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Genderforschung. Ein krititsch-analytischer Literaturbericht

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Kornelia Hauser<br />

FRAUEN-MÄNNER-GENDERFORSCHUNG<br />

EIN KRITISCH-ANALYTISCHER LITERATURBERICHT<br />

Bosse, Hans u. Vera King (Hg.): Männlichkeitsentwürfe. Wandlungen und Widerstände<br />

im Geschlechterverhältnis. Frankfurt/M. 2000<br />

Brückner, Margrit u. Lothar Böhnisch (Hg.): Geschlechterverhältnisse. Gesellschaftliche<br />

Konstruktionen und Perspektiven ihrer Veränderung. Weinheim und München 2001<br />

Burmann: Die kalkulierte Emotion der Geschlechterinszenierung. Galanterierituale nach<br />

deutschen Etikette-Büchern in soziohistorischer Perspektive. Konstanz 2000<br />

Janshen, Doris (Hg.) Blickwechsel. Der neue Dialog zwischen Frauen- und<br />

Männerforschung. Frankfurt/m. 2000<br />

Der Begriff „Feminismus“ ist politisch wohl verbraucht: entweder sind alle Frauen<br />

„feministisch“, in jedem Fall wenn das „Erbe der Mütter“ bedacht werden soll oder es<br />

sind bloß die Übriggebliebenen „noch“ feministisch (vgl. Bruns 2000). Ist er<br />

wissenschaftlich auch erschöpft oder zuende gebracht? Der Begriff der<br />

„Frauenforschung“ wurde oftmals „heimlich“ feministisch besetzt und fungierte für viele<br />

Jahre als Schlüsselwort für auch feministisch gemeinte Professuren. Er klang bieder<br />

genug für die Berufungskommissionen und war symbolisch hochaufgeladen für die<br />

feministischen Aktivistinnen. Frauenforschung war in ihren Hochzeiten konnotiert mit<br />

Parteilichkeit, Zerstörung angeblich wissenschaftlicher Wahrheiten und der Anmaßung<br />

eines berechtigten eigenen wissenschaftlichen und methodischen Zugangs zu<br />

Wirklichkeiten und Realitäten. Der überwiegende Teil der sozial- und<br />

geisteswissenschaftlichen scientific community hat Kritiken und Ergebnisse dieser<br />

„Frauenforschung“ ignoriert.<br />

So kam zu dem Versanden der Frauenbewegung die Nicht-Anerkennung der<br />

Frauenforscherinnen in den akademischen Bezügen. In eigenen Sektionen, in eigenen<br />

Workshops, auf eigenen Tagungen wurde feministisches und frauenspezifisches Wissen<br />

geteilt. Ende der 80er Jahre wurde die unerfreuliche Situation auch in der Literatur<br />

sichtbar: „FrauenMännerBilder. Männer und Männlichkeit in der feministischen<br />

Diskussion“ – haben 1988 Carol Hagemann-White und Maria S. Rerrich ihren<br />

Sammelband damals betitelt. Das in den Beiträgen immer wieder aufgenommene


2<br />

Thema war die <strong>Ein</strong>sicht, dass die Abschaffung des Patriarchats und des Kapitalismus<br />

eingeschlechtlich unmöglich sei.<br />

Der Zusammenbruch der staatssozialistischen Länder, die aus Frankreich und den USA<br />

importierten diskurstheoretisch und poststrukturalistisch artikulierten „Gender“ Debatten<br />

veränderten die Wissenschaftslandschaften grundlegend. Gender wurde auch zu einer<br />

Kategorie, die die „Überwinterung“ und das Ertragen einer paralysierten (politischen)<br />

Situation im deutschsprachigen Raum ermöglichten. Wo gesellschaftliche Alternativen<br />

un-denkbar wurden, weil die schlechte Alternative zerstört war und nur noch monologische,<br />

immanente Diskurse vorhanden zu sein schienen, war es zunächst kaum<br />

möglich, konkrete Negationen – die Haupttätigkeit kritischer Sozialwissenschaft – zu<br />

entwickeln. Waltraud Heise hat diesen Prozess als „Übrigbleiben“ der Kategorie gender<br />

bezeichnet. Verlustiggegangen sei die Kategorie „Klasse“ und damit die „Utopie einer für<br />

morgen bereitstehenden besseren Welt, eines guten Lebens unter Gleichen und<br />

Freien.“ (Heise 2000, 76)<br />

Das poststrukturalistisch/postmoderne implizite Angebot der Rückbesinnung auf<br />

Theoriearbeit (noch einmal Derrida, Lacan, Foucault usw.) hat im deutschsprachigen<br />

Raum – soweit ich das beurteilen kann – wenige exzeptionelle Philosopheme und<br />

Theoreme hervorgebracht. 1 Jedoch hat sich der diffuse Ersteindruck, dass postmoderne<br />

Theorien ausgezeichnet parallel und keineswegs kritisch zu den herrschaftlichen<br />

Verhältnissen geführt werden können, dahingehend konkretisiert, dass die<br />

theorieimmanenten postmodernen Voraussetzungen für diesen <strong>Ein</strong>druck kritisch<br />

theoretisch und marxistisch herausgearbeitet werden. So sehr in postmodernen<br />

Theorien die Hineinnahme aller sozialen und kulturellen Phänomene auffällt, so<br />

unleugbar fehlt immer die Ökonomie (vgl. Noll 1999, 119f.). Und so sehr die Methode<br />

der Dekonstruktion radikal lesbar ist, ist sie mit dem „Affirmieren, Bejahen, Ja-Sagen“<br />

1 Exemplarisch für die neuere Literatur seien genannt: Die Anbindung an die Philosophie Adornos ist<br />

nachzulesen in: jour-fixe-initiative berlin (Hg): Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Hamburg<br />

1999; eine Disziplinbestandsaufnahme bei Urs Stäheli: Poststrukturalistische Soziologien. Bielefeld<br />

2000; die Idee, Rekonstruktion, Methode und Wirkungsweise des Poststrukturalismus z.B. in: Stefan<br />

Münker und Alexander Roesler: Poststrukturalismus. Stuttgart, Weimar 2000; eine ausgezeichnete<br />

Herleitung findet sich bei: Peter Bürger: Ursprung des postmodernen Denkens. Weilerswist 2000; eine<br />

ironisch-böse Abrechnung bei: Terry Eagleton: Die Illusionen der Postmoderne. Stuttgart, Weimar<br />

1997; ein Nichtverstehen in pädagogischer Absicht bei: Neil Postman: Die zweite Aufklärung. Berlin<br />

1999; und eine ironisch-bittere Kritik am Jargon bei: Alan Sokal und Jean Brichmont: Eleganter<br />

Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften missbrauchen. München 2000


3<br />

(ebd., 115) in Verbindung zu bringen und einem fehlenden Begreifen von<br />

Vergesellschaftungsformen (vgl. Hauser 1996). Das kritische Moment der<br />

Dekonstruktion kommt durch die andauernde Infragestellung von vorgefundener<br />

Metaphysik und Ontologie zum Tragen. Sie ist das „Achthaben“, der wachsame Blick<br />

(Derrida 1995, 275 f.). Und sie ist – bedingt – an Adornos Identitätskritik anbindbar:<br />

„Alleine zu kritisieren wäre damit die unvernünftige Identität, die durch die<br />

kapitalistische/nationale/patriarchale Vergesellschaftung produziert wird.“ (Baumann<br />

1999, 48) Leistet Dekonstruktion das im Konkreten oder ist dies nur ein methodisch<br />

inhaltlicher Auftrag? Heise spricht von einer der „Falle des postmodernen Fluidums...:<br />

Es bietet viel, wenn etwas aufzulösen, aber wenig, wenn etwas Grundsätzliches zu<br />

erfassen ist.“ (ebd.).<br />

Forschungspolitisch hat sich einiges in den 90er Jahren verändert. „Neue Horizonte?<br />

