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von Prof. Dr. Jörg M. Fegert (PDF, 64 Seiten

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In the best interests of the child.<br />

Kindeswohl und Kindesinteresse als<br />

handlungsleitendes Prinzip oder als<br />

Plädierformel im Kinderschutz<br />

Kinderschutzkongress 2013<br />

21.3.2013 in Zürich<br />

J. M. <strong>Fegert</strong>, Ulm


Gliederung<br />

• Sorge um das Kindeswohl ein Phänomen der Neuzeit<br />

– in armen Familien<br />

– in Institutionen der Arbeit<br />

– Schutzhäuser als Alternative<br />

– Kinderechtedebatte<br />

• Kindeswohl unbestimmte Generalklausel<br />

• Kindeswohl und Kindeswille<br />

– Verfahrensbeteiligung (voice effect)<br />

– Beteiligungsparadoxon<br />

– Plädierformel PAS<br />

• Kindeswohl als Entscheidungsmassstab (Optimalität)<br />

und Kindeswohlgefährdung als Eingriffsschwelle<br />

– Bindungsprinzip, Förderungsprinzip, Kontinuitätsprinzip<br />

– Basisbedürfnisse ; am wenigsten schädliche Alternative<br />

– Risikoeinschätzung<br />

• Institutionen als Ort der Kindeswohlgefährdung,<br />

Kinderschutz in Institutionen<br />

• Fazit


Kindeswohl in historischer Perspektive<br />

Familie wurde in Europa hauptsächlich als ökonomische Einheit,<br />

als „familia“ im römischen Sinne verstanden<br />

erst an der Schwelle zur Neuzeit entwickelte sich die Familie zu<br />

einem Ort der durch emotionale Bindungen charakterisiert<br />

wird (Cunningham 2006)<br />

Philippe Ariès „Geschichte der Kindheit“ (1975)<br />

Kindheit sei eine „Erfindung“ der frühen Neuzeit<br />

Antike bis Mittelalter<br />

verschiedene Lebensaltersmodelle und -phasen<br />

z.B. infantia, peueritia, adolescentia<br />

Kindheit wird als defizitäre Phase angesehen


Kindheit als besonders zu schützende<br />

Lebensphase<br />

Neuzeit<br />

Kinder werden als eigenständige Individuen angesehen und<br />

sollten durch geeignete Pädagogik gefördert werden<br />

Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)<br />

Johann H. Pestalozzi (1746-1824)<br />

Maria Montessori (1870-1952)<br />

zunehmende Industrialisierung im 19. Jhd. führte zur<br />

Verelendung/Vernachlässigung <strong>von</strong> Arbeiterkindern<br />

Schutzbewegungen kommen auf<br />

• Entstehung der Fürsorgeerziehung in Deutschland:<br />

• „Rettungshäuser“ für verwahrloste Kinder und Jugendliche<br />

• Anfang des 19. Jahrhunderts (Don Bosco,<br />

Wichern 1833: Rauhes Haus)


Kinderarbeit – Ausgangspunkt <strong>von</strong><br />

Kindeswohl- und Kinderrechtedebatte<br />

Kinderarbeit: Beispiel Schwabenkinder<br />

1915 Abschaffung der „Kindermärkte“ in Deutschland<br />

• 1939 unter nationalsozialistischer Herrschaft Regulierung der<br />

Kinderarbeitszeit und des Mindestalters<br />

– Gesetzesbegründung: Erhaltung und Verbesserung der jugendlichen Wehrkraft<br />

