Fünftes und sechstes Forum Menschenwürdige Wirtschaftsordnung ...
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Institut für Wirtschaftsforschung Halle „Stiefkind“ der fachinternen Diskussion.18 Speziell das Thema Würde wurde im Grunde genommen nur in den 1970er Jahren für eine gewisse Zeit einmal ernsthaft aufgegriffen, als es eine breite Bewegung zur Humanisierung und Demokratisierung der Arbeitswelt gab. Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt hatte im Jahre 1969 ihren Wahlkampf unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen“ gewonnen und eine umfassende Aufbruchstimmung in Richtung Demokratisierung der Gesellschaft in Gang gebracht. Demokratisierung, Partizipation, Mitbestimmung – das wurden die zentralen Schlagworte der 1970er Jahre bis hinein in die Reform der deutschen Ordinarien-Universität („Weg mit den Talaren!“). Einen kraftvollen Einfluss übte dabei die Soziologie als neue Leitdisziplin des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses aus und sorgte dafür, dass ein gemeinsames Kennzeichen aller Bemühungen im Versuch lag, die Prozesse der Demokratisierung zu institutionalisieren. In diese Zeit fielen Initiativen wie das Mitbestimmungsgesetz für deutsche Kapitalgesellschaften (1974), das Betriebsverfassungsgesetz (1972) zur Verankerung der Betriebsräte oder auch das fast schon vergessene Davoser Manifest von 1972.19 In der Betriebswirtschaftslehre hatte die Diskussion der Unternehmensverfassung Konjunktur,20 und durch den Human-Ressourcen-Ansatz der Organisationstheorie wurde eine stärkere Orientierung hin zum würdevollen Umgang mit dem Menschen als Basis allen unternehmerischen Handelns salonfähig.21 In diesem Zusammenhang fand insbesondere auch das Motto einer „menschengerechten Gestaltung der Arbeit“ starke Beachtung. Die Anspruchsgrundlagen für eine menschengerechte Gestaltung der Arbeitswelt wurden dabei in sehr unterschiedlichen Kontexten gesehen, wobei das Wort Ethik interessanterweise explizit nicht vorkam. Von Gerum wurden als Begründungsansätze genannt und kritisch diskutiert:22 – Der grundgesetzliche Auftrag zur Achtung der Menschenwürde (vgl. oben); – Die Psychophysik bzw. Ergonomie (REFA-Ansatz), die auf einer objektiven Erfassung der physischen und psychischen Arbeitsbedingungen beruht, um diese optimal in den Produktionsprozess zu integrieren: nur unter „guten“ Arbeitsbedingungen wird hohe Leistung erbracht; – Die Forderung nach Arbeitszufriedenheit, die auf einer fragebogengestützten Erhebung der subjektiven job satisfaction beruht (vgl. Neuberger):23 nur zufriedene Arbeitnehmer sind gute Arbeitnehmer; 18 Vgl. Steinmann, Löhr (2002). 19 Das Davoser Manifest auf dem 2. Davoser Weltwirtschaftsgipfel beinhaltete schon sämtliche aktuellen Forderungen nach „gesellschaftlich verantwortlicher Unternehmensführung“, vgl. dazu Steinmann (1973). 20 Vgl. insbesondere Steinmann (1969) mit einer methodischen Begründung der Forderung nach Mitbestimmung. 21 Vgl. etwa Likert (1967) oder Argyris (1966). 22 Vgl. Gerum (1981), S. 41 ff. 23 Vgl. Neuberger (1974) zur Bestandsaufnahme der Messungen der Arbeitszufriedenheit. 44
Akademie für Politische Bildung Tutzing – Die Bedürfnisorientierung (Bsp. Maslow),24 die in einem humanistischen Sinne auf die umfassende Selbstverwirklichung des Menschen auch in der Arbeitswelt abzielt; – Die Abwehr von Entfremdungstendenzen (nach Marx), denen der Mensch in der kapitalistischen Industrieproduktion gegenüber seiner natürlichen Lebensweise ausgesetzt ist. Elmar Gerum hat in kritischer Diskussion dieser Ansätze als Alternative ein ganzheitlich handlungswissenschaftliches Grundmodell menschengerechter Arbeit entwickelt, in dem die individuellen – anthropologischen – Bedürfnisse nach Lebensgütern, Sozialität und Selbstverwirklichung mit den soziostrukturellen Randbedingungen hierarchischen Arbeitens in Bezug gesetzt werden.25 Mit diesem Grundmodell kann man die vielfältig vorliegenden Ansätze zur empirischen Diagnose menschengerechter Arbeitsgestaltung, zum Beispiel die Forschungen zur Arbeitszufriedenheit, daraufhin befragen, inwieweit sie tatsächlich einem umfassenden Konzept menschengerechter Arbeit verpflichtet sind. Der bekannte „Job Diagnostic Survey“ (JDS) von Hackman und Oldham26 lässt hierbei zum Beispiel Konstruktionsdefizite erkennen, da seine fünf bedürfnisrelevanten Aspekte der Arbeitsverrichtungen – skill variety, task identity, task significance, autonomy, feedback – inhaltlich zu unbestimmt sind. In den 1980er und 1990er Jahren verschwanden diese stark national geprägten Diskussionen um eine menschenwürdige Gestaltung der Arbeit, vor allem auch unter dem Eindruck der global aufkommenden Konkurrenz. Ausgelöst durch den „Japan-Schock“ des Lean Management und die Innovationskraft des Toyotismus wurde zumindest in der Betriebswirtschaftslehre wieder die Überzeugung dominant, dass eine würdevolle Behandlung des Menschen im Arbeitsprozess ein Problem darstellt, das der internationalen Konkurrenzfähigkeit systematisch nachgelagert sei. Diese Prozesse gehen im Übrigen einher mit der kontinuierlichen Erosion des deutschen „Konsensmodells“ zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, mit dem seit den 1950er Jahren die Interessen beider Seiten stets möglichst einvernehmlich ausgeglichen wurden. 