Sozialwissenschaftliche Forschung über Geschlechter und Geschlechterverhältnisse“<br />

wurde 1995 gefragt (Armbruster, Müller, Stein-Hilbers (Hg)). <strong>Ein</strong> Drittel der<br />

versammelten Beiträge trägt noch im Titel „feministisch“, etwas mehr als ein Drittel setzt<br />

sich mit „Männlichkeiten“ auseinander, so wie es der Australier Robert Connell (im Band<br />

vertreten) 1987 in seinem ersten, auch im deutschsprachigen Raum wahrgenommenen,<br />

Buch „Gender and Power“ vorschlug.<br />

FRAUENFORSCHUNG – MÄNNERFORSCHUNG<br />

Dialoge?<br />

Fünf Jahre später verundeutlicht sich die Forschung über Männlichkeiten: „Blickwechsel.<br />

Der neue Dialog zwischen Frauen- und Männerforschung.“ (Doris Janshen (Hg). Der<br />

Titel ist als List interpretierbar, als ein Weg feministische Forschungen endlich an die<br />

“allgemeine” Wissenschaft anzudocken. Denn der Dialog mit der von Männern<br />

dominierten Forschung wird ja von Seiten der Wissenschaftlerinnen seit dreißig Jahren<br />

gesucht. “Es besteht ein Bedarf an einer neuen politischen und intellektuellen<br />

Streitkultur zwischen Frauen und Männern, die zukünftige Annäherungen und<br />

Versöhnungen ermöglicht.” (Janshen, 11) Zwischen Frauen und Männern? Die<br />

persönliche Beziehung der Geschlechter überlagert den eigentlichen Gegenstand:<br />

Geschlechterverhältnisse. Die List aus “Männlichkeits-” Männerforschung zu machen ist


4<br />

ein Rückschlag. Der Begriff Männlichkeit – wie Weiblichkeit – entgeht dem<br />

Essentialismus, an die biologische Voraussetzung gebunden zu werden, und ermöglicht<br />

es überhaupt erst kultur- und sozialpolitische Hegemoniefähigkeit und/oder<br />

Legitimationsprobleme sichtbar zu halten.<br />

Der Band ist die Dokumentation der Jahrestagung im Essener Kolleg für<br />

Geschlechterforschung (1998). Mit Ausnahme des Beitrags von Michael Meuser –<br />

dessen Text eine Rekonstruktion anschlussfähiger soziolgischer Theorien für<br />

Männlichkeitsforschung darstellt - leiden alle Texte darunter, dass sie sich an keine<br />

Disziplinen rückbinden, so sind “Fortschritte” in den einzelnen Wissenschaften (durch<br />

Begriffsbildung, der Plazierung neuer Thematiken, die kritische Durchdringung<br />

bestehender Theorien) durch “Frauenforschung” nicht auszumachen, während<br />

“Männerforschung” schon für sich als “neu” gelten darf. 2<br />

Unter dem Obertitel “Grundlagen” wandert Sigrid Metz-Göckel („Spiegelungen und<br />

Verwerfungen. Das Geschlecht aus der Sicht der Frauenforschung.“) durch alle<br />

Modewörter, die herumliegen: queer, transgender issues, passing, die mittlerweile<br />

unvermeidbare Verfielfältigung der Geschlechter. Im Bericht über die Geschichte der<br />

Frauenforschung wird von deren – unterstellter – Wirkungsmächtigkeit berichtet: Männer<br />

sind ab Mitte der 80er Jahre “Nutzniesser” (30) der Emanzipation der Frauen. Theorien<br />

werden als Alltagsressource ausgegeben: “Sowohl im Berufsleben als auch im<br />

Privatbereich standen Analysen zur Privilegierung und Diskriminierung aufgrund des<br />

Geschlechts auf der Agenda”.(31) Wissenschaft und Lebenswelt werden so<br />

aneinandergerückt, dass erstere wie RatgeberInnenliteratur wirkt und letztere offenbar<br />

voluntaristisch verändert werden kann.<br />

Ähnlich wie die Rezeption poststrukturalistischer Theoretisierungen im<br />

deutschsprachigen Raum häufig affirmativ, selten eigenständig verlief, droht auch den –<br />

sehr einleuchtenden – Begriffen von Connell eben dieses Schicksal. So wird – eher<br />

sozialpsychologisch – behauptet, dass Jungen eine “große Spannbreite von<br />

Äusserungs- und Darstellungsformen von Männlichkeit” besäßen, und es soll hier<br />

2 Der <strong>Ein</strong>wand mag anachronistisch klingen; bei aller Trans-Inter- und Intradisziplinarität ist mir jedoch<br />

uneinsichtig, warum alle disziplinären Zuständigkeiten als aufgehoben gelten sollen. Die Beiträge der<br />

einzelnenen AutorInnen (auch in den folgenden Sammelbänden) zeigen ja selbst, dass es schon<br />

schwierig ist, alle gegenstandsbezogen Debatten innerhalb der eigenen Disziplin darzuegen.


5<br />

ausser Acht bleiben, dass es wohl weniger “Formen” als Praxen sind, “zentriert<br />

allerdings um eine hegemoniale Männlichkeit” (39). Connell hatte das Gegenteil<br />

geschrieben: “Die Hauptachse, um die herum die Variationen von Männlichkeit sich<br />

organisieren, ist das allgemeine gesellschaftliche Verhältnis zwischen Männern und<br />

Frauen, das heißt die Struktur der Geschlechterverhältnisse als Ganzes.” (In: Neue<br />

Horizonte? 69) Innerhalb dieser Struktur – so Connell – werden verschiedene<br />

Männlichkeitsformen produziert, innerhalb derer verschiedene männliche Praxen als<br />

vielfältige Kombinationsmöglichkeiten ergriffen werden. Wer die Komplexität von<br />

Vergesellschaftungsprozessen völlig ausblendet, hat dann zwangsläufig<br />

Schwierigkeiten, das “Zentrum” und seine Veränderung von “Weiblichkeit” (vgl. 39)<br />

auszumachen. Lässt sich z.B. innerhalb des Sexualitätsdispositivs nicht eine<br />

Verschiebung von der Reproduktionsfähigkeit der gebildeten Frauen in Richtung<br />

sexueller Liberalität und – feministisch gewendet – „Vervielfältigung des Geschlechts“<br />

ausmachen? Der herrschende Diskurs bindet – nicht ungefährlich – den<br />

Aus/Bildungsgrad von Frauen und Geburtenrate zusammen und blendet alle anderen<br />

gesellschaftlichen Bedingungen, ökonomische und kulturelle Dimensionen aus.<br />

Da alle von Kindesbeinen an, das „surfen“ erlernen sollen – jenes surfen im internet -<br />

ergibt sich vielleicht eine neue alte Unterscheidung für Menschengruppen: Es gibt surfer<br />

und diver. Bildungstheoretisch ist bekannt, dass erst der Tiefgang eine kluge Nutzung<br />

der immer größer werdenden Oberfläche ermöglicht. Mittlerweile können auch<br />

wissenschaftliche Texte so unterteilt werden.<br />

Ingeborg Stahr („Frauen-Körper-Identität im Kontext gesellschaftlicher Modernisierung“)<br />

surft auf der alltagsverständigen Realitätszurechtlegung: Es existieren „alte Mythen<br />

weiter, wie etwa der Mythos von der Hausfrauenehe und der Alleinzuständigkeit von<br />

Frauen für Haushalt und Kinder...“ (81) Kritisch theoretisch und marxistisch orientierte<br />

Wissenschaftlerinnen hatten vor über 20 Jahren den Mythos der „heiligen Familie“<br />

feministisch rekonstruiert: Hausfrauenehe und Alleinzuständigkeit fungieren nicht als<br />