Lithographie <strong>von</strong> Joseph Bayer aus dem Jahr 1849


Das Jahrhundert des Kindes und die<br />

„Errettung der Kinder“<br />

Ellen Key (1849-1926) bezeichnet hoffnungsvoll das<br />

20. Jhd. als das „Jahrhundert des Kindes“<br />

„Errettung der Kinder“ als oberste gesellschaftliche Pflicht<br />

Recht der Kinder auf eine gewaltfreie und liebevolle Erziehung<br />

neue Sichtweise: Forderung nach Kindeswohl und Kindesschutz,<br />

Kind jetzt besonders schützenswerter Teil der Gesellschaft<br />

mit Verrechtlichung des Kindeswohlgedankens im deutschen<br />

BGB (1900) liegt jetzt die Definition des Kindeswohls z.T.<br />

außerhalb der Familie<br />

Missbräuchliche elterliche Gewalt stößt an staatliche Grenzen<br />

International entstehen Kinderschutzbewegungen


Agendasetting durch<br />

Kinderschutzdebatten<br />

Michael King „Moral Agendas for Children‘s Welfare“ (1999):<br />

„In categories of agenda it is not individuals, but social<br />

systems which are being unjust to children.“<br />

danach beginnt Agenda Setting im 19. Jhd. mit<br />

sozialpolitischer Debatte um Kinderarbeit und<br />

Jugendverwahrlosung/ -kriminalität<br />

Berichterstattung ändert sich<br />

der Fall „Mary Ellen“ war<br />

zentral für die Entstehung<br />

der Amerikanischen<br />

Kinderschutzbewegung<br />

(Grafik zitiert nach Eckhardt 1998, S. 9; in <strong>Fegert</strong>, Fangerau, Zeigenhain, 2010, S. 38)


Schwache Kinder schützen:<br />

“Verwahrlosung” bekämpfen<br />

Entstehung der Kinderschutzbewegungen im Ausgang des 19.<br />

Jahrhunderts:<br />

• 1889 verabschiedete das britische Parlament ein Gesetz, das<br />

Kinder vor Mißhandlung schützen sollte<br />

• “das geschah aber erst, nachdem die Gesellschaft zur<br />

Verhütung <strong>von</strong> Tiermißhandlungen Klagen erhalten hatte<br />

und zu der Überzeugung kam, daß sie sich nicht mit dem<br />

Tierschutz begnügen dürfe.” Priscilla Robertson in Lloyd<br />

de Mause 1974, deutsch 1977, p. 596<br />

• 1895 erhielt die Gesellschaft zur Verhütung <strong>von</strong><br />

Kindesmißhandlungen ihre königliche Gründungsurkunde


Internationale Kinderrechte und ihre Umsetzung<br />

• Völkerbund 1924: „Genfer Deklaration der Rechte des<br />

Kindes“ noch keine Selbstbestimmungsrechte<br />

• UN 1959: „Erklärung der Rechte der Kinder“ nach<br />

Genfer Vorbild: Kindern werden eigene, spezifische<br />

Rechte anerkannt<br />

• Nach 10jähriger Beratung:<br />

20. Nov. 1989: UN Kinderrechtskonvention


Agendasetting für Kindeswohl durch<br />

Kinderschutzdebatten<br />

Berichterstattung über Kindesmisshandlung, -missbrauch, -<br />

vernachlässigung<br />

Entwicklung der öffentlichen Debatte<br />

zeigt Epochen der Diskussion um Kinderschutz auf<br />

Veränderungen der Stellung/ des Wertes <strong>von</strong> Kindern


Gliederung<br />

• Sorge um das Kindeswohl ein Phänomen der Neuzeit<br />

– in armen Familien<br />

– in Institutionen der Arbeit<br />

– Schutzhäuser als Alternative<br />

– Kinderechtedebatte<br />

• Kindeswohl unbestimmte Generalklausel<br />

• Kindeswohl und Kindeswille<br />

– Verfahrensbeteiligung (voice effect)<br />

– Beteiligungsparadoxon<br />

– Plädierformel PAS<br />

• Kindeswohl als Entscheidungsmassstab (Optimalität)<br />

und Kindeswohlgefährdung als Eingriffsschwelle<br />

– Bindungsprinzip, Förderungsprinzip, Kontinuitätsprinzip<br />

– Basisbedürfnisse ; am wenigsten schädliche Alternative<br />

– Risikoeinschätzung<br />

• Institutionen als Ort der Kindeswohlgefährdung,<br />

Kinderschutz in Institutionen<br />

• Fazit


Kindeswohl: Generalklausel<br />

• Lange Debatte um die Ausfüllung des unbestimmten<br />

Rechtsbegriffs<br />

• Disziplinäre, einseitige Erklärungsansätze oder<br />

Alleinzuständigkeit einer Disziplin sind nach Coester<br />

1983, Seite 163 mit der „prinzipiellen Umfassenheit des<br />

Kindeswohlbegriffs“ unvereinbar.<br />

Willutzky (zitiert nach <strong>Fegert</strong> 2000, Seite 36) hat als<br />

damaliger Vorsitzender des Familiengerichtstags auf<br />

die Frage: „Wem gehört das Kindeswohl? geantwortet<br />

„den Kindern und den Juristen“<br />

Im Folgenden soll versucht werden diese einfache<br />

Sichtweise aufzuweiten.


