Kult: Schlaflos im Sattel - Mountainbikepark Pfälzerwald

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28.12.2013 Aufrufe

➼ reportage mountainbike-magazin.de 71 Kult: Schlaflos im Sattel CRAZY Ni ght Anders, abgefahren und anstrengend – beim Kult-Event im Pfälzerwald brodelt die Nacht. Es ist ein Rennen, das keines sein will ... Text | André Schmidt Fotos | Holde Schneider Ich schwöre, dass ich mich auf dem Trail nicht wie ein Arschloch benehmen werde!“ Leicht von Sinnen brülle ich nach, was mir ein glatzköpfiger Koloss im Schottenrock via Megaphon entgegenschmettert. Mit mir johlt ein Chor aus 500 Radfahrern: spindeldürre Racer im Kompressionszwirn, Singlespeeder mit ohne Gang, unrasierte Mannsbilder in Frauenkleidern, Diät-abstinente Hünen vom Fatboy-Racing-Team auf nicht minder fetten Gefährten sowie flächig tätowierte Prä- Punker mit Puky-Kinderrädern. Ich stehe am Start. Es ist SiS. Kurzform für „Schlaflos im Sattel“, die wohl kultigste und andersartigste Fahrradveranstaltung Deutschlands. Ein Nachtrennen voller Verrücktheiten und Verrückter. Dabei erklang der eigentliche Startschuss schon zweieinhalb Tage vor Rennstart. Seit Donnerstagmorgen knutscht die SiS-Gefolgschaft ein kleines Örtchen im Pfälzerwald wach. „Woodstock, Wacker, Weidenthal“ prangt als Aufkleber auf den rüs tigen Ford Transits, die wie ihre Besitzer die besten vier Tage ihres Lebens auf dem Sportplatz des örtlichen Turnvereins zelebrieren. Die Atmosphäre wabert zwischen Punkrock, Weltjugendtag und Zweirad-Show – und bleibt dabei für Außenstehende seltsam kuschelig. Ob von SiS, von Underground-Fahrradveranstaltungen wie dem „German-Bike-and-Beer-Cup“ oder aus der Keimzelle der Szene, dem Eingangradforum im Internet: Man kennt sich, man toleriert sich. Mittendrin thront Christian „Phaty“ Krämer, der Mann mit dem Megaphon. Einpeitscher, Gralshüter und Kummerkasten von SiS – mit zünftiger Wortwahl, ohne Grautöne. Eine One-Man- Show? Im Gegenteil, SiS ist quasi das Web- 2.0-Event der Singlespeed-Gemeinde und Alle-machen-mit-Veranstaltung. Einer ist ❯

➼ reportage mountainbike-magazin.de 71<br />

<strong>Kult</strong>: <strong>Schlaflos</strong> <strong>im</strong> <strong>Sattel</strong><br />

CRAZY Ni ght<br />

Anders, abgefahren und anstrengend<br />

– be<strong>im</strong> <strong>Kult</strong>-Event <strong>im</strong> <strong>Pfälzerwald</strong><br />

brodelt die Nacht. Es ist<br />

ein Rennen, das keines sein will ...<br />

Text | André Schmidt Fotos | Holde Schneider<br />

Ich schwöre, dass ich mich auf dem<br />

Trail nicht wie ein Arschloch benehmen<br />

werde!“ Leicht von Sinnen<br />

brülle ich nach, was mir ein glatzköpfiger<br />

Koloss <strong>im</strong> Schottenrock via<br />

Megaphon entgegenschmettert. Mit<br />

mir johlt ein Chor aus 500 Radfahrern:<br />

spindeldürre Racer <strong>im</strong> Kompressionszwirn,<br />

Singlespeeder mit ohne<br />

Gang, unrasierte Mannsbilder in Frauenkleidern,<br />

Diät-abstinente Hünen vom Fatboy-Racing-Team<br />

auf nicht minder fetten<br />

Gefährten sowie flächig tätowierte Prä-<br />

Punker mit Puky-Kinderrädern. Ich stehe<br />

am Start. Es ist SiS. Kurzform für „<strong>Schlaflos</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Sattel</strong>“, die wohl kultigste und<br />