Mythen sondern sind soziale Platzzuweisungen, die u.a. mit dem Mythos Familie<br />

untermauert werden. Unkenntnis und Ungenauigkeiten durchziehen den ganzen Beitrag,<br />

der bloß wiederholt, was das Feuilleton schon beantwortet: „Wer wir sind und was wir<br />

sind, wird anscheinend immer mehr von unserem Aussehen und unserer Figur<br />

bestimmt.“ (82) Das „Mehr“ bleibt unklar, wie das „Vorher“ und das „Später“. Judith


6<br />

Butler wird mit einer These von Wittgenstein, der nicht genannt und offenbar nicht<br />

gekannt wird, präsentiert: „wir können lediglich wahrnehmen, wofür es auch sprachliche<br />

Benennung gibt“ (94) und alles fasst sich zusammen, wie in fast jedem Beitrag, in eine<br />

vielfältig aufgefächerte Perspektive für das Individuum: „eine subjekt- und leibbezogene<br />

Pluralisierung von Geschlechtsidentität könnte auch bedeuten, dass ein Individuum in<br />

Abhängigkeit von Situation und Kontext seine Beine und Schultern zeitweise als<br />

männlich oder weiblich empfindet .. oder sich in seinem Wertebewusstsein,<br />

Beziehungs- und Arbeitsverhalten mal androgyn oder weiblich verortet.“ (100)Die<br />

„Vervielfältigung der Geschlechter“ ist mittlerweile zu einer Redefigur geworden, die<br />

plastische oder figürliche Assoziationen weckt. Innerhalb der poststrukturalistischen<br />

Debatten ist dies m.E. eine der gemeinten Bedeutung entgegengesetzte Rezeption:<br />

„Vielfalt“ wäre ein leeres Zeichen, das nur die Aufgabe erfüllt, den Sinn – hier der<br />

bipolaren Geschlechterordnung – zu unterbrechen; nicht aber eigenen Sinn<br />

herzustellen.<br />

Die realistische fehlende Harmonie zwischen Männern und Frauen wird in den<br />

Männlichkeitsbeiträgen deutlich. Lothar Böhnisch („Körperlichkeit und Hegemonialität.<br />

Zur Neuverortung des Mannseins in der segmentierten Arbeitsgesellschaft“) entfaltet die<br />

männliche Suche nach Identität von der Jugendbewegung bis zur Gegenwart unter<br />

sozialpsychologischen Aspekten. Der herrschenden Vergesellschaftung des männlichen<br />

Körpers in ihren repressiven Dimensionen – Soldaten-, Maschinen-, Konsumkörper –<br />

werden die widerständigen Praxen alternativer Männlichkeit gegenübergestellt. Bei der<br />

Vorführung der Male der Unterdrückung, die Männer zu tragen haben, fällt dem Autor<br />

der ihnen verwehrte Opfer-Status besonders negativ auf. Hier werden Feministinnen zu<br />

Täterinnen: „zum anderen `braucht` die feministische Bewegung das männliche<br />

Täterparadigma so lange, bis die Emanzipation der Frau gelungen ist, das heißt die<br />

männliche Dominanzkultur aufgelöst und die Geschlechterhierarchien umgekehrt sind.<br />

Männer, wollen sie in dieser historisch hartnäckigen Zuschreibungsfalle handlungsfähig<br />

bleiben, müssen ihr Täter-Face aufsetzen, die Zuschreibung übernehmen, auch wenn<br />

das für sie selbstzerstörerisch wird. Nur so ist es zu verstehen, dass bei Jungen und<br />

Männern Bedürftigkeit und Gewalt eng beieinander liegen.“ (118) an anderer Stelle wird<br />

von einem „feministischen Hinterhalt“ gesprochen, in den Jungen und Männer geraten<br />

(119). Der gestiftete Zusammenhang zwischen „dem“ feministischen Paradigma und


7<br />

männlicher Gewalt ist nicht nachvollziehbar, aber in dem Beitrag wird deutlich, dass die<br />

feministische Pädagogik in der sozialarbeiterischen Praxis als nervenaufreibend rezipiert<br />

wird. Böhnisch vermutet den Geschlechterkampf nur noch in der „Peripherie“: „Bist du<br />

im Zentrum erfolgreich, fragt dich niemand, ob du Mann oder Frau bist, in der Peripherie<br />

aber zeigen die Männer wieder ihr hässliches Gesicht, sei es im<br />

Verdrängungswettbewerb mit den Frauen am Arbeitsmarkt, sei es in den Gewaltdramen<br />

in den Familien.“ (121f.) Licht und Schatten werden mechanisch manichäisch verteilt<br />

und eher durch subjektive Hoffnung denn durch analysierte Realität begründet.<br />

Untersuchungen – von Böhnisch offenbar nicht gekannt - über Frauen im mittleren und<br />

gehobenen Management belegen, dass es ihnen nicht gelingt, der doppelten<br />

Vergesellschaftung zu entrinnen: als Sexwesen werden sie jederzeit (diskursiv und<br />

durch haptische Wahrnehmung) von Männern verfügbar gehalten. Latent zieht sich<br />

durch den Beitrag die These, dass die schlechte Lage von Männern ein schlechtes Licht<br />

auf sie werfe und aus schlechten Verhältnissen schlechte Männer hervorgehen. Hier<br />

fängt Männerforschung dort an, wo die Frauenforschung mal begann: die Suche nach<br />

Begründungen für das „Ja-Sagen“ zu herrschaftlichen Verhältnissen. Warum auch die<br />

soziologistische Variante, die Verhältnisse und Verhalten umstandslos<br />

zusammenbindet, wiederholt werden muss, ist vielleicht nur ein Beleg für fehlende<br />

Kenntnis der feministischen Forschungen.<br />

Wie begründet sich die „Männerfrage“? Kurt Möller („Modernisierung von Arbeit –<br />

Modernisierung von Männlichkeit“) gibt folgende Antwort: „Die Frauenfrage ist<br />

weitgehend eine Männerfrage!“ (144) Aus pädagogischer Sicht gehe es darum, die<br />

nachwachsenden männlichen Generationen „davon zu überzeugen, in Zukunft<br />

wenigstens weniger auf Kosten von Mädchen und Frauen zu leben?“ (144)<br />

Tatsächlich aber sind alle Beiträge zur „Modernisierung“ von den gesellschaftlichen<br />

Umbrüchen umgetrieben und weniger von einem egalitären Menschenbild. Die<br />

manifesten und latenten Drohungen, die in den Veränderungen liegen, vor allem die<br />

Umgestaltung der Erwerbsarbeits-Verhältnisse, werden als notwendiger Erwerb<br />

vielfältiger männliche Persönlichkeiten wahrgenommen.<br />

KRISE DER HEGEMONIALEN MÄNNLICHKEIT – MÄNNER IN KRISEN?


8<br />

Die beiden Romane von Michel Houellebecq: „Ausweitung der Kampfzone“ (franz. 1994,<br />

dtsch.1999) und „Elementarteilchen“ (franz. 1998, dtsch. 1999) erregten in Frankreich<br />

und in Deutschland<br />

heftige Debatten. Und dies im Feuilleton als auch in<br />

wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Zumal in Deutschland die Thesen von Peter<br />

Sloterdijk „Regeln für den Menschenpark“ (1999) als deutsches Pendant verstanden<br />

wurden (vgl. Reich 1999). Zwei große Themen strukturieren die Diskussionen: die<br />

Ersetzung von Erziehungsverhältnissen durch „Gen-Verhältnisse“ und die sexuellen<br />