Juristische Einzelfallbeurteilung vs. Befunde aus den<br />

Tatsachenwissenschaften


Gliederung<br />

• Sorge um das Kindeswohl ein Phänomen der Neuzeit<br />

– in armen Familien<br />

– in Institutionen der Arbeit<br />

– Schutzhäuser als Alternative<br />

– Kinderechtedebatte<br />

• Kindeswohl unbestimmte Generalklausel<br />

• Kindeswohl und Kindeswille<br />

– Verfahrensbeteiligung (voice effect)<br />

– Beteiligungsparadoxon<br />

– Plädierformel PAS<br />

• Kindeswohl als Entscheidungsmassstab (Optimalität)<br />

und Kindeswohlgefährdung als Eingriffsschwelle<br />

– Bindungsprinzip, Förderungsprinzip, Kontinuitätsprinzip<br />

– Basisbedürfnisse ; am wenigsten schädliche Alternative<br />

– Risikoeinschätzung<br />

• Institutionen als Ort der Kindeswohlgefährdung,<br />

Kinderschutz in Institutionen<br />

• Fazit


Die Wille-Wohl-Debatte<br />

• „Kindesschutz schützt was Kinder wollen“<br />

• Video zum Kindesschutzkongress<br />

• Bedeutet Umsetzung des Kindeswillens<br />

tatsächlich immer Kindesschutz?<br />

• Gibt es Interessenkonflikte besonders in<br />

Kindesschutzsachen?<br />

• Deutschland: Verfahrensbeistandschaft (früher<br />

Verfahrenspfleger) ist in konzeptioneller Ambiguität<br />

(Murch) advokatorischer und vormundschaftlicher<br />

Interessenvertretung verpflichtet<br />

• England: Tandemmodell : Aufteilung dieser Rollen in<br />

solicitor und guardian ad litem


Dichotomie zwischen<br />

Kindeswohl und Kindeswillen<br />

• Ist häufig artifiziell und nicht sinnvoll auflösbar<br />

• Alleinige Berücksichtigung des Kindeswillens, der durch<br />

unklare Loyalitäten z.B. in Misshandlungs- oder<br />

Missbrauchsfällen bestimmt sein kann, kann den „best<br />

interests of the child“ entgegenstehen<br />

• Im Extremfall kann eine Entscheidung, welche nicht dem<br />

derzeitigen Kindeswillen entspricht, dem Kindeswohl<br />

insgesamt besser entsprechen<br />

• Dennoch ist die Berücksichtigung des Kindeswillens Teil des<br />

Kindeswohls<br />

• Fürsorgliche Nichtberücksichtigung des Kindeswillens muss<br />

auch vor dem Kind begründet werden. Es sollte in den Akten<br />

dargelegt werden, dass das Kind andere Wünsche artikuliert<br />

hat, dass diese aber aus folgenden Gründen ….. derzeit nicht<br />

berücksichtigt werden konnten


Notwendigkeit der Verfahrensbeteiligung<br />

„Man kann ja nicht einfach so über ein Lebewesen<br />

hinweg entscheiden , ob nun Kind oder Jugendlicher.<br />

Es muss ja wenigstens gefragt werden auch wenn<br />

man nicht akzeptiert wird.“<br />

(Mädchen 8 Jahre, in <strong>Fegert</strong> et al. 2000 ,gefördert <strong>von</strong><br />

VW II/ 74 904)<br />

UN KRK: Artikel 12 (Meinung bilden,<br />

angemessen berücksichtigen)<br />

Artikel 13 (Informationsfreiheit)