3 Zwei Perspektiven auf den Gestaltungsauftrag Um eine konzeptionelle Orientierung für die aktuelle Diskussion zu entwickeln, möchte ich im Folgenden auf zwei unterschiedliche begriffliche Ansätze zur Präzisierung der Menschenwürde eingehen. Zum einen erinnere ich an die Ursprünge der modernen Diskussion bei Giovanni Pico della Mirandola, für den die Ausgestaltung der Würde des Menschen eine im positiven Sinne offene Suche nach dem Maximum der Selbstverwirklichung darstellt. Zum anderen ist auf die jüngsten Überlegungen von Avishai Margalit hinzuweisen, der die Gestaltungsaufgabe der Politik in der Moderne eher im negativen 24 Vgl. die berühmte Bedürfnispyramide nach Maslow (1970). 25 Vgl. Gerum (1981), S. 89 ff. 26 Vgl. Hackman, Oldham (1975). 45
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– Die Bedürfnisorientierung (Bsp. Maslow),24 die in einem humanistischen Sinne auf<br />
die umfassende Selbstverwirklichung des Menschen auch in der Arbeitswelt abzielt;<br />
– Die Abwehr von Entfremdungstendenzen (nach Marx), denen der Mensch in der<br />
kapitalistischen Industrieproduktion gegenüber seiner natürlichen Lebensweise ausgesetzt<br />
ist.<br />
Elmar Gerum hat in kritischer Diskussion dieser Ansätze als Alternative ein ganzheitlich<br />
handlungswissenschaftliches Gr<strong>und</strong>modell menschengerechter Arbeit entwickelt, in<br />
dem die individuellen – anthropologischen – Bedürfnisse nach Lebensgütern, Sozialität<br />
<strong>und</strong> Selbstverwirklichung mit den soziostrukturellen Randbedingungen hierarchischen<br />
Arbeitens in Bezug gesetzt werden.25 Mit diesem Gr<strong>und</strong>modell kann man die vielfältig<br />
vorliegenden Ansätze zur empirischen Diagnose menschengerechter Arbeitsgestaltung,<br />
zum Beispiel die Forschungen zur Arbeitszufriedenheit, daraufhin befragen, inwieweit<br />
sie tatsächlich einem umfassenden Konzept menschengerechter Arbeit verpflichtet sind.<br />
Der bekannte „Job Diagnostic Survey“ (JDS) von Hackman <strong>und</strong> Oldham26 lässt hierbei<br />
zum Beispiel Konstruktionsdefizite erkennen, da seine fünf bedürfnisrelevanten Aspekte<br />
der Arbeitsverrichtungen – skill variety, task identity, task significance, autonomy, feedback<br />
– inhaltlich zu unbestimmt sind.<br />
In den 1980er <strong>und</strong> 1990er Jahren verschwanden diese stark national geprägten Diskussionen<br />
um eine menschenwürdige Gestaltung der Arbeit, vor allem auch unter dem<br />
Eindruck der global aufkommenden Konkurrenz. Ausgelöst durch den „Japan-Schock“<br />
des Lean Management <strong>und</strong> die Innovationskraft des Toyotismus wurde zumindest in der<br />
Betriebswirtschaftslehre wieder die Überzeugung dominant, dass eine würdevolle Behandlung<br />
des Menschen im Arbeitsprozess ein Problem darstellt, das der internationalen<br />
Konkurrenzfähigkeit systematisch nachgelagert sei. Diese Prozesse gehen im Übrigen<br />
einher mit der kontinuierlichen Erosion des deutschen „Konsensmodells“ zwischen<br />
Arbeitgebern <strong>und</strong> Arbeitnehmern, mit dem seit den 1950er Jahren die Interessen beider<br />
Seiten stets möglichst einvernehmlich ausgeglichen wurden.<br />
3 Zwei Perspektiven auf den Gestaltungsauftrag<br />
Um eine konzeptionelle Orientierung für die aktuelle Diskussion zu entwickeln, möchte<br />
ich im Folgenden auf zwei unterschiedliche begriffliche Ansätze zur Präzisierung der<br />
Menschenwürde eingehen. Zum einen erinnere ich an die Ursprünge der modernen<br />
Diskussion bei Giovanni Pico della Mirandola, für den die Ausgestaltung der Würde des<br />
Menschen eine im positiven Sinne offene Suche nach dem Maximum der Selbstverwirklichung<br />
darstellt. Zum anderen ist auf die jüngsten Überlegungen von Avishai Margalit<br />
hinzuweisen, der die Gestaltungsaufgabe der Politik in der Moderne eher im negativen<br />
24 Vgl. die berühmte Bedürfnispyramide nach Maslow (1970).<br />
25 Vgl. Gerum (1981), S. 89 ff.<br />
26 Vgl. Hackman, Oldham (1975).<br />
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