Geschlechterbeziehungen, die bei Houellebecq mehr oder minder als menschlich<br />

erzeugter Störfall vorkommen.<br />

„Frage: In den `Elementarteilchen` wird mit technischen Mitteln<br />

versucht, eine neue Gesellschaft zu erzeugen. Die Reproduktion<br />

geschieht im Labor. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern<br />

fallen weg, beziehungsweise: Es gibt zwar noch Männer und Frauen,<br />

sie besitzen jedoch kein sexuelles Begehren mehr.<br />

Houellebecq: Es geht vor allem um die Frage des Todes und der<br />

Fortpflanzung.<br />

Frage: Geht es Ihnen um die Aufhebung der Geschlechtlichkeit?<br />

Houellebecq: Ja, man könnte sich vorstellen, dass so etwas wie<br />

Hermaphroditen entstehen. Das stört mich nicht.“ (Fuhring 1999, o.S.)<br />

Es ist doch eine interessante Problemverschiebung, die der Literat dort vornimmt: der<br />

alte Pakt von Sex-Leben-Tod wird wieder erneuert; das sexuelle Begehren, kaum<br />

konnte es sich selbst genügen, braucht wieder Folgen, die dann mit moderner<br />

Technologie verhindert werden. Die männlich pathetisch aufgeladene Hinwendung zum<br />

Tod ist eine Struktur, die bis in die Theoriebildung von Feministinnen aufgeschlossen<br />

wurde. „Oder nehmen wir Schütz` Beschreibung der Todesfurcht als einer<br />

fundamentalen Angst, die das alltagsweltliche Relevanzsystem jeden Individuums<br />

beherrscht. Ich habe mir diese Annahme nie zu eigen gemacht, da ich persönlich diese<br />

Angst nicht empfinde.“ (Smith 1989, 373).<br />

Das Cover des 670 Seiten Buches „Stiffed“ von Susan Faludi (2000), in dem sie dem<br />

„Verrat am modernen Mann“ auf der Spur ist, vermittelt auch den <strong>Ein</strong>druck von<br />

Todesangst. Krisenstimmung scheint allüberall zu herrschen: am Stammtisch, der task<br />

force der „Leitkultur“ ebenso wie in der E-Kultur.


9<br />

„Dass sich die Männer samt ihrer Männlichkeit in einer tiefen Krise<br />

befinden und sich von der Genetik eine schnelle Lösung erhoffen, hat<br />

nicht erst Houellebecq behauptet. Man kann es seit Jahren – ironisch<br />

gebrochen – in den künstlichen Hodenhaltern der Amerikaners<br />

Matthew Barney (Cremaster-Zyklus) sehen, in Filmen wie Gattaca<br />

studieren. American Beauty oder Magnolia bieten für die Krise des<br />

Mannes immerhin amüsante Lösungen(etwa: werde homosexuell<br />

und/oder Sex-Guru). In Filmen wie Fight Club aber sieht man den<br />

Gegenschlag, bevor man den Schlag gesehen hat. ... Gezeigt wird das<br />

Zusammenrotten lauter hochdotierter Angestellter, die sich gedemütigt<br />

fühlen, vor allem von den Selbsthilfegruppen, die ihre Frauen<br />

besuchen. Was an Filmen wie diesen, an Büchern wie<br />

Elementarteilchen so beunruhigt ist nicht die Krise der Männer und<br />

ihrer Männlichkeit, sondern die Kur, die sie dafür vorschlagen:<br />

Vollständige Regression oder hemmungslose Aggression.“ (Schaub<br />

2000, 15)<br />

Unter der Voraussetzung, dass die geringen Geburtenzahlen, gepaart mit dem überall<br />

vermeldeten Vordringen von gut ausgebildeten Frauen in vormals männliche Domänen,<br />

die Zersetzung von Ehe und Familie und einer Zirkulationssphäre, die verspricht und<br />

fordert, dass alle KonsumentInnen sein sollen und müssen, um zum „Menschen“ zu<br />

avancieren, von Männern als „Verdrängung“ und mehr noch als „Reduktion auf das<br />

Geschlecht“ wahrgenommen werden, dann könnte Männlichkeitsforschung hochbrisant<br />

werden: sie müsste regressive und aggressive Gewalt unter dem Aspekt<br />

brüchiggewordener und/oder fehlender Legitimation des Patriarchats untersuchen; die<br />

Zumutung erklären, die Männer empfinden, wenn sie qua Geschlechtswerkzeug zum<br />

Mann werden und nicht durch das, was sie (sozial) wurden. Und diesen Umstand<br />

einspannen in den Widerspruch, dass bloß männlicher Stolz und männliche Freude im<br />

Phallozentrismus herrschen, wo jede Stange Spargel zum „Symbol“ erklärt werden kann<br />

.<br />

Ist die Gentechnologie, dieser männliche Er/Schöpfungsdrang, ein<br />

Zersetzungsinstrument von Männlichkeit und müsste deshalb – vom Standpunkt der<br />

Männer - zur Abschaffung jedweden Geschlechts genutzt werden? 3 Oder zur<br />

verbesserten Kontrolle der eigenen Folgen von geschlechtlichen Taten?<br />

3 <strong>Ein</strong> befreundeter Mikrobiologe erklärte mir mit glänzenden Augen, dass wir irgendwann durch die völlige<br />

Aufschlüsselung des Genoms genau wissen werden, was einen „Mann“ und was eine „Frau“<br />

auszeichne bzw.bestimme. Dieser Kollege würde nie verneinen, dass ein Großteil der<br />

Geschlechterzuschreibungen nicht biologisch oder genetisch bedingt sind.


10<br />

„In dem Moment, in dem die Konturen von Herrschaft zwischen den<br />

Geschlechtern unschärfer werden, entstehen Techniken, die die<br />

schwindende soziale Kontrolle über die weibliche Fruchtbarkeit ins<br />

somatische verlagern. An die Stelle strenger Paarungsverbote und –<br />

gebote, ..., treten verlässliche Vaterschaftsbestimmungen und<br />

Nachwuchs nach Maß.“ (Mattheiss 2000, 19)<br />

Wenn man die Lesweise von „Männlichkeits- und Männerforschung“ so strukturiert, dass<br />

sie nicht automatisch als Hinwendung zur Gleichheit oder Emanzipation beider oder<br />

aller Geschlechter gedacht wird, sondern vielmehr als einen Widerstandsakt gegen die<br />

Reduktion von Mann-Sein und Männlichkeit auf ein Geschlechtswerkzeug, dann<br />

erschließt sich auch das mögliche Gegenteil von Gleichheit und Emanzipation und sei<br />

es auch als Effekt und nicht gewussten Vorgang.<br />

Es findet sich kaum ein Text zum Thema „Männlichkeit“ der nicht mit den Begriffen von<br />

Robert Connell operiert. Besonders häufig und offenbar gern – auch von<br />

Frauenforscherinnen - wird auf den Begriff der „hegemonialen Männlichkeit“ rekurriert.<br />

Connell verdichtet ihn in Fallgeschichten (zuletzt: Connell 1999), wobei der Begriff<br />

kaum fundiert wird aber seine semantische Breite und Anwendbarkeit als<br />

Beschreibungskriterium – im Gegensatz zu einem Analysewerkzeug – eindrucksvoll<br />

belegt wird. Connell, der immer wieder sagt, wie sehr er von den feministischen<br />

Theorien gelernt habe, hat – möchte ich zugespitzt behaupten – den Vorgang der<br />

„hegemonialen Männlichkeit“ parallel zu dem wirklichkeitssatten Prozess der<br />

„hegemonialen Weiblichkeit“ 4 gebildet und die Geschlechterdifferenz dabei<br />

unterschlagen und zugleich voraussetzt. Historisch und soziologisch betrachtet gibt es<br />

das Hegemonialkonzept für das weibliche Geschlecht tatsächlich. Der konstruierte und<br />

imaginäre Kern wird mit der generativen Fähigkeit von Frauen und deren sozialer – aber<br />

naturalisierter - Folgen gebildet.<br />

Im Spiel der herrschenden Diskurse findet sich immer eine sozial-kulturell konstruierte<br />

Natürlichkeit der Frau, die Mythologisierung des Ortes, an dem Frauen sich wesentlich<br />

aufzuhalten haben (Familie) und die Ideologie, dass eine Frau ohne Mann den Status<br />

des Menschen noch nicht erreicht habe. Die Mischung der Elemente unterscheidet sich<br />

historisch sehr, was im diskursiven Spiel zur Dominante wird, ist gesellschaftlichen<br />