Europäisches Übereinkommen über die Ausübung <strong>von</strong><br />

Kinderrechten (25. Januar 96, Artikel 10)<br />

(1) In einem ein Kind berührenden Verfahren vor einer<br />

Justizbehörde hat der Vertreter, sofern dies nicht dem<br />

Wohl des Kindes widersprechen würde<br />

a) dem Kind, wenn es nach innerstaatlichem Recht als<br />

hinreichend verständlich angesehen wird, alle<br />

sachdienlichen Auskünfte zu erteilen;<br />

b) dem Kind, wenn es nach innerstaatlichem Recht als<br />

hinreichend verständlich angesehen wird,<br />

Erläuterungen zu den möglichen Folgen einer<br />

Berücksichtigung seiner Meinung und zu den<br />

möglichen Folgen einer Handlung des Vertreters zu<br />

geben;<br />

c) die Meinung des Kindes festzustellen und der<br />

Justizbehörde diese Meinung vorzutragen


voice effect<br />

• Mitsprachemöglichkeiten im<br />

Entscheidungsprozess erhöhen die<br />

wahrgenommene Fairness, selbst dann wenn<br />

keine Kontrolle hinsichtlich des Ergebnisses<br />

der Entscheidung besteht<br />

• Mitsprache führt zu höherer Akzeptanz und<br />

Bindung an die Folgen der Entscheidung<br />

• Schleiermacher 1826: „ Man darf den Willen<br />

nicht unterdrücken, denn je schwächer er sich<br />

entwickelt, desto weniger kann er nachher<br />

anerkannt werden ...“


Kontrollrechte in Entscheidungssituationen


Problemfälle Beteiligungsparadoxon (<strong>Fegert</strong> 1998)<br />

• Gut geförderte Kinder ohne<br />

Entwicklungsdefizite, Behinderungen<br />

und/oder psychische Störungen haben die<br />

besten Voraussetzungen um bei<br />

Entscheidungen zu partizipieren.<br />

• Die stärksten Interessenkonflikte und damit<br />

die höchste Notwendigkeit der eigenständigen<br />

Beteiligung <strong>von</strong> Kindern ergeben sich in<br />

Belastungssituationen


Gefahr: Umgangsverwirklichung als<br />

alleiniger Indikator für Kindeswohl<br />

• PAS – Konstrukt bringt artikulierten<br />

Kindeswillen zum Verschwinden<br />

– Willensäußerung wird zum Ergebnis elterlicher<br />

Beeinflussung gemacht<br />

– Kritik <strong>Fegert</strong> 2001 a,b: Alter, diagnostizierbare<br />

Phänomene (folie à deux), allgemeine<br />

Suggestionsforschung<br />

– Folgen: (Vgl. Wallerstein dt.2002) erzwungener<br />

Umgang „zum Wohle“ und gegen den artikulierten<br />

Willen des Kindes führt zu Beziehungsabbrüchen bzw.<br />

kompletter Kontaktverweigerung im jungen<br />

Erwachsenenalter, wenn die Betroffenen selbst<br />

bestimmen können.<br />


Sonderfall PAS :<br />

Ausschaltung des<br />

Kindeswillens<br />

PAS Parental Alienation Syndrome<br />

Gardner (1992) geht da<strong>von</strong> aus, dass in<br />

Trennungssituationen der betreuende Elternteil durch<br />

„Gehirnwäsche“ oder „Programmierung“ als<br />

massive Form elterlichen Suggestionsverhaltens,<br />

teilweise aus unbegründeten Ängsten, für eine<br />

Entfremdung der Kinder gegenüber dem<br />

umgangsberechtigten anderen Elternteil sorgt.<br />

Wille des Kindes ist dann unerheblich da<br />

„programmiert“<br />

Versuch der PAS Anhänger dieses<br />

„Syndrom“ ins DSM 5 aufnehmen zu lassen<br />

ist gescheitert (<strong>Fegert</strong> 2013)


Bindungstoleranz<br />

Ein anderer zentraler Begriff bei den PAS Anhängern<br />

ist die sogenannte Bindungstoleranz.<br />

Sie wird als Kriterium für verantwortete Elternschaft<br />

gesehen und bedeutet, die Toleranz gegenüber<br />

Kontakten mit dem umgangsberechtigten Elternteil.<br />

Nicht hinreichende „Bindungstoleranz“ ist somit<br />

eine Kindeswohlgefährdung und damit eine<br />

Rechtfertigung für Entzug des Sorgerechts oder<br />

einen erzwungenen Wechsel der<br />

Betreuungsverhältnisse auch gegen das<br />

Kontinuitätsprinzip


Gliederung<br />

• Sorge um das Kindeswohl ein Phänomen der Neuzeit<br />

– in armen Familien<br />

– in Institutionen der Arbeit<br />

– Schutzhäuser als Alternative<br />

– Kinderechtedebatte<br />

• Kindeswohl unbestimmte Generalklausel<br />

• Kindeswohl und Kindeswille<br />

– Verfahrensbeteiligung (voice effect)<br />

– Beteiligungsparadoxon<br />

– Plädierformel PAS<br />

• Kindeswohl als Entscheidungsmassstab (Optimalität)<br />

und Kindeswohlgefährdung als Eingriffsschwelle<br />

– Bindungsprinzip, Förderungsprinzip, Kontinuitätsprinzip<br />

– Basisbedürfnisse ; am wenigsten schädliche Alternative<br />

– Risikoeinschätzung<br />

• Institutionen als Ort der Kindeswohlgefährdung,<br />

Kinderschutz in Institutionen<br />

• Fazit


Kindeswohl - Entscheidungsmaßstab und<br />

Eingriffslegitimation (Coester 1983)<br />

• Kindeswohl als Entscheidungsmaßstab<br />

funktional, weil es Konsensfähigkeit ermöglicht<br />

(niemand wird sich gegen das Kindeswohl<br />

aussprechen)<br />

• Unbestimmtheit des Begriffs erlaubt es<br />

gesellschaftlichen Wandel zu berücksichtigen.<br />

• Stellungnahmen aus den<br />

Tatsachenwissenschaften aus den letzten 50<br />

Jahren lassen ganz unterschiedliche Kriterien in<br />

unterschiedlicher Gewichtung erkennen.<br />

Dennoch muss deshalb die generelle<br />

Begrifflichkeit „Kindeswohl“ nicht geändert<br />

werden.


