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Factsheet Detention and mental health

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Informationsblatt zur Rechtsprechung des Europäischen<br />

Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR)<br />

September 2010<br />

Dieses Informationsblatt ist für den Gerichtshof nicht bindend und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.<br />

Psychisch Kranke in Haft<br />

Haftbedingungen<br />

Die Haft einer psychisch kranken Person kann in den Anwendungsbereich von<br />

Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) (Verbot<br />

unmenschlicher oder erniedrigender Beh<strong>and</strong>lung) fallen.<br />

Nach Artikel 3 haben Staaten sicherzustellen, dass jeder Gefangene unter<br />

Bedingungen inhaftiert ist, die mit der Achtung der Menschenwürde in Einklang<br />

stehen.<br />

• B. gegen Deutschl<strong>and</strong>, 10.03.1988: Der Beschwerdeführer rügte die Bedingungen<br />

seiner Untersuchungshaft. Er führte an, dass er keine medizinische Versorgung<br />

erhalten habe, die seinem psychischen Zust<strong>and</strong> angemessen sei; er sei<br />

beeinträchtigt durch seine Inhaftierung im Konzentrationslager während der NS-<br />

Zeit. Keine Verletzung von Artikel 3, da der Beschwerdeführer wegen seiner<br />

psychischen Probleme im Gefängnis beh<strong>and</strong>elt wurde und die ärztlichen Gutachen<br />

seine Angaben zur Unvereinbarkeit der Haft mit seinem Gesundheitszust<strong>and</strong> nicht<br />

ausreichend stützten.<br />

• Aerts gegen Belgien, 30.07.1998: Unterbringung des Beschwerdeführers in der<br />

psychiatrischen Abteilung des Gefängnisses und nicht in einem Zentrum für<br />

psychisch Kranke wie von der zuständigen Gesundheitsbehörde empfohlen. Keine<br />

Verletzung von Artikel 3: Die Lebensbedingungen in der psychiatrischen Abteilung<br />

scheinen keine so schwerwiegenden Auswirkungen auf seine psychische<br />

Gesundheit gehabt zu haben, dass die Unterbringung des Beschwerdeführers in<br />

den Anwendungsbereich von Artikel 3 fallen würde.<br />

• Peers gegen Griechenl<strong>and</strong>, 04.06.1999: Inhaftierung des Beschwerdeführers in<br />

der psychiatrischen Abteilung einer Haftanstalt und anschließend in Isolationshaft.<br />

Verstoß gegen Artikel 3 aufgrund der Haftbedingungen, die den Beschwerdeführer<br />

in seiner Menschenwürde verletzten und in ihm Gefühle der Verzweiflung und der<br />

Minderwertigkeit in einem Maße hervorriefen, das geeignet war, ihn zu demütigen<br />

und zu erniedrigen, bis hin dazu, seinen physischen und moralischen Widerst<strong>and</strong><br />

zu brechen.<br />

• Romanov gg. Russl<strong>and</strong>, 20.10.2005: Unterbringung des Beschwerdeführers in der<br />

psychiatrischen Abteilung einer Haftanstalt, um ihn Tests zu unterziehen.<br />

Verletzung von Artikel 3: die Haftbedingungen des Beschwerdeführers stellten<br />

eine erniedrigende Beh<strong>and</strong>lung dar, insbesondere die starke Überbelegung und<br />

die dadurch bedingte Beeinträchtigung seines Wohlbefindens angesichts der<br />

langen Dauer seiner Unterbringung unter diesen Bedingungen.<br />

• Filip gegen Rumänien, 14.12.2006: Verletzung von Artikel 3, da die Vorwürfe des<br />

Beschwerdeführers, er sei in einem psychiatrischen Krankenhaus missh<strong>and</strong>elt<br />

worden, nicht gründlich und wirksam untersucht worden waren.


Informationsblatt – Haft und geistige Gesundheit<br />

• Rupa gegen Rumänien, 16.12.2008: Der Beschwerdeführer, der an psychischen<br />

Störungen litt und von den Behörden mit einer entsprechenden Behinderung<br />

zweiten Grades anerkannt war, beschwerte sich über unmenschliche und<br />

erniedrigende Bedingungen in den Zellen des Polizeireviers. Verletzung von<br />

Artikel 3, insbesondere aufgrund fehlender medizinischer Betreuung, die dem<br />

labilen Geisteszust<strong>and</strong> des Beschwerdeführers angemessen gewesen wäre (es<br />

oblag den Behörden, ihn schnellstmöglich von einem Psychiater untersuchen zu<br />

lassen, um festzustellen, ob seine psychische Verfassung mit der Haft vereinbar<br />

war und welche therapeutischen Maßnahmen ergriffen werden sollten).<br />

Im Falle von Soering gegen Vereinigtes Königreich (07.07.1989), berücksichtigte der<br />

Gerichtshof die psychische Gesundheit des Beschwerdeführers (Abs. 109: „Es ist nicht<br />

