entsprechende Landesverband<br />
ihrer Partei bei der Bundestagswahl 2002 ein Überhangmandat<br />
errungen hatte, konnte aufgrund des<br />
Beschlusses des BVerfG vom 26.02.1998 (BVerfGE 97,<br />
317) für die verstorbene Bundestagsabgeordnete niemand<br />
von der Landesliste nachrücken. Das BVerfG<br />
hatte nämlich entschieden, dass § 48 Abs. 1 BWG<br />
beim Ausscheiden von Abgeordneten, deren Partei im<br />
betreffenden Bundesland Überhangmandate errungen<br />
hat, nicht angewendet werden dürfe. Infolge dessen<br />
reduzierte sich die gesetzliche Mitgliederzahl des Bundestages<br />
von 603 auf 602. Gem. Art. 54 Abs. 3 GG<br />
reduzierte sich folglich auch die Zahl der Mitglieder<br />
der Bundesversammlung, die von den Volksvertretungen<br />
der Länder gewählt werden. Dies wurde jedoch<br />
bei der Zusammensetzung der Bundesversammlung<br />
vom 23.05.2004 außer Acht gelassen. Vielmehr wurde<br />
entsprechend des nach Art. 54 Abs. 7 GG erlassenen<br />
Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten so<br />
vorgegangen, dass die Bundesregierung am 16.01.2004<br />
die Verteilung der Wahlmännersitze auf die Länder<br />
bekannt machte und dies im Bundesgesetzblatt vom<br />
21.01.2004 (BGBl. I, 79) veröffentlicht wurde. Hierbei<br />
wurde jedoch von einer Mitgliederzahl des Bundestages<br />
von 603 Mitgliedern ausgegangen. Am 31.03.2004<br />
war die Wahl der von den Landtagen zu wählenden<br />
Wahlmännern auf dieser Grundlage abgeschlossen.<br />
Gemäß § 2 Abs. 1 S. 2 BPräsWahlG wurde auf eine<br />
nachträgliche Verringerung der Zahl der von den<br />
Landtagen zu wählenden Wahlmänner verzichtet.<br />
Damit stellt sich die Frage, ob gegen die Vorschrift des<br />
Art. 54 Abs. 3 GG verstoßen wurde. Hieran knüpft<br />
sich die Frage an, welche Rechtsfolgen ein evtl. Verfassungsverstoß<br />
auslöst.<br />
1. Zur Verfassungsmäßigkeit der Wahl des Bundespräsidenten<br />
Gem. Art. 54 Abs. 7 GG regelt ein Bundesgesetz „das<br />
Nähere“. Es stellt sich damit die Frage, ob die abweichende<br />
Regelung des einfachen Gesetzes über die<br />
Wahl des Bundespräsidenten von der Verfassungsnorm<br />
des Art. 54 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich zu<br />
beanstanden ist. Hierzu rekurriert Fischer den Grundsatz<br />
lex superior derogat legi interferiori, wonach sich<br />
höherrangiges Recht gegenüber unterrangigen Rechtsnormen<br />
durchsetzt. Gerade die Ausgestaltungsbefugnis<br />
des einfachen Gesetzgebers bzgl. des „Näheren“ lasse<br />
lediglich Regelungen zu, die die Vorgaben des Grundgesetzes<br />
konkretisieren. Mit diesem Grundsatz sei es<br />
jedenfalls unvereinbar, wenn in dem Bundesgesetz<br />
über die Wahl des Bundespräsidenten Regelungen<br />
angeordnet würden, die den Vorgaben des Art. 54<br />
nicht entsprechen. Fischer erörtert zunächst, ob eine<br />
Abweichung vom Verfassungswortlaut mit der Überlegung<br />
zu rechtfertigen ist, dass Art. 54 Abs. 3 GG einen<br />
ungeschriebenen Vorbehalt dahingehend enthält, dass<br />
die Gleichheit der Sitzzahl nur insoweit gewährleistet<br />
sein müsse, als dem nicht gravierende Praktikabilitätsgesichtspunkte<br />
entgegenstünden. Ob Art. 54 GG tatsächlich<br />
einen dahingehenden ungeschriebenen Praktikabilitätsvorbehalt<br />