Dimensionen des Kindeswohls<br />

Bindungsprinzip<br />

Bindungsqualität<br />

Bindungsintensität<br />

Förderungsprinzip<br />

Betreuung, Versorgung, Pflege<br />

Erziehung<br />

Kontinuitätsprinzip


Die dem Kindeswohl am besten<br />

entsprechenden Verhältnisse (Optimalität)<br />

• Bindung im psychologischen Sinn vs.<br />

Bindungen im Sinne <strong>von</strong> Beziehungen<br />

• Beziehungskontinuität<br />

–Erhalt <strong>von</strong> Beziehungen<br />

–Vermeiden <strong>von</strong> Schul- und Vereinswechseln<br />

• Bildungsangebote<br />

• Förderung (Autonomieentwicklung)<br />

• Versorgung<br />

–Bedürfnispyramide (Maslow)


Konkretisierung <strong>von</strong> Kindeswohlkriterien versus prinzipielle<br />

Umfassenheit des Kindeswohlbegriffs (Coester 1983, Seite 163)<br />

• Kindeswohlförderung: Salutogenese-Konzept<br />

(Antonowsky) führt zur Definition <strong>von</strong><br />

Basisbedürfnissen, die für eine Entwicklung<br />

erfüllt sein müssen.<br />

• Berücksichtigung der Entwicklungsdimension<br />

• Entwicklungsaufgaben<br />

• Positiv Definition <strong>von</strong> Elementen die zum<br />

Kindeswohl beitragen versus negativ<br />

Definition im Sinne einer Eingriffsschwelle<br />

(Kindeswohlgefährdung)