Aufgabe des Gerichtshofs, Fragen strafrechtlicher Schuld und angemessener Strafe zu<br />

vorab zu beurteilen. Dennoch müssen das jugendliche Alter des Beschwerdeführers zum<br />

Tatzeitpunkt und sein damaliger Geisteszust<strong>and</strong> nach der derzeitigen psychiatrischen<br />

Beweislage in Erwägung gezogen werden, so dass in seinem Fall die Bedigungen im<br />

Todestrakt in den Anwendungsbereich von Artikel 3 fallen.“<br />

Selbstmord in Haft<br />

• Keenan gegen Vereinigtes Königreich, 03.04.2001: Der Beschwerdeführer, der an<br />

Paranoia litt, beging im Gefängnis Selbstmord, nachdem er aus disziplinarischen<br />

Gründen in Isolationshaft genommen worden war.<br />

Keine Verletzung von Artikel 2 (Recht auf Leben), da dem Gerichtshof keine<br />

offizielle Diagnose der Schizophrenie vorgelegt wurde und die Behörden<br />

angemessen auf sein Verhalten reagiert hatten, indem sie ihn in das<br />

Gefängniskrankenhaus verlegten und unter ständige Aufsicht stellten, als sich<br />

seine Selbstmordgefährdung zeigte.<br />

Verletzung von Artikel 3 aufgrund fehlender medizinischer Betreuung und der<br />

unterlassenen Konsultation eines Psychiaters bei der Diagnose seines<br />

Gesundheitszust<strong>and</strong>s sowie aufgrund „erheblicher Mängel“ in der gewährten<br />

medizinischen Versorgung. Darüber hinaus war die Verhängung einer schweren<br />

Disziplinarstrafe der Beh<strong>and</strong>lung einer psychisch kranken Person nicht<br />

angemessen.<br />

• Rivière gegen Frankreich, 11.07.2006: Der Beschwerdeführer litt an einer<br />

psychischen Störung und war selbstmordgefährdet. Er rügte, dass er fortwährend<br />

in Haft blieb trotz der Tatsache, dass seine psychiatrischen Probleme eine<br />

Beh<strong>and</strong>lung außerhalb des Gefängnisses erforderten. Verletzung von Artikel 3:<br />

Die Fortdauer der Haft ohne angemessene medizinische Überwachung stellte eine<br />

unmenschliche und erniedrigende Beh<strong>and</strong>lung dar (Gefangene mit schweren<br />

psychischen Störungen und Selbstmordgefährdung brauchen besondere, ihrem<br />

Zust<strong>and</strong> angemessene Maßnahmen, unabhängig von der Schwere der Straftat<br />

aufgrund derer sie verurteilt wurden).<br />

• Renolde gegen Frankreich, 16.10.2008: Selbstmord eines Mannes mit akuten<br />

psychotischen Störungen in Untersuchungshaft. Verletzung von Artikel 2 und 3:<br />

Der Gerichtshof bekräftigte, dass die Verletzlichkeit von psychisch kranken<br />

Menschen eines besonderen Schutzes bedarf und hob besonders hervor, dass<br />

trotz eines ersten Selbstmordversuchs des Beschwerdeführers und der Diagnose<br />

einer psychischen Krankheit offensichtlich nicht in Erwägung gezogen worden<br />

war, ihn in eine psychiatrische Anstalt zu verlegen. Seine psychische Verfassung<br />

wurde offensichtlich nicht berücksichtigt – trotz seiner zusammenhanglosen<br />

Aussagen während der Untersuchung des Vorfalls, die als „erheblich<br />

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Informationsblatt – Haft und geistige Gesundheit<br />

verhaltensgestört“ beschrieben wurden; so wurde drei Tage nach seinem<br />

Selbstmordversuch die höchste Disziplinarstrafe, 45 Tage Haft in einer Strafzelle,<br />

gegen ihn verhängt.<br />

• De Donder und De Clippel gegen Belgien (8595/06), 06.12.2011: Selbstmord<br />

eines geistesgestörten jungen Mannes, der im normalen Strafvollzug<br />

untergebracht war. Verletzung von Artikel 2 aufgrund des Todes des jungen<br />

Mannes im Gefängnis, aber keine Verletzung von Artikel 2 hinsichtlich der<br />

Wirksamkeit der Untersuchung. Der Gerichtshof bekräftigte seine bisherige<br />

Rechtsprechung, wonach die Ingewahrsamnahme eines psychisch kranken<br />

Menschen nur „rechtmäßig“ im Sinne von Artikel 5 ist, wenn sie in einem<br />

Krankenhaus, einer Klinik oder einer <strong>and</strong>eren geeigneten Einrichtung erfolgt, und<br />

stellte eine Verletzung von Artikel 5 Abs. 1 fest.<br />

Pressekontakt: echrpress@echr.coe.int Tel: +33 3 90 21 42 08<br />

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