Widersprüchen geschuldet, denn auch die hegemoniale Weiblichkeit ist die ideologische<br />

4 Der Begriff wird hier von mir versucht und hat einen heuristischen Stellenwert.


11<br />

Lösung eines vorfindlichen Problems, welches immer einen Grund in der<br />

gesellschaftlichen Aufgabe der Reproduktion der Gattung hat. Biologisches und sozialen<br />

Geschlecht fungieren als gegenseitige Verweisungszusammenhänge, was sie mit der<br />

„magischen Kraft des Faktischen“ umgibt und ihre Wirkungsmächtigkeit unterhält.<br />

Auf der Seite der Männlichkeit finden wir nichts derartiges. Die Zurichtung des<br />

arbeitenden Mannes für kapitalistische Verhältnisse formte ihn als Arbeits-Wesen nicht<br />

aber als Geschlechts-Wesen. In dem Fall zeigt die Tätigkeit des Arbeitens sein<br />

„Geschlecht“, während sein Geschlechtswerkzeug bedeckt bleiben darf. Arbeitstätigkeit<br />

in der Zusammenbindung mit der gesellschaftlichen Position des bread-winners, die<br />

eine konkrete Geschlechter- und Familienbeziehung umriss, ermöglichte zusammen mit<br />

anderen sozialen und kulturellen Positionen - die historische Fühlform, der Überlegene<br />

im Überlebensprozess zu sein. In diese Fühlform waren Legitimationspraxen des<br />

Patriarchats eingeschlossen.<br />

Wenn nun alle drei Formen gesellschaftlich in Krise geraten – Erwerbsarbeit, breadwinner,<br />

Fühlform, gerät nicht die hegemoniale Männlichkeit in Krise, sondern die<br />

Fühlform und die Legitimation des Systems für Männer. In dieser Logik gerät die<br />

„hegemoniale Weiblichkeit“ in Krise, die ebenfalls soziologisch dem männlichen<br />

Geschlecht als Problem zugeordnet werden muss, da ihre Krise für Frauen – wieder<br />

soziologisch, nicht psychologisch bestimmt – Aufbruch und Erweiterung von<br />

Handlungsfähigkeiten ist.<br />

Vielleicht – so ließe sich zugespitzt formulieren – ist „Männlichkeit“ kein aufzufindender<br />

Gegenstand, weil er gesellschaftlich nie besonders relevant war, da Männliches als<br />

„Menschliches“ fungierte und seine Besonderheit nicht zeigen musste. Indem das<br />

Weibliche sichtbar gehalten wurde, konnte sein „Gegenteil“ erkannt werden. Die<br />

Zurichtung zur Arbeitsdisziplin, die Arbeitstätigkeiten selbst waren von Kapitalseite ganz<br />

ungeschlechtlich vorgesehen und sind in ideologischen Formen erst geschlechtlich<br />

geworden 5 . Das Heraustreten von Frauen aus diesen Formen ist auch als langsamer<br />

5 Krieg und staatliche Gewalt lasse ich hier bewusst aus. Wie z.B. „nationale Überlegenheit“ mit der<br />

„Überlegenheit“ im Überlebenskampf ideologisch artikuliert wird, sollte eine eigene Untersuchung<br />

zeigen. Da der überwiegende Anteil der Kriege der letzten zehn Jahre Bürgerkriege waren, wäre auch<br />

die ethnische, kulturelle usw. „Überlegenheit“ so denkbar. Der Versuch in der CDU eine „deutsche<br />

Leitkultur“ zu begründen oder bloß anzuführen wird unter dem Fokus: neue Legitimationsversuche<br />

des Patriarchats interessant.


12<br />

Prozess der Ent-Geschlechtlichung zu erkennen. Gemeint ist hier der herrschaftliche<br />

Vergesellschaftungsaspekt, nicht die individuelle Erfahrung und Empfindung. Und selbst<br />

die Kritik an Frauen, die sich in den von Männern dominierten Domänen plazieren, zeigt<br />

noch, wie wenig „männlich“ die dort vorgesehenen Haltungen, Tätigkeiten und Gefühle<br />

sind: Die Kritik bezichtigt Frauen, sich zu vermännlichen, bzw. sich zu entweiblichen.<br />

Das ist die ideologische Artikulation. Der Realitätsbezug meint die Haltung, die Taten,<br />

die sich aus der ökonomischen – also harten – Sphäre notwendig ergeben. Es wird<br />

„Eigentliches“ und „Uneigentliches“ artikuliert; was unter Männern selbstverständlich<br />

ungeschlechtlich gesprochen werden kann, muss gemischtgeschlechtlich männlich oder<br />

weiblich werden. Es offenbaren sich neue Weisen der Kapitalismuskritik, wenn<br />

Tätigkeiten und Gefühle nicht mehr geschlechtlich verteilt werden können, und so ihren<br />

„Ausgleich“ finden, sondern – wenn es politisch gelingt – als das benannt werden, was<br />

sie sind: gefühllose Ausbeutung, Vernichtung von Arten, unbarmherzige Verteilung der<br />

Ressourcen, die Entwicklung der Persönlichkeit in der Logik der „sukzessiven<br />

Vermarktlichung“ (Neckel 2000, 21).<br />

Vielleicht sind die Untersuchungen von Connell, so interessant sie im einzelnen unter<br />

kulturtheoretischen Aspekten sein mögen, doch selbst Teil einer Ideologie, die weiterhin<br />

– und zunehmend überflüssigerweise – Geschlechterdifferenzen herstellt, wo sie längst<br />

dysfunktional wurden und gegen sich selbst zurückschlagen. Was für Connell ein<br />

Essentialismus ist, die Gleichsetzung von Mann und Männlichkeit, wird durch reale<br />

Prozesse wahr: Der Mann ist bloß noch Mann und das wiederum nicht aufgrund seiner<br />

Männlichkeit, sondern aufgrund der Sichtbarkeit seiner<br />

Chromosomenzusammensetzung. Connells Forschung wäre dann Teil der<br />

„mythopoetischen Männerforschung“ und ergänzend sei hinzugefügt „mythopoetischen<br />

Kulturproduktionen“.<br />

Männlichkeitsforschung?<br />

Die Ansprüche der Männer- bzw. Männlichkeitsforschung sind nicht gering: Mythen<br />

sollen zerstört, neue Unsicherheiten angegangen, soziale Zuschreibungen als<br />

Zumutungen entlarvt werden (vgl. den Überblick bei Pasero 2000, 154 f.). In dem von<br />

Hans Bosse und Verena King herausgegebenen Band: „Männlichkeitsentwürfe.


13<br />

Wandlungen und Widerstände im Geschlechterverhältnis“ (Frankfurt/M. 2000) wird ein<br />

Dialog zwischen den Disziplinen Soziologie und Psychologie, Psychoanalyse,<br />

Ethnologie, Ethnoanalyse ingang gebracht.<br />

„<strong>Ein</strong>e in diesem Sinne polydisziplinär erweiterte Soziologie der<br />

Männlichkeit soll die selbstreflexive Analyse des<br />

Beobachterstandpunktes ebenso wie die Überwindung des<br />

Ethnozentrismus vorantreiben und dass Verständnis der Verbindungen<br />

von Sozialem, Kulturellem und Psychischem hinsichtlich der inneren<br />

und äußeren Entwürfe von Männlichkeit präzisieren helfen. Im Begriff<br />

des Entwurfs selbst soll dabei die Vermittlungsmöglichkeit und –<br />

notwendigkeit des Psychischen und Sozialen, des Inneren und<br />

Äußeren zum Ausdruck gebracht und ermöglicht werden: Der Begriff<br />

Männlichkeitsentwurf soll strukturlogisch die Vermittlungslinie bieten<br />

zwischen der auf psychischer Ebene angesiedelten Dynamik von<br />

Lebensentwürfen und Identitätsprojekten einerseits und der<br />

Erzeugungsmacht sozialer Strukturen andererseits, aus denen heraus<br />

Geschlechter konstruiert werden.“ (10)<br />

Auch diesem Buch geht ein Text von Connell voran, der sein zuletzt auf deutsch<br />

erschienenes Buch zusammenfasst.<br />

Regina Becker-Schmidt („Maskulinität und Kontingenz: Macht als Kompensation eines<br />

männlichen Konflikts“) setzt sich mit dem Buch von Günther Anders: „Lieben gestern“<br />

aus kritisch anthropologischer Sicht auseinander. Ihr Ausgangspunkt ist der männliche<br />