„Gratwanderung“ bei der Risikoabschätzung<br />

Anna Freud: „zu früh zu viel oder zu spät zu wenig“<br />

Ungerechtfertigte<br />

Eingriffe in das<br />

Elternrecht<br />

Verlust <strong>von</strong> Vertrauen<br />

Verschluß vor weiteren<br />

Hilfsangeboten<br />

Schadensersatzansprüche<br />

Ungenügende<br />

Berücksichtigung<br />

des<br />

Kinderschutzes<br />

Schädigung des Kindes<br />

Strafbarkeit


Kindliche Basisbedürfnisse und deren Berücksichtigung in<br />

der UN-Kinderrechtskonvention<br />

Basic need<br />

UN-Kinderrechtskonvention<br />

Liebe und Akzeptanz<br />

Präambel, Art. 6;<br />

Art. 12, 13, 14<br />

Ernährung und Versorgung Art. 27, Art. 26, Art. 32<br />

Unversehrtheit, Schutz vor<br />

Gefahren, vor materieller<br />

emotionaler und sexueller<br />

Ausbeutung<br />

Art. 16, Art. 19,<br />

Art. 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40<br />

Bindung und soziale Beziehungen<br />

Art. 8, 9, 10, 11;<br />

Art. 20, 21, 22<br />

Gesundheit Art. 24, 25, 23, 33<br />

Wissen und Bildung<br />

Art. 17;<br />

Art. 28, 29, 30, 31


Bindung versus Bindungen<br />

• Juristischer Bindungsbegriff <strong>von</strong><br />

entwicklungspsychologischem stark<br />

unterschieden z.B. Konstrukte wie<br />

„Bindungstoleranz“ in Umgangsfragen oder<br />

Gleichsetzung <strong>von</strong> Blutsverwandtschaft mit<br />

Bindung<br />

• Bindungsforschung unterscheidet<br />

unterschiedliche, normale Bindungstypen,<br />

beschreibt aber auch die hoch unsichere oder<br />

desorganisierte Bindung als auffällige<br />

Bindungsformen welche häufiger bei<br />

Vernachlässigung und Misshandlung<br />

vorkommen


Bindungsstile<br />

- Klassisch erhoben in fremde Situationstests<br />

(FFS <strong>von</strong> Ainsworth et al. 1978)<br />

- Sichere Bindung (B-Kinder)<br />

Nutzen Bezugsperson als sichere Basis (Kinder weinen häufig<br />

bei der Trennung <strong>von</strong> der Mutter, lassen sich durch fremde<br />

Personen nicht vollständig trösten, freuen sich bei der Wiederkehr<br />

der Bezugsperson und suchen aktiv deren Nähe)<br />

- Unsicher vermeidende Bindung (A-Kinder)<br />

Erscheinen durch Trennung wenig verunsichert, zeigen kaum<br />

Kummer<br />

- Unsicher, ambivalente Bindung (C-Kinder)<br />

Zeigen Nähe suchen und gleichzeitig auch Abwehr und<br />

Widerstandsverhalten, wenig Exploration, Mittelpunktstrebigkeit<br />

- Desorganisierter Bindungstyp (D-Kinder)<br />

(Main u. Solomon 1990) Bizarre Bindungsmuster, häufig bei<br />

Kindern mit Handlungserfahrung, Vernachlässigung (Main u.<br />

Cassidy 1988).


Hochunsichere Bindung – ängstigendes Elternverhalten


Hochunsichere<br />

Bindung


Gliederung<br />

• Sorge um das Kindeswohl ein Phänomen der Neuzeit<br />

– in armen Familien<br />

– in Institutionen der Arbeit<br />

– Schutzhäuser als Alternative<br />

– Kinderechtedebatte<br />

• Kindeswohl unbestimmte Generalklausel<br />

• Kindeswohl und Kindeswille<br />

– Verfahrensbeteiligung (voice effect)<br />

– Beteiligungsparadoxon<br />

– Plädierformel PAS<br />

• Kindeswohl als Entscheidungsmassstab (Optimalität)<br />

und Kindeswohlgefährdung als Eingriffsschwelle<br />

– Bindungsprinzip, Förderungsprinzip, Kontinuitätsprinzip<br />

– Basisbedürfnisse ; am wenigsten schädliche Alternative<br />

– Risikoeinschätzung<br />

• Institutionen als Ort der Kindeswohlgefährdung,<br />

Kinderschutz in Institutionen<br />

• Fazit


KINDESWOHLGEFÄHRDUNG<br />

Definition deutscher BGH: Prognosefrage<br />

Kindeswohlgefährdung wird definiert als …<br />

„eine gegenwärtige, in einem solchen Maße<br />

vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren<br />

Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit<br />

ziemlicher Sicherheit voraussagen lässt“<br />

Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom 14.<br />

Juli 1956 (BGH FamRZ 1956, S. 350).<br />

Problem: Statistische Prognose<br />

(Riskochecklisten) vs. Individualprognose im<br />

Einzelfall


Abwehr <strong>von</strong> Kindeswohlgefährdung: häufig Entscheidung<br />

für die am Wenigsten schädliche Alternative<br />

• Güterabwägung der Pros und Cons z.B. bei<br />

Herausnahme aus Familie versus Verbleib in der<br />

Familie<br />

• Auch Kinderschutzmaßnahmen haben, neben den<br />

erwünschten positiven Wirkungen, negative<br />

Nebenwirkungen. Auch diese müssen abgewogen<br />

werden.<br />

• Goldstein/Freud/Solnit 1973 „The Least Detrimental<br />

Available Alternative for the Child‘s Growth and<br />

Development“<br />

(Seite 53 ff)<br />

- keine optimale Lösung<br />

- verfügbare und umsetzbare Lösung<br />

- Prognosefrage (growth and development)


Kindeswohlgefährdung als „unbestimmter Rechtsbegriff“<br />

Auslegungsbedürftigkeit:<br />

• Analyse der gegenwärtigen Gefahr<br />

• Prognose einer künftigen und erheblichen Schädigung<br />

• Gegenprobe der fachlichen Sicherheit<br />

nur sehr bedingt rechtlich zu leisten und daher<br />

vorwiegend mit den Mitteln der Human- und<br />

Sozialwissenschaften zu beantworten<br />

(Münder, J. 2000)<br />

fachliche Herangehensweise muss sich in jedem<br />

Einzelfall an der juristischen Definition und an<br />

sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen orientieren<br />

(Meysen, T. 2011)


Schwierigkeiten einer Misshandlungsdefinition<br />

Das amerikanische National Center for Diseases<br />

Control and Prevention hat in einem umfangreichen<br />

Konsultationsprozess Empfehlungen entwickelt, die<br />

einen entscheidenden Schritt zur Bewältigung vieler<br />

Schwierigkeiten einer Misshandlungsdefinition<br />

darstellen (Leeb, Paulozzi, Melanson, Simon, & Arias,<br />

2008). www.cdc.gov<br />

Unter Berücksichtigung des aktuellen wissenschaftlichen<br />

Diskurses wurde erstmals ein Konsens bezüglich<br />

operationalisierbarer Definitionen erreicht, der <strong>von</strong> der<br />

Medizin bis hin zur Sozialarbeit für statistische<br />

Angaben verwendet wird.


