Fünftes und sechstes Forum Menschenwürdige Wirtschaftsordnung ...
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Institut für Wirtschaftsforschung Halle Der Anthropologe und Philosoph Max Scheler unterschied zwischen der „Freiheit für“ und der „Freiheit von“, was auch der bekennende Scheler-Fan Erhard in seine Argumentation aufgenommen hat. Die Russen mögen aus verständlichen Gründen die „Freiheit von“. Doch diese „Freiheit“ verwandelt sich oft und schnell in die berüchtigte russische volja. Das bedeutet, wenn ich frei bin, mache ich, was ich will, und muss auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Eine so interpretierte Freiheit bedeutet selbstverständlich die Nichtbeachtung jeglicher Beschränkungen des individuellen Handlungsspielraums, einschließlich der ethischen. Seltener kommt dagegen die „Freiheit für“ vor, wie Scheler sie beschrieb und Erhard sie propagierte: die „Freiheit für“, anders formuliert die Nutzung der Wahlfreiheit für vernünftige Zwecke, d. h. für das Wohl der eigenen Familie, das Wohl der sozialen Gruppe, in der man lebt, und der ganzen Gesellschaft. Darin besteht ein großes Problem der Nichtübereinstimmung des informellen Bodens der marktwirtschaftlichen Transformationspolitik in Russland und anderen osteuropäischen Ländern mit ihrem im Prinzip auf der Idee der wirtschaftlichen Freiheit fußenden wirtschaftspolitischen Instrumentarium. 6 Schlussfolgerungen Am Ende des Beitrags kehre ich zur Einleitung zurück. In Russland ist es bisher offensichtlich nicht gelungen, eine klare Abgrenzung zwischen Privateigentum, Wirtschaft und Staat zu erreichen. Es gibt noch immer eine Vermengung der Staatsmacht mit dem privaten Eigentum.17 Das bedeutet konkret, dass man das private Eigentum an Produktionsmitteln auf längere Sicht nur unter der Bedingung erhalten und fortentwickeln kann, dass man sich mit der Staatsmacht gut stellt. Michail Chodorkowski ist ein weltbekanntes Paradebeispiel dafür. Der reichste Mann Russlands verschwand seinerzeit innerhalb weniger Tage von der öffentlichen Bildfläche im sibirischen Gefängnis. Das kann jedem anderen auch passieren. Deshalb halten sich die russischen Oligarchen lieber in London oder anderen westeuropäischen Städten als in Moskau auf, weil sie sich dort der Macht des russischen Staates einigermaßen entziehen können. Vor einigen Jahren las ich ein „Spiegel“-Interview mit Chodorkowski. Damals war er ein mächtiger und steinreicher Oligarch. Er sagte, er schließe es nicht aus, sich bei der nächsten Präsidentenwahl um das Amt des Staatspräsidenten zu bewerben. Das war für ihn allerdings ein selbst gewolltes ziviles Todesurteil. Denn ohne das Einverständnis des Präsidenten, das war damals Wladimir Putin, war es nicht erlaubt und auch nicht möglich, dieses Amt anzustreben. Der Herrscher bestimmt seinen Nachfolger und nicht Leute, die selbst Herrscher werden wollen. Wegen seines großen Reichtums hatte Chodorkowski wahrscheinlich den Bezug zur machtpolitischen Realität verloren, wollte in die Welt der Alchimisten der Macht eindringen. Im Jahr 2003 wurde er von der Staatsmacht schnell auf den Boden der Realität zurückgeholt. 17 Vgl. Gutnik (2006), S. 175 f. 92
Akademie für Politische Bildung Tutzing Wirtschaft ist in Russland also bis in die Gegenwart kein selbstständiges Subsystem, denn sie ist sehr eng mit der Politik verbunden. Die Politik hat auf sie immensen Einfluss. Einige russische Autoren heben hervor, dass nicht nur die Politik, sondern auch das Verbrechertum die russische Wirtschaft maßgebend beeinflusst. Viele Betriebe werden doppelt besteuert. Sie müssen zugleich Steuern an den Staat und Schutzgelder an Verbrecherbanden zahlen. Die Wirtschaft wird von diesen beiden Machtorganen doppelt kontrolliert, und freie Preise haben es in ihr sehr schwer, die Funktion eines flexiblen Güterknappheitsindikators zu übernehmen, weil die Angebotsseite der Volkswirtschaft vorwiegend oligopolistisch oder sogar monopolistisch strukturiert ist. Daraus ergeben sich alle in der Literatur thematisierten störenden Einflüsse auf die Preisbestimmung, die von der geballten Wirtschaftsmacht auf der volkswirtschaftlichen Angebotsseite ausgehen. Nach den deutschen ordoliberalen Denkern Eucken und Erhard ist dies keine wirkliche Marktwirtschaft. Nicht der Konkurrenzmarkt bestimmt durch das Spiel des Angebots und der Nachfrage den Preis zum Wohle des Konsumenten, sondern die Macht der Großunternehmen. In Russland stößt seit mehreren Jahren das chinesische Wirtschaftsmodell auf großes Interesse, weil es für die Regierenden interessant ist zu verfolgen, wie gleichzeitig die autoritären Machtverhältnisse in der Politik erhalten bleiben und trotzdem die Marktwirtschaft erfolgreich funktioniert. Russische Politiker und Ökonomen interessierten sich auch für lateinamerikanische Modelle, vor allem das des Generals Pinochet in Chile.18 Dieses Modell verband eine starke politisch-militärische Macht mit funktionierender Marktwirtschaft. Alle diese wirtschaftspolitischen Konzeptionen widersprechen allerdings deutlich den in Westeuropa und Deutschland vorherrschenden Ordnungsvorstellungen in Bezug auf eine funktionstüchtige marktwirtschaftliche Ordnung in demokratischen Gesellschaften. