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Geschichte des Christentums ist die Geschichte vom Bemühen und Scheitern beim Versuch, „diese drei Dinge zu harmonisieren“. Christliche Liebe ist darum von dreifacher Unvollkommenheit gekennzeichnet, die aus der notwendigen Unfähigkeit des Christentums folgt, spannungsvolle Beziehungen (Liebe) zwischen Ich und Nicht-Ich zu denken und zu organisieren: Das Ideal der christlichen Liebe ist ein Hirngespinst, weil es dem Menschen nicht gerecht wird; es verkannte ihn gleich dreifach und entstellte ihn. Es leugnete 1. „das Ich oder die menschliche Freiheit, die gestrichen wurde; den notwendigen und heiligen Egoismus, der verachtet wurde …; 2. Das Ich oder die menschliche Freiheit, die direkt zu Gott hingewendet wurde …; 3. Das Nicht-Ich oder Meinesgleichen, verachtet selbst in der Nächstenliebe, der nur scheinbar und in einer Art Fiktion – eben nur um Gottes willen – geliebt wird; denn Gott ist die einzige Liebe des Christen.“ Es ist nun die neue Philosophie, die die Widersprüche des Christentums hinter sich läßt und „die wahre Formel der Nächstenliebe oder die der gegenseitigen Solidarität bildet: ‚Liebt Gott in euch und in den andern‘; das bedeutet ‚Liebt euch (durch Gott) in den andern‘, oder ‚Liebt die andern (durch Gott) in euch‘.“ Gott entfällt für die liebende Hinwendung zum Nächsten. Dreigliedrigkeit verdeutlicht sich zur Bipolarität. Solidarität kann also schließlich in die Tat umg e- setzt werden: „Mit dem Prinzip der gegenseitigen Solidarität ist die gegenwärtige Gesellschaft befähigt, Nächstenliebe zu organisieren; denn Nächstenliebe ist im Grunde Selbstsucht. So hat die Gesellschaft von heute endlich ein religiöses Prinzip. Die Kirche kann aufhören zu bestehen.“ Aus solchen Wurzeln wächst dann die nicht-christliche Bedeutungsgeschichte der Solidarität. Als politischer Begriff verbreitet sich etwa in Deutschland Solidarität im Anschluß an Ferdinand Lassalle (†1864) und Friedrich Engels (†1895) mit dessen Erfahrung der Pariser Kommune. Solidarität meint als sozialistische Vokabel dann die Verpflichtung aller gegenüber allen. Gegen die kapitalistische freie Konkurrenz des „Jeder für sich!“ stellt Solidarität die Arbeiterverbrüderung und den Imperativ „Jeder für alle!“. Solidarität bekommt in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung höchste Popularität. Sie gilt als „der höchste Kultur- und Moralbegriff; ihn voll zu verwirklichen, das ist die Aufgabe des Sozialis mus“ (Wilhelm Liebknecht, †1900). Dabei behält der Begriff seine kämpferische und antichristliche Stoßkraft. Kurt Eisner (†1919) etwa formuliert: „Nein, nichts mehr von Liebe, Mitleid und Barmherzigkeit. Das kalte, stahlharte Wort Solidarität aber ist in dem Ofen des wissenschaftlichen Denkens geglüht.“ Zweifellos stehen die atheistisch-sozialistischen Wurzeln der Bedeutung von Solidarität heute kaum noch jemandem vor Augen. Gleichzeitig ist die Tatsache festzuhalten, daß offenbar heute im gesellschaftlichen Diskurs kein Prinzip und keine Idee eine stärkere Kraft auf wohlwollende Menschen ausübt als die These, daß alle für einander einzustehen haben. Gegen diesen Imperativ kommt anscheinend kein anderes der große normgebundenen Prinzipien des sozialen Rechts an – weder das Prinzip der Gleichheit noch das der Freiheit. 8