Schutzfaktoren<br />

Resilienz oder Widerstandskraft<br />

beim Kind<br />

robustes, aktives,<br />

kontaktfreudiges<br />

Temperament<br />

überdurchschnittliche<br />

Intelligenz<br />

positives Selbstkonzept<br />

soziale Ressourcen in<br />

der Betreuungsumwelt<br />

verlässliche und sichere<br />

Bindungsperson<br />

soziale Unterstützung der<br />

Familie<br />

Schulbildung


Risikofaktoren<br />

Stressoren in der<br />

Betreuungsumwelt<br />

Armut<br />

beengte Wohnbedingungen<br />

chronische Disharmonie in der<br />

Familie<br />

jugendliche und allein<br />

erziehende Mütter<br />

psychische Erkrankung eines<br />

Elternteils<br />

Kriminalität eines Elternteils<br />

Vulnerabilität<br />

beim Kind<br />

schwieriges<br />

Temperament<br />

genetische<br />

Belastung<br />

geringes<br />

Geburtsgewicht


Risikoeinschätzung<br />

Risiko < 3<br />

Sicherheit ≥ 4<br />

Risiko < 3<br />

Sicherheit < 4<br />

Risiko ≥ 3<br />

Sicherheit < 4<br />

Risiko ≥ 3<br />

Sicherheit ≥ 4<br />

Kein<br />

Hilfebedarf<br />

Teamentscheidung mit …<br />

Hilfebedarf<br />

Kindeswohlgefährdung<br />

Freiwilligkeit der Eltern<br />

zur Hilfeannahme?<br />

Eigene Hilfemöglichkeiten<br />

reichen aus und/oder<br />

Hilfebeziehung trägt noch<br />

Eigene Hilfemöglichkeiten<br />

reichen nicht aus und<br />

Hilfebeziehung trägt nicht<br />

Nein<br />

Ja<br />

Hilfe gewähren<br />

und/oder um Hinzuziehung<br />

des Jugendamts werben<br />

Hinzuziehen des JA<br />

vielleicht gg. den Willen,<br />

aber nicht ohne Wissen<br />

Keine Maßnahme,<br />

ggf. Information über und<br />

Werben zur<br />

Inanspruchnahme<br />

<strong>von</strong> Hilfsangeboten<br />

Hinzuziehen<br />

<strong>von</strong> …<br />

Eltern bereit und in der<br />

Lage Hilfe anzunehmen?<br />

Ja<br />

Nein<br />

JA: Gewährung<br />

der benötigten<br />

Hilfen<br />

JA: Anrufung des<br />

Familiengerichts<br />

§§ 1666,1666a BGB<br />

eigene<br />

Möglichkeit<br />

zur Anrufung<br />

des Familiengerichts


Gliederung<br />

• Sorge um das Kindeswohl ein Phänomen der Neuzeit<br />

– in armen Familien<br />

– in Institutionen der Arbeit<br />

– Schutzhäuser als Alternative<br />

– Kinderechtedebatte<br />

• Kindeswohl unbestimmte Generalklausel<br />

• Kindeswohl und Kindeswille<br />

– Verfahrensbeteiligung (voice effect)<br />

– Beteiligungsparadoxon<br />

– Plädierformel PAS<br />

• Kindeswohl als Entscheidungsmassstab (Optimalität)<br />

und Kindeswohlgefährdung als Eingriffsschwelle<br />

– Bindungsprinzip, Förderungsprinzip, Kontinuitätsprinzip<br />

– Basisbedürfnisse ; am wenigsten schädliche Alternative<br />

– Risikoeinschätzung<br />

• Institutionen als Ort der Kindeswohlgefährdung,<br />

Kinderschutz in Institutionen<br />

• Fazit


„Schutzmassnahmen“ als<br />

Kindeswohlgefärdung


Missbrauchsskandal 2010


Runder Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch in<br />

Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten<br />

und öffentlichen Einrichtungen und im familiären<br />

Bereich“


Ein Werkbuch<br />

zur Berücksichtigung <strong>von</strong> Grundregeln der Zusammenarbeit<br />

<strong>Fegert</strong>, J. M.; Wolff, M. (Hrsg.):<br />

Sexueller Missbrauch durch<br />

<strong>Prof</strong>essionelle in Institutionen.<br />

Prävention und Intervention.<br />

Weinheim, Beltz. (2002)<br />

Neuauflage Juventa, Reihe<br />

Votum 2006<br />

aktualisiert zum § 8a KJHG<br />

und zu § 72 a KJHG


Strategien für "Sichere Orte“ und Wahrung des<br />