enthält, lässt Fischer jedoch offen.<br />
Ein solcher Vorbehalt wäre nämlich jedenfalls dann<br />
überspannt, wenn praktische Erwägungen zu einer<br />
solchen modifizierenden Interpretation nicht zwingen<br />
würden. Allerdings sei die Berücksichtigung einer verringerten<br />
Mitgliederzahl des Bundestages auch bei der<br />
Zusammensetzung der Bundesversammlung ohne weiteres<br />
möglich. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass die<br />
Fälle, in denen es zu einer Verringerung der von den<br />
Ländervertretungen zu wählenden Mitglieder der Bundesversammlung<br />
nur sehr selten auftreten würden. Tatsächlich<br />
kämen hierfür nur vier Fallgruppen in Betracht:<br />
• Das Verbot einer im Bundestag vertretenen Partei<br />
(§ 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5, Abs. 4 BWG);<br />
• die ein Nachrücken unmöglich machende Erschöpfung<br />
einer Landesliste (§ 48 Abs. 1 S. 3 BWG);<br />
• das Ausscheiden eines als Einzelwerber gewählten<br />
Abgeordneten, falls nach § 48 Abs. 2 S. 3 BWG keine<br />
Ersatzwahl stattfindet, weil feststeht, dass innerhalb<br />
von sechs Monaten ein neuer Bundestag gewählt<br />
wird;<br />
• der Wegfall eines Überhangmandates infolge Ausscheidens<br />
einer mit diesem im Zusammenhang stehenden<br />
Abgeordneten (gemäß dem Beschluss des<br />
BVerfG vom 26.02.1998).<br />
46
AS aktuell Juni 2005<br />
In diesen Fällen sei es ohne weiteres möglich, im Falle<br />
der Verringerung der gesetzlichen Mitgliederzahl<br />
gleichzeitig die Zahl der Wahlmänner zu verringern.<br />
Dies sei z.B. möglich, indem man zusätzlich zur Wahl<br />
der Wahlmänner auf Grundlage der zu diesem Zeitpunkt<br />
aktuellen gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestages<br />
noch hilfsweise eine weitere Wahl auf der ggf.<br />
reduzierten Grundlage durchführen könnte. Da hiermit<br />
ein unzumutbarer Aufwand nicht verbunden ist,<br />
wäre ein etwaiger ungeschriebener Praktikabilitätsvorbehalt<br />
in Art. 54 Abs. 3 GG jedenfalls überschritten.<br />
Demzufolge war nach Ansicht von Fischer die Bundesversammlung<br />
vom 23.05.2004 verfassungswidrig<br />
zusammengesetzt und die Wahl des neuen Bundespräsidenten<br />
demzufolge verfassungswidrig.<br />
2. Folgen der Verfassungswidrigkeit<br />
Nach den allgemeinen Grundsätzen führt ein Verfassungsverstoß<br />
im Wahlverfahren nur dann zur Nichtigkeit,<br />
wenn dieser Fehler für den Wahlausgang entscheidungserhebliche<br />
Auswirkungen entfalten konnte.<br />
Für den Fall der verfassungswidrigen Zusammensetzung<br />
der Bundesversammlung heißt dies, dass die<br />
Wahl nur dann nichtig wäre, wenn der neue Bundespräsident<br />
exakt 603 der 1.205 möglichen Stimmen<br />
erhalten hätte, da in diesem Fall das rechtmäßige Alternativergebnis<br />
„dann möglicherweise 602 von 1.204<br />
Stimmen“ hätte lauten können. Dies käme für den<br />
ersten oder zweiten Wahlgang in Betracht, da in diesen<br />
Wahlgängen gemäß Art. 54 Abs. 6 S. 1 und 2, 1.<br />
Halbs. GG derjenige Kandidat gewählt ist, der die<br />
Stimmen der Mehrheit der Mitglieder der Bundesversammlung<br />
erhält. Da gemäß Art. 54 Abs. 6 S. 2, 2.<br />
Halbs. GG im dritten Wahlgang derjenige gewählt ist,<br />