Hier liegt wohl auch über die Verweise auf Solidarnosc und auf Charles Péguy hinaus der Grund für die Beliebtheit dieses Begriffs in der kirchlichen Sprache. Er fasziniert, weil Solidarität das Engagement aller im gemeinsamen Kampf gegen Unrecht und für Gerechtigkeit verspricht. Grenzen Leider wird jedoch bei gründlicherem Nachdenken die Verzauberung durch ihn der Ernüchterung weichen. Schon bei seinem Aufkommen in Deutschland wurde gefragt, welche Kräfte denn der Idee der Verbrüderung und der Solidarität aller die erhoffte Effizienz verliehen. Johann Gottlieb Fichte (†1814) richtete seinen Appell an die Staatsträger, sie müßten die Solidarität von ihren Bürgern einfordern; er zweifelte also offenbar daran, daß sie ein „Selbstläufer“ wäre. Auch in unseren Tagen gibt der Philosoph Jürgen Habermas zu bedenken, daß eine Solidarisierung mit anderen Personen und ihren Zielen nur möglich ist, wenn jene sich für diese Ziele auch selbst einsetzen. So möchte es sein, daß das Vertrauen in die Solidarität sich aus einem Idealismus speist, der die Natur des Menschen wie die Lehren der Geschichte mit rosaroter Brille liest. Sind nicht oft genug die hehren Gefühle verflogen, wenn die Last des grauen Alltags drückte? Solcher Argwohn straft den im Begriff steckenden Wahrheitsgehalt nicht Lügen, gießt aber doch nicht wenige Wermutstropfen in den berauschenden Trank. Und sie nötigt endlich dazu, den von Pierre Lerou eliminierten Begriff wieder ins Licht zu rücken: Charité. Ihn neu herauszustellen, muß zunächst festhalten, daß in manchen Aussagen zur jüngsten Geschichte Polens und zu den Appellen Péguys statt Solidarität durchaus der Begriff charité hätte gebraucht werden können. Die Überschneidung beider Begriffe lag ja auf der Hand. Und der Elan, den der Begriff Solidarität offenbar in sich trägt, macht auch seine zunehmende Verwendung in kirchlichen Dokumenten jüngster Vergangenheit verständlich. Dennoch darf ein fundamentaler Unterschied zwischen beiden Begriffen nicht verwischt werden: Solidarität wurde von einem Boden hervorgebracht, der Welt und Menschen empirisch-zweidimensional deutet; er anerkennt nur das Greifbare als relevant. Charité aber sollte im Licht von Offenbarung und Glaube gelesen werden; dieser Kontext hält dann neue Einsichten bereit, die von der Soziallehre der Kirche zu beachten sind. Recht und Liebe Die christliche Botschaft sprengt zunächst die Vorstellung von Gerechtigkeit, die mit dem Begriff solidarité angezielt wird. Vom römischen Recht her wurde Gerechtigkeit verstanden als „voluntas ius suum unicuique tribuendi – der Wille, jedem sein Recht zuzuteilen“. Sie lag also umfassend im Wollen und Wirken des Menschen. Anders versteht schon das Alte Testament die Gerechtigkeit. Es enthält für die Schaffung eines gerechten Miteinanders im auserwählten Volk starke Hinweise auf die Intervention Jahwes. Er verpflichtet sich, daß sich Gerechtigkeit in den Sozialbeziehungen durchsetzt. Er fordert gerechten Lohn und unparteiische Rechtsprechung (vgl. Exod 23.1 ff). 9

Geschichte des Christentums ist die Geschichte vom Bemühen <strong>und</strong> Scheitern<br />

beim Versuch, „diese drei Dinge zu harmonisieren“.<br />

Christliche Liebe ist darum von dreifacher Unvollkommenheit gekennzeichnet,<br />

die aus der notwendigen Unfähigkeit des Christentums folgt, spannungsvolle<br />

Beziehungen (Liebe) zwischen Ich <strong>und</strong> Nicht-Ich zu denken <strong>und</strong> zu organisieren:<br />

Das Ideal der christlichen Liebe ist ein Hirngespinst, weil es dem Menschen<br />

nicht gerecht wird; es verkannte ihn gleich dreifach <strong>und</strong> entstellte ihn. Es leugnete<br />