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die russische Volkswirtschaft nie eine wirkliche Marktwirtschaft in westeuropäischem Sinne werden, zumindest nicht vor Ablauf des Zeitraums, der von Helmut Schmidt beziffert worden ist – also in 50 bis 70 Jahren. Dafür spricht auch der Tatbestand, dass sich die Europäische Union auf mittlere und längere Frist nicht gewillt zeigt, Russland als Mitgliedsland aufzunehmen. Was dann später in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts kommt, weiß noch niemand. Aber John Maynard Keynes hat dazu seinerzeit gesagt: „In the long run we are dead.“ Das werden wir wohl alle gezwungenermaßen akzeptieren müssen. 18 Vgl. ebenda, S. 171. 93
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Wirtschaft ist in Russland also bis in die Gegenwart kein selbstständiges Subsystem,<br />
denn sie ist sehr eng mit der Politik verb<strong>und</strong>en. Die Politik hat auf sie immensen Einfluss.<br />
Einige russische Autoren heben hervor, dass nicht nur die Politik, sondern auch<br />
das Verbrechertum die russische Wirtschaft maßgebend beeinflusst. Viele Betriebe werden<br />
doppelt besteuert. Sie müssen zugleich Steuern an den Staat <strong>und</strong> Schutzgelder an<br />
Verbrecherbanden zahlen. Die Wirtschaft wird von diesen beiden Machtorganen doppelt<br />
kontrolliert, <strong>und</strong> freie Preise haben es in ihr sehr schwer, die Funktion eines flexiblen<br />
Güterknappheitsindikators zu übernehmen, weil die Angebotsseite der Volkswirtschaft<br />
vorwiegend oligopolistisch oder sogar monopolistisch strukturiert ist. Daraus ergeben<br />
sich alle in der Literatur thematisierten störenden Einflüsse auf die Preisbestimmung,<br />
die von der geballten Wirtschaftsmacht auf der volkswirtschaftlichen Angebotsseite ausgehen.<br />
Nach den deutschen ordoliberalen Denkern Eucken <strong>und</strong> Erhard ist dies keine wirkliche<br />
Marktwirtschaft. Nicht der Konkurrenzmarkt bestimmt durch das Spiel des Angebots<br />
<strong>und</strong> der Nachfrage den Preis zum Wohle des Konsumenten, sondern die Macht<br />
der Großunternehmen.<br />
In Russland stößt seit mehreren Jahren das chinesische Wirtschaftsmodell auf großes<br />
Interesse, weil es für die Regierenden interessant ist zu verfolgen, wie gleichzeitig die<br />
autoritären Machtverhältnisse in der Politik erhalten bleiben <strong>und</strong> trotzdem die Marktwirtschaft<br />
erfolgreich funktioniert. Russische Politiker <strong>und</strong> Ökonomen interessierten<br />
sich auch für lateinamerikanische Modelle, vor allem das des Generals Pinochet in<br />
Chile.18 Dieses Modell verband eine starke politisch-militärische Macht mit funktionierender<br />
Marktwirtschaft. Alle diese wirtschaftspolitischen Konzeptionen widersprechen<br />
allerdings deutlich den in Westeuropa <strong>und</strong> Deutschland vorherrschenden Ordnungsvorstellungen<br />
in Bezug auf eine funktionstüchtige marktwirtschaftliche Ordnung in demokratischen<br />
Gesellschaften.<br />
Aller Wahrscheinlichkeit nach wird die russische Volkswirtschaft nie eine wirkliche<br />
Marktwirtschaft in westeuropäischem Sinne werden, zumindest nicht vor Ablauf des<br />
Zeitraums, der von Helmut Schmidt beziffert worden ist – also in 50 bis 70 Jahren. Dafür<br />
spricht auch der Tatbestand, dass sich die Europäische Union auf mittlere <strong>und</strong> längere<br />
Frist nicht gewillt zeigt, Russland als Mitgliedsland aufzunehmen. Was dann später in der<br />
zweiten Hälfte des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts kommt, weiß noch niemand. Aber John Maynard<br />
Keynes hat dazu seinerzeit gesagt: „In the long run we are dead.“ Das werden wir wohl<br />
alle gezwungenermaßen akzeptieren müssen.<br />
18 Vgl. ebenda, S. 171.<br />
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