Kindeswohls in Institutionen<br />

• Partizipation und Mitbestimmung<br />

• Aufklärung der Kinder über ihre Rechte<br />

• Regeln mit Kindern und Jugendlichen entwickeln<br />

• Ansprechpartner/innen für Kinder und Jugendliche<br />

benennen<br />

• Telefone für Kinder (Freischaltung zum Jugendamt und<br />

zum Patientenfürsprecher oder andere<br />

niederschwellige Beschwerdesysteme)


Niederschwellige Beschwerdesysteme<br />

Freisprechanlage zum Patientenfürsprecher und zu den umliegenden Jugendämtern<br />

in der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Ulm


Mehr-Ebenen-Strategie der Prävention<br />

Implementierung <strong>von</strong> Mindeststandards<br />

1. Vorlage eines verbindlichen Schutzkonzeptes<br />

2. Durchführung einer einrichtungsinternen Analyse zu<br />

arbeitsfeldspezifischen Gefährdungspotentialen und<br />

Gelegenheitsstrukturen<br />

3. Bereitstellung eines internen und externen<br />

Beschwerdeverfahrens<br />

4. Notfallplan für Verdachtsfälle<br />

5. Hinzuziehung eines/einer externen Beraters/Beraterin<br />

Verdachtsfällen (z.B. Fachkraft für Kinderschutz)<br />

6. Entwicklung eines Dokumentationswesens für Verdachtsfälle<br />

7. Themenspezifische Fortbildungsmaßnahmen für<br />

MitarbeiterInnen durch externe Fachkräfte<br />

8. Prüfung polizeilicher Führungszeugnisse<br />

9. Aufarbeitung und konstruktive Fehlerbearbeitung<br />

im Sinne der Prävention und Rehabilitierungsmaßnahmen<br />

(Unterarbeitsgruppe I des Runden Tisches Kindesmissbrauch)


Gliederung<br />

• Sorge um das Kindeswohl ein Phänomen der Neuzeit<br />

– in armen Familien<br />

– in Institutionen der Arbeit<br />

– Schutzhäuser als Alternative<br />

– Kinderechtedebatte<br />

• Kindeswohl unbestimmte Generalklausel<br />

• Kindeswohl und Kindeswille<br />

– Verfahrensbeteiligung (voice effect)<br />

– Beteiligungsparadoxon<br />

– Plädierformel PAS<br />

• Kindeswohl als Entscheidungsmassstab (Optimalität)<br />

und Kindeswohlgefährdung als Eingriffsschwelle<br />

– Bindungsprinzip, Förderungsprinzip, Kontinuitätsprinzip<br />

– Basisbedürfnisse ; am wenigsten schädliche Alternative<br />

– Risikoeinschätzung<br />

• Institutionen als Ort der Kindeswohlgefährdung,<br />

Kinderschutz in Institutionen<br />

• Fazit


Fazit<br />

Plädierformel: niemand wird nicht behaupten wollen für das<br />

Kindeswohl zu streiten.<br />

Achtung: Massnahmen gegen den Willen der Sorgeberechtigten<br />

und gegen den Willen der Kinder<br />

Kindeswohlgefährdung und Belastungen für Kinder kommen<br />

auch in Schutz- und Betreuungsmassnahmen vor<br />

Blinder Fleck der dem Kindeswohl verpflichteten Helfer in Bezug<br />

auf „Nebenwirkungen“<br />

Keine statischen Kriterien sondern entwicklungsabhängig<br />

Kontinuität wichtiges Prinzip aber Vorsicht so werden Fakten<br />

geschaffen<br />

Bindung (schillernde Begrifflichkeit) wird im juristischen und<br />

entwicklungspsychologischen Kontext unterschiedlich<br />

verstanden


„Es gibt keine großen Entdeckungen<br />

und Fortschritte, solange es noch<br />

ein unglückliches Kind auf Erden gibt.“<br />

Albert Einstein<br />

* 1889 Ulm<br />

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!


Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie /<br />

Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm<br />

Steinhövelstraße 5<br />

89075 Ulm<br />

www.uniklinik-ulm.de/kjpp<br />

Ärztlicher Direktor: <strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Jörg</strong> M. <strong>Fegert</strong>

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