der die meisten Stimmen auf sich vereinigt, wäre in<br />
diesem Wahlgang die Entscheidungserheblichkeit bei<br />
einer Differenz zwischen den beiden erfolgreichsten<br />
Kandidaten von genau einer Stimme gegeben. Allerdings<br />
erhielt der Kandidat Köhler 604 Stimmen, sodass<br />
schon bei rechnerischer Betrachtung eine Entscheidungserheblichkeit<br />
nicht gegeben war.<br />
Hinsichtlich der Frage, welche Rechtsfolge diese Verfassungswidrigkeit<br />
hat, seien zwei widerstreitende<br />
verfassungsrechtliche Gesichtspunkte zu berücksichtigen:<br />
Einerseits das Interesse eines jeden Staates an der<br />
Existenz handlungsfähiger Staatsorgane, andererseits<br />
jedoch das verfassungsrechtliche Gebot, den legitimationsspendenden<br />
Wahlvorgang fehlerfrei zu halten.<br />
Nach Ansicht von Fischer überwiegt das Bestandsinteresse<br />
jedenfalls dann, wenn schon rechnerisch keine<br />
Entscheidungserheblichkeit gegeben ist und darüber<br />
hinaus bei realistischer Betrachtung ausgeschlossen<br />
werden könne, dass bei verfassungsgemäßer Zusammensetzung<br />
der Bundesversammlung diese einen anderen<br />
Verlauf genommen hätte. Hiervon sei jedoch bei<br />
der Wahl am 23.05.2004 schon deswegen nicht auszugehen,<br />
da es sich um eine lediglich geringfügige Überbesetzung<br />
gehandelt habe. Diese habe zudem zu keinerlei<br />
Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse<br />
und die Kandidatenvorschläge geführt, sodass das<br />
Bestandsinteresse überwiegt. Folglich sei die Wahl des<br />
Bundespräsidenten vom 23.05.2004 als wirksam anzusehen.<br />
Ergänzung zu: AS-Skript VerfassungsR (2004), S. 145 ff.<br />
Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen<br />
des E-Governments<br />
Schliesky DÖV 2004, 817 ff.<br />
Im Zuge der Verwaltungsmodernisierung werden seit<br />
geraumer Zeit Möglichkeiten ausgelotet, Verwaltungsdienstleistungen<br />
auf elektronischem Wege zu erfüllen.<br />
Modellprojekte in diesem Bereich sind vielfältig und<br />
können weitgehend als Teil des sog. „E-Governments“<br />
verstanden warden. Dies stellt nach der sog. „Speyerer<br />
Definition“ die Abwicklung geschäftlicher Prozesse im<br />
Zusammenhang mit Regieren und Verwalten (Government)<br />
mit Hilfe von Informations- und Kommunikationstechniken<br />
über elektronische Medien dar. Neben<br />
technischen, verwaltungswissenschaftlichen und<br />
verwaltungsrechtlichen Fragestellungen stellen sich bei<br />
der Realisierung des E-Governments auch verfassungsrechtliche<br />
Problemstellungen. Dies wird offensichtlich,<br />
wenn man berücksichtigt, dass mit der Einführung<br />
eines E-Governments nicht lediglich die Vereinfachung<br />
von Verwaltungsabläufen und -verfahren bezweckt<br />
wird, sondern als „Gesamtkonzept“ die Organisation<br />
und Struktur der Verwaltung insgesamt nach<br />
wirtschaftswissenschaftlichen Modellen angestrebt wird.<br />
So lässt bereits der Umstand, dass das E-Government<br />
als „gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und<br />
Kommunen“ (Kleindiek, in Reinermann/von Lucke<br />
(Hrsg.), Electronic Government in Deutschland, Speyerer<br />
Forschungsberichte 226, 2002, S. 1 ff.), erkennen,<br />
dass die bisherigen Zuständigkeitsabgrenzungen in<br />