„Überlegenheitsanspruch“, der Konflikte berge, für die er die Lösung darstelle. Sie nennt<br />

es „Unsicherheiten“, die sich aus der „unversöhnlichen Differenzsetzung ´Mann/Frau´ für<br />

die Selbstbestimmung des männlichen Subjekts ergeben.“ Dies sei der Kern in den<br />

Anthropologien. Becker-Schmidt begründet ihre Literaturwahl nicht; obwohl die „Notizen<br />

zur Geschichte des Fühlens“ (so der Untertitel des Buches) weder systematisch noch<br />

theoretisch sind. Ihr Text versucht zu belegen, dass die drei Dimensionen (?)<br />

Geschlechterdifferenz – männliche Überlegenheit – männliche Unsicherheit den immer<br />

wieder – auch bei Anders – vorfindlichen Antifeminismus konstituieren. Die Autorin<br />

operiert logisch: „Frau-Sein wird von ihm (Anders, kh) als Apriori konzipiert, als<br />

existentielle Gegebenheit, das darin Gefangensein als Aposteriori, als ´Machtereignis`“<br />

(78). Das deduktive Vorgehen – die Geschichte der Anthropologie habe das männliche<br />

Setzungsverhalten bereits gezeigt und belegt – erscheint wenig produktiv, die Lesweise<br />

ist unbelehrbar. Die umgekehrte Logik leuchtete mir – weil sie so wirkungsmächtig ist<br />

und Setzung und Effekt kaum noch auseinander zuhalten – eher ein: Frau-Sein wird


14<br />

erfahrungs- und wahrnehmungsbezogen gedacht (der Blick, dieses dominante<br />

Erkenntnisorgan nach dem Geist/Verstand in der deutschen Philosophie, bestätigt<br />

etwas) und das Resultat (Gefangensein)wird als Apriori gesetzt. Befragungswürdig<br />

bleibt jedoch, ob irgendeine der Logiken einen Erkenntniszuwachs bedeutet? Ähnlich<br />

logische Probleme lassen sich an der Fichte-Rezeption von Anders - mit Becker-<br />

Schmidt gelesen - zeigen: Anders geht kritisch mit dem „sich selbst setzenden Ich“ von<br />

Fichte um; er zeigt - was Becker-Schmidt unterschlägt – in welchem Frage-Antwort-<br />

Philosophiespiel und mit welchen blinden Flecken Fichte philosophiert, und dass durch<br />

das Mann-Sein von Fichte (bzw. der philosophierenden Männer) bestimmte<br />

philosophische Motive „in die Welt kamen“. Er resümiert, dass einer schwangeren Frau<br />

dieses sich selbst setzende Ich „unnachvollziehbar“ wäre, da sie andere Wesen in die<br />

Welt setzen kann. Becker-Schmidt wirft Anders vor, er würde Frauen fehlendes<br />

Denkvermögen unterstellen, während Fichte für sie „irrwitzige Ideen“ aus „unbewusstem<br />

Gebärneid“ produziert hat (79). Die inhaltliche Auseinandersetzung erscheint mir zu<br />

„apriorisch“ – das untergelegte Problem hingegen sehr interessant. In meinen Worten:<br />

Die Überlegenheit des männlichen Geschlechts könnte als Unfreiheit gesehen werden,<br />

die in der Kontingenz des Geschlechts zu leben ist. Sie erinnert alltäglich an Natur; die<br />

Kontingenz wird in einen Sinn eingespannt und auch so vergesellschaftet. Auf diese<br />

Weise wird die Natur zum Zeichen, das Überordnung bezeichnet. Und – in Fortführung<br />

meiner vorherigen Thesen – ist in Krise geraten.<br />

Von Pierre Bourdieu („Das väterliche Erbe. Problem der Vater-Sohn-Beziehung“) wurde<br />

ein Text aus dem „Elend der Welt“ aufgenommen. Seine Frage lautet: Was ist die<br />

Aufgabe des Erbes für Vater und Sohn. „Die Familie ist der Uterus des<br />

gesellschaftlichen Werdegangs des Erben und seines Verhältnisses zu diesem<br />

Werdegang ... <strong>Ein</strong>e gelungene Erbschaft ist ein auf Befehl des Vaters hin vollzogener<br />

Vatermord.“ (84) Bourdieu tastet sich zu der Frage vor, wie und wie sehr eine<br />

gesellschaftliche Ordnung mit psychologischen Prozessen arbeitet und in welchen<br />

Verhältnissen beide positioniert werden. Die enge Verbindung von Familie und Bildung<br />

sowie deren determinierende Kraft ist dem bildungsinstitutionellen Selektionsprinzip in<br />

Frankreich geschuldet; sie formuliert vielleicht also unsere Probleme von morgen,<br />

angesichts der zunehmenden Privatisierung von Bildung. Ich war von der<br />

Aufgeladenheit des Vater-Sohn- Verhältnisses, wie Bourdieu es beschreibt, irritiert, hatte


15<br />

ich doch dieses Verhältnis – auch durch veränderte Familienbedingungen – für<br />

banalisiert(er) gehalten. Angesichts der zunehmenden Anzahl von Texten über die<br />

„vaterlose Gesellschaft“ - ein überraschender Beitrag..<br />

Leider erwecken die psychoanalytisch orientierten Texte in diesem Band jenen<br />

<strong>Ein</strong>druck, der die Psychoanalyse als dauerhafte Kritik begleitet hat: die theoretischen<br />

Konstrukte überzeugen häufig durch die Art und Weise ihres Zustandekommens (vgl.<br />

Haug/Hauser (Hg) 1991, bes. 19 ff.) aber wehe, sie werden mit sozialen Praxen<br />

und/oder Phänomenen in Zusammenhang gebracht. Dann wird der Behauptungs- und<br />

Setzungscharakter geradezu aufdringlich und der Erkenntniszugewinn will sich (mir)<br />

nicht erschließen. Hans Bosse stellt sich die Frage welchen <strong>Ein</strong>fluss die Trennung „vom<br />

Weiblichen in der männlichen Jugendphase ... auf Wandel und Stagnation im<br />

Geschlechterverhältnis hat und haben kann.“ (51) Ohne jeden Umweg wird die<br />

„Geschlechtsidentität des Mannes“ innerpsychisch auf den Gebrauch des<br />

Geschlechtswerkzeuges zum Zwecke der Lebensgebung fixiert; die soziale<br />

Entwicklungslinie liest sich eher wie die in Thomas Manns „Zauberberg“ verdichtete<br />

gesellschaftliche Epoche der Vorkriegszeit: die soziale Entwicklungslinie wird „bestimmt<br />

von den Aufgaben, die sich einem bestimmten jungen Mann einer bestimmten Schicht,<br />

Ausbildung, Kultur etc. in einer gegebenen Epoche stellen.“(51) Neben dem – wiederum<br />

nur antifeministisch zu lesenden – Umstand, dass die Gattungsreproduktion auf der<br />