1. „das Ich oder die menschliche Freiheit, die gestrichen wurde; den notwendigen<br />

<strong>und</strong> heiligen Egoismus, der verachtet wurde …; 2. Das Ich oder die<br />

menschliche Freiheit, die direkt zu Gott hingewendet wurde …; 3. Das Nicht-Ich<br />

oder Meinesgleichen, verachtet selbst in der Nächstenliebe, der nur scheinbar<br />

<strong>und</strong> in einer Art Fiktion – eben nur um Gottes willen – geliebt wird; denn Gott<br />

ist die einzige Liebe des Christen.“<br />

Es ist nun die neue Philosophie, die die Widersprüche des Christentums hinter<br />

sich läßt <strong>und</strong> „die wahre Formel der Nächstenliebe oder die der gegenseitigen<br />

Solidarität bildet: ‚Liebt Gott in euch <strong>und</strong> in den andern‘; das bedeutet ‚Liebt<br />

euch (durch Gott) in den andern‘, oder ‚Liebt die andern (durch Gott) in euch‘.“<br />

Gott entfällt für die liebende Hinwendung zum Nächsten. Dreigliedrigkeit verdeutlicht<br />

sich zur Bipolarität. Solidarität kann <strong>als</strong>o schließlich in die Tat umg e-<br />

setzt werden: „Mit dem Prinzip der gegenseitigen Solidarität ist die gegenwärtige<br />

Gesellschaft befähigt, Nächstenliebe zu organisieren; denn Nächstenliebe ist im<br />

Gr<strong>und</strong>e Selbstsucht. So hat die Gesellschaft von heute endlich ein religiöses<br />

Prinzip. Die Kirche kann aufhören zu bestehen.“<br />

Aus solchen Wurzeln wächst dann die nicht-christliche Bedeutungsgeschichte<br />

der Solidarität. Als politischer Begriff verbreitet sich etwa in Deutschland Solidarität<br />

im Anschluß an Ferdinand Lassalle (†1864) <strong>und</strong> Friedrich Engels<br />

(†1895) mit dessen Erfahrung der Pariser Kommune. Solidarität meint <strong>als</strong> sozialistische<br />

Vokabel dann die Verpflichtung aller gegenüber allen. Gegen die kapitalistische<br />

freie Konkurrenz des „Jeder für sich!“ stellt Solidarität die Arbeiterverbrüderung<br />

<strong>und</strong> den Imperativ „Jeder für alle!“. Solidarität bekommt in der<br />

Arbeiter- <strong>und</strong> Gewerkschaftsbewegung höchste Popularität. Sie gilt <strong>als</strong> „der<br />

höchste Kultur- <strong>und</strong> Moralbegriff; ihn voll zu verwirklichen, das ist die Aufgabe<br />

des Sozialis mus“ (Wilhelm Liebknecht, †1900). Dabei behält der Begriff seine<br />

kämpferische <strong>und</strong> antichristliche Stoßkraft. Kurt Eisner (†1919) etwa formuliert:<br />

„Nein, nichts mehr von Liebe, Mitleid <strong>und</strong> Barmherzigkeit. Das kalte, stahlharte<br />

Wort Solidarität aber ist in dem Ofen des wissenschaftlichen Denkens geglüht.“<br />

Zweifellos stehen die atheistisch-sozialistischen Wurzeln der Bedeutung von<br />

Solidarität heute kaum noch jemandem vor Augen. Gleichzeitig ist die Tatsache<br />

festzuhalten, daß offenbar heute im gesellschaftlichen Diskurs kein Prinzip <strong>und</strong><br />

keine Idee eine stärkere Kraft auf wohlwollende Menschen ausübt <strong>als</strong> die These,<br />

daß alle für einander einzustehen haben. Gegen diesen Imperativ kommt anscheinend<br />

kein anderes der große normgeb<strong>und</strong>enen Prinzipien des sozialen<br />

Rechts an – weder das Prinzip der Gleichheit noch das der Freiheit.<br />

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