dem föderalen System der Bundesrepublik tangiert<br />
werden dürften.<br />
I. E-Government-Konzept des Bundes: „BundOnline<br />
2005“<br />
Ausgangspunkt der Überlegungen stellt die Initiative<br />
der Bundesregierung „BundOnline 2005“ dar, mit der<br />
eine Vielzahl als internetfähig qualifizierter Dienstleistungen<br />
des Bundes online angeboten werden.<br />
Vereinfacht betrachtet stellt der Bund sog. „Basiskomponenten“<br />
zur Verfügung, die Dienstleistungen unterstützen,<br />
allerdings selbst keine Dienstleistungen der<br />
Bundesverwaltung darstellen sollen. Ergänzt werden<br />
dieses Komponenten durch fünf sog. Kompetenzzentren,<br />
die Fachbehörden bei der Einführung der Basiskomponenten<br />
beraten und unterstützen sollen. Zugang<br />
zu den jeweiligen Dienstleistungen erhält man durch<br />
47
Juni 2005 AS aktuell<br />
das Internetportal „www.bund.de“, welches als zentrale<br />
Schnittstelle zwischen der Bundesverwaltung einerseits<br />
und den Bürgern und der Wirtschaft andererseits<br />
eingerichtet wurde.<br />
II. Vereinbarkeit des Konzepts mit der verfassungsrechtlichen<br />
Kompetenzordnung<br />
1. Ebene der bundeseigenen Verwaltung<br />
Die wesentliche Aufgabe der sog. Kompetenzzentren<br />
ist die Bündelung von Know-how zu spezifischen<br />
Themen sowie die Begleitung anderer Behörden bei<br />
der Einführung der Basiskomponenten. Die verfassungsrechtliche<br />
Zulässigkeit dieser Einheiten richtet<br />
sich nach Art. 86 GG, der nach h.M. auch für den hier<br />
relevanten Bereich der gesetzesfreien Bundesverwaltung<br />
gilt. Gem. Art. 86 Abs. 2 GG kann der Bund die<br />
Einrichtung der Behörden regeln, sofern es sich der<br />
Sache nach um bundeseigene Verwaltung handelt und<br />
ein Gesetz nichts anderes bestimmt. Damit stellt sich<br />
die Frage, ob es sich bei der Errichtung von Kompetenzzentren<br />
und der Begründung der Basiskomponenten<br />
um „Einrichtung der Behörden“ handelt. Legt man<br />
den Behördenbegriff des § 1 Abs. 4 VwVfG zugrunde,<br />
so handelt es sich nach Ansicht von Schliesky jedoch<br />
lediglich um organisatorisch unselbstständige Teile<br />
bestehender Behörden, die als Folge einer behördeninternen<br />
Umstrukturierung entstanden sind. Anders stellt<br />
sich jedoch die Einordnung der sog. Basiskomponenten<br />
dar. Bei diesen handelt es sich um zentrale Funktionseinheiten,<br />
die Bestandteil einzelner Verwaltungstätigkeiten<br />
sein können. Ob diese Basiskomponenten<br />
verfassungsrechtlich zulässig sind, hänge davon ab, wie<br />
der Begriff der „Einrichtung“ von Behörden gem.<br />
Art. 86 S. 2 GG zu verstehen sei. Nach dem überwiegend<br />
vertretenen weiten Begriffsverständnis umfasst<br />
der „Einrichtungsbegriff“ auch die Festlegung des Aufgabenbereiches,<br />
die Zuweisung einer sachlichen Zuständigkeit<br />
sowie die Festlegung des Platzes in einer<br />
Gesamtorganisation (Burgi in von Mangoldt/Klein/<br />
Starck (Hrsg.), GG, Bd. 3, Art. 86 Rn. 78 a.E.). Folglich<br />
sei auch die Einführung der Basiskomponenten<br />
von Art. 86 GG gedeckt.<br />
Die Plattform „www.bund.de“ demgegenüber trete<br />
nach außen als virtuelles Bürgerbüro auf und diene<br />
wesentlich der Außendarstellung der Bundesverwaltung.<br />