Seite der Natur verortet wird und das „Zu-Sich-Selber-Kommen“ des Mannes als Vater<br />

deutlich unbelegt bleibt, ist auch der Blick auf die Verhältnisse bestenfalls<br />

anachronistisch: Während die Soziologie mit großer Mühe aber auch guten<br />

Ergebnissen versucht, den gesellschaftlichen Um/Brüchen theoretisch gerecht zu<br />

werden, nimmt der psychoanalytisch geschulte Blick noch ganz traditionelle<br />

Ordentlichkeiten bei den gesellschaftlichen Binde- und Zersetzungskräften Eigentum<br />

und Arbeit oder Macht und Geld als formalisierten und formenden biografischen<br />

Werdegängen wahr. Mag sich auch alles ändern, z.B. die bürgerliche Kleinfamilie, für<br />

die Psychoanalyse gibt es anthropologische Konstanten wie jene, dass der Knabe ab<br />

dem zweiten Lebensjahr eine Wahrnehmung entwickelt, die zu „einer<br />

Kerngeschlechtsidentität mit dem Bewusstsein, der Andere der Mutter zu sein“ führt<br />

(52). Was hier vom Feminismus gelernt wurde, beschränkt sich auf die Übernahme des<br />

generativen Terrains, das männlich besetzt wird. Der notwendige Erwerb vielfältiger


16<br />

männlicher Persönlichkeiten (vgl. Dialoge?) wird uns vorgelegt als Hinwendung zur<br />

Väterlichkeit und zum Vater-Sein, als auch zur Bindungsmöglichkeit.<br />

Vera King („Entwürfe von Männlichkeit in der Adoleszenz. Wandel und Kontinuitäten von<br />

Familien- und Berufsorientierungen“) liefert zunächst ein Referat über neuere<br />

Jugendstudien und resümiert die neuen Anforderungen an die männlichen<br />

Jugendlichen:<br />

„Konnte im konventionellen patriarchalen Bild von<br />

Autonomisierungsprozessen die Dialektik von Bindung und Autonomie<br />

noch geschlechterpolarisierend aufgespalten werden – für Bindung und<br />

Fürsorge waren Frauen als Mütter zuständig – so ergibt sich aus den<br />

Ansprüchen der weiblichen Jugendlichen, ihrerseits die Möglichkeiten<br />

eines eigenständigen Lebens und autonomer Gestaltungen zu haben,<br />

für männliche Jugendliche eine neue Notwendigkeit, die Dimensionen<br />

von Fürsorge und Bezogenheit in die Entwürfe von Männlichkeit zu<br />

integrieren.“ (98)<br />

Ist eine Dialektik aufspaltbar? „Ergibt“ sich etwas, wenn junge Frauen etwas wollen?<br />

Auch hier findet bloß die Vereinnahmung eines feministischen Terrains statt, ohne<br />

begründet zu werden: für Frauen war es in der Tat überlebensnotwendig im<br />

Theoretisierungsprozess das andere Geschlecht als notwendige Lebensbedingung<br />

mitzudenken. Nur so war die adäquate Abbildung gesellschaftlicher Verhältnisse in<br />

kritischer Absicht zu realisieren: Frauen hatten (haben?) den bürgerlichen Subjektstatus<br />

nicht erlangt. Eben diese Struktur auch für Männer – umgekehrt – zu denken entspringt<br />

einem Voluntarismus oder Moralismus aber nicht einer gesellschaftlichen Wirklichkeit.<br />

Junge Männer müssen keineswegs „Fürsorge und Bezogenheit“ als erweiterte<br />

Persönlichkeitsanteile erwerben, wenn Frauen die Autonomieseite für sich reklamieren.<br />

Um an die „Ressource Frau“ zu gelangen reichen die alten Persönlichkeitsstrukturen;<br />

um an die Ressource Erwerbsarbeit zu gelangen vielleicht nicht, wie die neueren<br />

Management-Konzepte von sich behaupten (und vielleicht so nur ihre brutalisierten<br />

Tätigkeiten bedecken). Der alte Fehler psychologischer und psycho<strong>analytischer</strong><br />

Betrachtungen – die gesellschaftlichen Bedingungen und die individuellen Bedingtheiten<br />

in die Überlegungen nicht einzuschließen – nimmt ihnen die Möglichkeit, sich realistisch<br />

oder wirkungsmächtig den Veränderungen zu stellen. Alles gerinnt zum Individualismus<br />

oder Voluntarismus. Auch in diesem Beitrag wird der Mann hauptsächlich als Vater<br />

oder eben Sohn vorgesehen:


17<br />

„Männliche Adoleszente, deren Vaterhunger ungestillt geblieben ist,<br />

werden eher zur Flucht in regressive Verarbeitungsformen und<br />

überkommene Männlichkeitsbilder neigen als jene, die an fürsorglichen<br />

Erfahrungen von Väterlichkeit anknüpfen und dadurch über<br />

entsprechende psychische Ressourcen für die adoleszenten<br />

Integrationsprozesse verfügen können.“ (107)<br />

So mechanistisch kann die Psychoanalyse ausgelegt werden. Jetzt, da die unbefleckte<br />

Empfängnis (Mathias Riechling) möglich wird, wird Vaterschaft zur Lösung stilisiert.<br />

Besonders problematisch ist – angesichts einer immer abstrakter werdenden<br />

Vergesellschaftung, teils durch Medialisierung, teils durch Flexibilisierung, teils durch die<br />

Entkörperlichung im öffentlichen Raum usw. (vgl. Sennett 1997 und 1998)-, dass auf<br />

unmittelbare Erfahrung rekurriert wird. Dem Wissen – vielleicht doch die Ressource der<br />

Veränderung, vielleicht die Möglichkeit, etwas in Gang zu setzen (vgl. Stehr 2000, 78 ff.)<br />

– wird keine Aufmerksamkeit geschenkt und dies obwohl alle Transformations- und<br />

Modernisierungstheorien mit ganz unterschiedlichen Argumenten dem Wissen einen<br />

neuen Status in den gesellschaftlichen Binde- und Zersetzungskräften zumessen, z.B.<br />

als stratifizierendes Phänomen, das die (humanistische) Bildung ersetzt.<br />

Die sogenannte Männlichkeitsforschung liest sich defensiv und in der Position, nicht<br />

eben neues Wissen hervorzubringen. Häufig stellt sich der <strong>Ein</strong>druck ein, dass die<br />

Bedeutung „des Mannes“ für gesellschaftliche und gattungsbezogene<br />

Reproduktionstätigkeiten erst noch bewiesen werden muss. Was den positiven <strong>Ein</strong>druck<br />

verstärkt, dass tatsächlich von einem Legitimationsproblem gesprochen werden kann,<br />

dem jedoch noch nicht mit ausreichender Analyse begegnet wird.<br />

Besonders jene Männerforschungen, die die Veränderung des Mannes<br />

im Auge haben „erzeugen ein Problem, dasjenige der Monotonie<br />

immer gleicher Befunde: Männer schließen sich in Männerbünden<br />

zusammen, exkludieren Frauen, stellen hierarchische Arrangements<br />

zwischen den Geschlechtern her, verursachen, bedienen und<br />

verstärken Geschlechterstereotypien. Der Verdacht liegt nahe, dass die<br />

Erzeugung und Wiederholung solcher Befunde wiederum als<br />

Stereotypen-Verstärker wirkt.“ (Pasero 2000, 154)<br />

RESÜME


18<br />

Wirtschaftlicher Wohlstand, die Entlassung aus ökonomischen Zwängen 6 , d.h. die<br />

mögliche Distanz zum „Reich der Notwendigkeit“ verändert, wie Bourdieu immer wieder<br />

gezeigt hat, Lebensstile: „Je mehr die objektive Distanz wächst, um so stärker wird der<br />

Lebensstil auch Ausfluß dessen, was Weber eine `Stilisierung` des Lebens nannte, das<br />

heißt eine systematische Konzeption, die die vielfältigsten Praktiken leitet und<br />

organisiert, die Wahl eines bestimmten Weins oder einer Käsesorte nicht minder als die<br />