andersartigste Fahrradveranstaltung<br />

Deutschlands. Ein Nachtrennen voller Verrücktheiten<br />

und Verrückter.<br />

Dabei erklang der eigentliche Startschuss<br />

schon zweieinhalb Tage vor<br />

Rennstart. Seit Donnerstagmorgen<br />

knutscht die SiS-Gefolgschaft ein kleines<br />

Örtchen <strong>im</strong> <strong>Pfälzerwald</strong> wach. „Woodstock,<br />

Wacker, Weidenthal“ prangt als Aufkleber<br />

auf den rüs tigen Ford Transits, die wie ihre<br />

Besitzer die besten vier Tage ihres Lebens<br />

auf dem Sportplatz des örtlichen Turnvereins<br />

zelebrieren. Die Atmosphäre wabert<br />

zwischen Punkrock, Weltjugendtag und<br />

Zweirad-Show – und bleibt dabei für Außenstehende<br />

seltsam kuschelig. Ob von SiS,<br />

von Underground-Fahrradveranstaltungen<br />

wie dem „German-Bike-and-Beer-Cup“<br />

oder aus der Ke<strong>im</strong>zelle der Szene, dem Eingangradforum<br />

<strong>im</strong> Internet: Man kennt sich,<br />

man toleriert sich. Mittendrin thront Christian<br />

„Phaty“ Krämer, der Mann mit dem<br />

Megaphon. Einpeitscher, Gralshüter und<br />

Kummerkasten von SiS – mit zünftiger<br />

Wortwahl, ohne Grautöne. Eine One-Man-<br />

Show? Im Gegenteil, SiS ist quasi das Web-<br />

2.0-Event der Singlespeed-Gemeinde und<br />

Alle-machen-mit-Veranstaltung. Einer ist ❯


Pause mit Weitblick: mehrtägige Seenumrundung am Lago Huapi.<br />

„Penis of steel“: Schlammbein<br />

(links) heizt ein. Für viele Teilnehmer<br />

ist SiS in erster Linie ein Rockkonzert<br />

mit anschließender Bike-<br />

Ausfahrt ... Oben: Breite Schultern<br />

auf breiten Stollen. Jürgen, genannt<br />

„Mahatma“, fungiert als<br />

Platzeinweiser der Zeltstadt – mit<br />

rheinischem Zungenschlag und<br />

kräftigen Argumenten. Rechts: Alles<br />

so schön bunt hier. Die Grenzen<br />

zwischen Happening und Radsportveranstaltung<br />

sind fließend ...<br />

❯<br />

Storyboard-Zeichner be<strong>im</strong> Film und malt<br />

das Plakat, der nächs te sorgt für die Beschallung.<br />

Andere organisieren das berüchtigte<br />

Kinderrennen oder den SiS-Flohmarkt zu<br />

Gunsten eines SOS-Kinderdorfs in Haiti.<br />

Und das alles mit kindlicher Freude.<br />

Meine Beine köcheln. Fünf Stunden<br />

nach dem Start um 20:52 Uhr zwirble<br />

ich mich einmal mehr die „Weidenthaler<br />

Wand“ hoch, eine nicht zu Scherzen<br />

aufgelegte Schotterrampe. Und bin einsam.<br />

Nur vereinzelt tanzen Rücklichter wie<br />

Glühwürmchen durch den finsteren Wald.<br />

Anders als bei perfektionistischen 24-h-Rennen<br />

in illuminierten Parkanlagen ist <strong>im</strong> <strong>Pfälzerwald</strong><br />

der Trail verwurzelt und die Nacht<br />

wahrhaftig. Dunkel, kalt und hart.<br />

Umso dampfender: die Rennvorbereitung<br />

nachts zuvor. Schlammbein, Melange<br />

aus SiS-Hofkapelle und Hardrock-Kombo,<br />

lässt die Vereinsbaracke beben. „Weidenthal“,<br />

„Penis of Steel“, „Mann ohne<br />

Gang“ – zu jeder SiS-Auflage wächst das<br />

Repertoire um eine vom Publikum ekstatisch<br />

begleitete Hymne. SiS brodelt. Abgeschmeckt<br />

mit Bier, Fleischwurst und Saumagen-Burger.<br />

Kaum vorstellbar, dass einige<br />

der Feierbiester die kommende Nacht<br />

schlaflos <strong>im</strong> <strong>Sattel</strong> verbringen werden. ❯<br />

„Keiner hat vor, hier ein Rennen zu veranstalten.“ Oder doch?<br />

Das Kinderrennen gehört zu den Höhepunkten am Tag. In der<br />

Nacht geht‘s beschaulicher zu, ohne Stress auf der Strecke.<br />

72 mountainbike-magazin.de<br />

mountainbike-magazin.de 73


Glücklich-geschaffte<br />

Gesichter am Morgen<br />

danach (links). Ob vom<br />

Rocken oder Radeln –<br />

müde sind sie alle.<br />

Rechts: „Phaty“, gewichtige<br />

St<strong>im</strong>me von<br />

SiS und von den 80 Prozent<br />

Stammgästen gerne<br />

liebevoll „mein Großer“<br />

genannt. Unten<br />

links: Geschmiertes<br />

vom Turnverein. Die einzige<br />

Verpflegungsstelle<br />

am Zielbogen lässt nur<br />

eine einzige Wahl: Hefezopf<br />

mit Nutella.<br />

Immer schwerer versinkt die Nacht <strong>im</strong><br />

Wald – und Weidenthal wacht. Anwohner<br />

schwenken Kuhglocken, die Feuerwehr<br />

flutet ein qualmendes Dixie-Klo, der Turnverein<br />

schmiert Nutella auf Hefezöpfe und<br />

die Streckenposten mit Gummibärchen-<br />

Notration werden zu Heiligen. Das Gros<br />

der Starter indes ist längst <strong>im</strong> Zelt verbuddelt<br />

oder bespöttelt an der Zeitnahme die<br />

noch strampelnden „Fitfucker“. SiS ist ein<br />

Rennen, das keines sein will: Viele fahren<br />

nur eine Runde, Verlierer werden gefeiert,<br />

Sieger ausgelacht. Versager ist nur, wer‘s<br />

nicht mit Humor n<strong>im</strong>mt. Denn diese eine<br />

magische Nacht durchdringt alle der anarchisch-fröhliche<br />

Geist der ersten Mountainbike-Tage.<br />

Fahren und fahren lassen.<br />

Die Startplätze sind begehrt wie Dauerkarten<br />

be<strong>im</strong> FC Barcelona. Jeden 1. Januar<br />

um 0:00 Uhr öffnet die Anmeldung, um<br />

2:43 Uhr schließt die Pforte. Stammgäste<br />

haben Erbrecht, Neulinge sind dennoch<br />

willkommen – und Arschlöcher verpönt.<br />

Denn, so endet der SiS-Start-Schwur, bei<br />

Nichtbeachtung der Regeln soll einen „der<br />

Blitz be<strong>im</strong> Kacken treffen“. MB<br />

Oben rechts: „Fitfucker“-Alarm. MB-Testchef André Schmidt<br />

und Ehefrau Kathrin gewinnen die Mixed-Wertung.<br />

mountainbike-magazin.de 75

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