Da das BVerfG die Kompetenz des Bundes zum<br />
Informationshandeln aus Art. 65 S. 2 GG weit verstehe<br />
(BVerfG NJW 2002, 2621, 2623), könne sich der Bund<br />
für die Errichtung dieses Portals auf diesen Titel stützen.<br />
2. Ebene der Landesverwaltung<br />
Nach dem Beschluss der Bundesregierung von<br />
11.12.2002 soll das Konzept des E-Governments jedoch<br />
nicht nur die Bundesverwaltung steuern; vielmehr<br />
sollen auch Länder und Kommunen in die Umsetzung<br />
einbezogen werden. Ziel ist es, eine nahtlose<br />
wechselseitige Kommunikation zwischen sämtlichen<br />
Verwaltungsträgern zu gewährleisten. Gleichzeitig<br />
wurde jedoch ein faktischer Anpassungsdruck dadurch<br />
erzeugt, dass die künftige Förderung von IT-Projekten<br />
im Rahmen von „BundOnline 2005“ von einer Konformität<br />
mit den technischen Standards des Bundes<br />
abhängig gemacht wird. Hierdurch werde in die Organisationshoheit<br />
der Länder eingegriffen, indem nämlich<br />
ausdifferenzierte Vorgaben für die Ausführung<br />
ihrer materiellen Verwaltungsaufgaben gemacht würden.<br />
Da dies jedoch die „eigenen Angelegenheiten“ der<br />
Länder im Sinne der Art. 30, 84 Abs. 1 GG darstellt,<br />
stellt sich die Frage, ob der Bund die Kompetenz für<br />
eine organisatorische Zentralisierung von Verwaltungsaufgaben<br />
bei Bundesbehörden besitzt. Nach Ansicht<br />
von Schliesky ist dies im Bereich des Vollzugs<br />
von Bundesgesetzen durch die Länderverwaltung der<br />
Fall, da der Bund in diesem Bereich eine Regelungsund<br />
Vereinheitlichungskompetenz in Anspruch nehmen<br />
könne. Dies folge daraus, dass die Organisationshoheit<br />
der Länder nur so weit reiche, wie nicht Bundesgesetze<br />
mit Zustimmung des Bundesrates etwas<br />
anderes bestimmen. Soweit jedoch entsprechende<br />
Regelungen erlassen würden, seien diese Ausgestaltungen<br />
für die Länder verpflichtend. Anders stellt sich<br />
jedoch die Rechtslage in dem Bereich des Vollzugs<br />
von Landesgesetzen durch die Länder dar. Hier fehle<br />
es dem Bund an einer entsprechenden Regelungskompetenz.<br />
Denkbar sei in diesem Bereich allenfalls eine<br />
„Gefolgschaft“ der Länder im Bereich sachlich sinnvoller<br />
Konzepte, wie dies auch weitgehend im Bereich<br />
des VwVfG erfolgt ist.<br />
3. Ebene der Kommunalverwaltung<br />
Auf der kommunalen Ebene stellt sich insbesondere<br />
die Frage, inwieweit mit einer detaillierten Ausgestaltung<br />
von Verfahrensabläufen und der Vorgabe von<br />
Geschäftsprozessen in die kommunale Selbstverwaltungsgarantie<br />
des Art. 28 Abs. 2 GG eingegriffen wird,<br />
die den Gemeinden das Recht vermittelt, Angelegenheiten<br />
der örtlichen Gemeinschaft in eigener Verantwortung<br />
zu regeln. Indem die Kommune die Entscheidungszuständigkeiten<br />
nicht mehr im Einzelnen festlegen<br />
kann, dürfte es zu einem Eingriff in die Organisationshoheit<br />
der Kommune kommen. Allerdings ist<br />
diese nicht vor jeglicher Beeinträchtigung geschützt.<br />
Vielmehr erlaubt Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG Eingriffe im<br />
Rahmen der Gesetze. Allerdings steht dieses Recht<br />
grds. den Ländern und nicht dem Bund zu.<br />
Ergänzung zu: AS-Skript VerfassungsR (2004), S. 199 ff.<br />
48