Ausstattung eines Landhauses.“ (Bourdieu 1982, 103) Zu den feinen Unterschieden wird<br />

durch die „gender-studies“ und ihren kulturellen Übersetzungen jetzt die Vervielfältigung<br />

des Geschlechts gezählt werden können. So sympathisch die praktischen<br />

Ironisierungen und Infragestellungen der bipolaren Geschlechterordnung auch sind, ihre<br />

Kraft ähnelt für mich der des Landhausstils, der zwar das Landleben ironisiert, ihm aber<br />

nichts von seinen Traditionalismen und Borniertheiten nimmt.<br />

„Die Sphären der sozialstaatlichen Integration, der politischen<br />

Willensbildung und der privaten Lebensführung haben sich den<br />

Imperativen der ökonomischen Märkte wesentlich anpassen müssen“<br />

was bedeutet, „dass die moderne Gesellschaft heute eine `sukzessive<br />

Vermarktlichung` ihrer sozialen Lebensbereiche und ihrer wichtigsten<br />

Institutionen erfasst.“ (Neckel 2000, 21)<br />

Solche Verhältnisse und Tendenzen umfassend in ihren Vergeschlechtlichungen zu<br />

erforschen sowie die objektive Zerstörung von Geschlechterdifferenz, die parallel geführt<br />

wird mit der Errichtung neuer Herrschaftsverhältnisse sind ganz sicher Aufgaben des<br />

Augenblicks und der näheren Zukunft. Der „Report der Magd“ von Margaret Atwood<br />

(1987) ist eine konkret vorstellbare Dystopie: Frauen mit geringer Aus/Bildung werden<br />

für die „Resttätigkeit“ Gebären gesellschaftlich gehalten. Die Entscheidung für oder<br />

gegen reproduktive Tätigkeiten wird für Mädchen/Frauen ein Selektionsmerkmal beim<br />

Zugang zu den Aus/Bildungsressourcen. Diese andere Art von „Oben“ und „Unten“<br />

umfasst auch die zunehmende „weiße Sklaverei“ (Frauenhandel). Der vollkommenen<br />

individuellen Vermarktung zu entgehen, d.h. selbst zur Ware zu werden (d.h. ganz und<br />

6 „Nur noch vierzig Prozent aller <strong>Ein</strong>kommen in Deutschland werden gegenwärtig durch Arbeit erlangt,<br />

mangels Gelegenheit infolge anhaltender Arbeitslosigkeit, aber auch mangels Ertrag, weil die<br />

moderne Ökonomie den Wert der Arbeit vor allem im unteren und mittleren Segment nachhaltig<br />

verarmen lässt. ... Gewinne und Vermögenserträge machen heute bereits ein Drittel aller <strong>Ein</strong>kommen<br />

in Deutschland aus, konzentriert im oberen Fünftel der Sozialstruktur und bei den fest etablierten<br />

Mittelklassen, die ihren Lebensstandard zunehmend eigenen Guthaben, Sachwerten und schließlich<br />

Erbschaften verdanken.“ (Neckel 2000, 21)


19<br />

gar und nicht zur „Ware Arbeitskraft“) ist kein Menschenrecht mehr, sondern zählt zu<br />

den „Leistungs- und Erfolgskriterien“, nach denen Menschen sortiert werden.<br />

Feministische Wissenschaft, in ihrer produktiven Parteilichkeit, wird wohl unumgänglich<br />

bleiben, wenn der Anspruch auf eine kritische Aufklärung lebendig bleiben soll.<br />

Literaturliste:<br />

Armbruster, Christoph /Ursula Müller/Marlene Stein-Hilbers (Hg.): Neue Horizonte?<br />

Sozialwissenschaftliche Forschung über Geschlechter und<br />

Geschlechterverhältnisse. Opladen 1995<br />

Atwood, Margaret: Der Report der Magd. Detusch von Helga Pfetsch. Düsseldorf 1987<br />

Baumann, Jochen: Wertkritik in der Postmoderne. In: jour-fixe-initiative (Hg.) a.a.O. (S.<br />

30-52)<br />

Bosse, Hans u. Vera King (Hg.): Männlichkeitsentwürfe. Wandlungen und Widerstände<br />

im Geschlechterverhältnis. Frankfurt/M. 2000<br />

Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.<br />

Frankfurt/M. 1982<br />

Bruns, Gabriele: Das verstaubte lila Gewand. Oder: Warum sich der Feminismus in<br />

Deutschland modernisieren muss. In: Frankfurter Rundschau Nr. 293, 16. 12.00,<br />

S 6<br />

Connell, Robert: Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten. Aus<br />

dem Englischen von Christian Stahl. Opladen 1999<br />

Derrida, Jacques: Marx` Gespenster. Frankfurt/M. 1995<br />

Faludi, Susan: Stiffed. The Betrayal of Modern Man. London 2000<br />

Fuhrig, Dirk: Michel Houellebecq über Swingerclubs, den Sex, den Tod und über die<br />

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jour-fixe-initiative berlin (Hg.): Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Hamburg 1999<br />

Hagemann-White, Carol u. Maria S. Rerrich (Hg.) FrauenMännerBilder. Männer und<br />

Männlichkeit in der feministischen Diskussion. Bielefeld 1988<br />

Haug, Frigga und Kornelia Hauser (Hg.). Die andere Angst. Hamburg 1991<br />

Hauser, Kornelia: Vom subjektlosen Geschlecht und geschlechtslosen Persönlichkeiten.<br />

In: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Heft 11. 43. Jahrgang. 1996<br />

Heise, Waltraud: Feministische Soziologie: am ende des Jahrhunderts – ein<br />

ambivalenter Ausgangspunkt fü4r feministische Wissenschaft. In: Soziologie<br />

2000. Soziologische Revue. Sonderheft 5. München 2000


20<br />

Houellebecq, Michel: Elementarteilchen. Köln 1999<br />

Der.: Ausweitung der Kampfzone. Reinbek 2000<br />

Janshen, Doris (Hg.) Blickwechsel. Der neue Dialog zwischen Frauen- und<br />

Männerforschung. Frankfurt /M. 2000<br />

Mattheiss, Uwe: Vater und Klon. Süddeutsche Zeitung Nr. 202,2./3. September 2000<br />

Münker, Stefan u. Alexander Roesler: Poststrukturalismus. Stuttgart u. Weimar 2000<br />

Neckel, Sieghard: Leistung versus Erfolg. Der Zufall von Reichtum und Ruhm - Zur<br />

symbolischen Ordnung der Marktgesellschaft. In: Süddeutsche Zeitung, 7. 10.<br />

2000, Nr. 233<br />

Noll, Monika: „Radikalisierung des Marxismus.“ In: jour-fix-initiative a.a.O. (s. 108-120)<br />

Pasero, Ursula: Gendering Gender Studies: Forschungen und Essays über Männer. In:<br />

Soziologische Revue, Heft 2, April 2000, Jg. 23 (S. 153-161)<br />

Reich, Jens: Menschenzüchtung? Gegenwart und Zukunft der Anthropotechnik. In:<br />

Blätter für deutsche und internationale Politik 11/99 Bonn (S. 1353-1364)<br />

Sennett, Richard: Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen<br />

Zivilisation. Frankfurt/M. 1997<br />

Ders.: Der flexible Menschen. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998<br />

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Ressentiment wieder zu seinem Recht. In: Freitag Nr. 50, Berlin. 8. Dezember<br />

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Sloderdijk, Peter: Regeln für den Menschenpark. <strong>Ein</strong> Antwortschreiben zum Brief über<br />

den Humanismus. http:/rightleft.net/html/elmau.html<br />

Smith, Dorothy E. <strong>Ein</strong>e Soziologie für Frauen. In: List, Elisabeth und Herlinde Studer:<br />

Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik. Frankfurt/M. 1989<br />

Stäheli, Urs: Poststrukturalistische Soziologien. Bielefeld 2000<br />

Stehr, Nico: Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften. Die Stagnation der Macht<br />

und die Chancen des Individuums. Weilerswist 2000

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