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Christoph Böhr<br />
Europäisch denken<br />
Christliche Prägung <strong>und</strong> universaler Anspruch*<br />
Es ist nicht leicht, eine überzeugende Antwort auf die Frage zu finden, was wir,<br />
bei Licht betrachtet, meinen, wenn wir von Europa sprechen. Was ist Europa?<br />
Ein Kontinent, den wir geographisch eingrenzen können? Wohl kaum, denn eine<br />
geographische Bestimmung läßt sich nicht finden. Ist Europa <strong>als</strong>o ein eher kulturell<br />
zu fassender Begriff? Auch <strong>hier</strong> wird die Antwort eher abschlägig ausfallen.<br />
Europa bestimmt sich seit je vorrangig über die Vielfalt kultureller Strömungen<br />
<strong>und</strong> Einflüsse, auch wenn diese scheinbar immer wieder zu einer Einheit verschmelzen.<br />
Aber kann man in diesem Zusammenhang wirklich von einer Einheit<br />
sprechen? Denn bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß die europäische Kultur<br />
eine polyzentrische Struktur aufweist, die zumindest drei Kulturkreise, nämlich<br />
Rom, Byzanz <strong>und</strong> Moskau umfaßt. So wenig wie die geographische <strong>und</strong> die<br />
kulturelle Bestimmung taugt auch der Versuch, Europa geopolitisch abzugrenzen.<br />
Was <strong>als</strong>o ist Europa?<br />
Europäisch nennt man ein bestimmtes Denken, genauer gesagt, eine Weise, wie<br />
der Mensch sich selbst versteht <strong>und</strong> zu sich selbst in ein Verhältnis tritt. Es ist<br />
<strong>als</strong>o das Menschenbild, das offensichtlich den entscheidenden Bezugspunkt für<br />
die Bestimmung des Begriffes bietet. Dieses Menschenbild wird aus vielfältigen<br />
Quellen gespeist. Besonders die griechischen, jüdischen <strong>und</strong> hellenistischen<br />
Einflüsse haben dieses Menschenbild geprägt. Aber entscheidend geformt wurde<br />
es schließlich durch das Christentum. Keine andere Prägung war ähnlich bestimmend<br />
wie die christliche. So wichtig <strong>und</strong> bedeutsam auch andere Quellen<br />
sind, keine hat das europäische Denken so gespeist wie die christliche. So kann<br />
man mit Fug <strong>und</strong> Recht sagen: Das europäische Menschenbild ist das christliche<br />
Menschenbild – <strong>und</strong> umgekehrt: Das christliche Menschenbild ist das europäische<br />
Menschenbild.<br />
An der Wiege dieses Menschenbildes steht, weit in vorchristlicher Zeit, eine<br />
Persönlichkeit, deren Erbe bis heute lebendig geblieben ist: Sokrates. Er hat<br />
gelehrt <strong>und</strong> gelebt, daß der Mensch immer unter dem Anruf seines Gewissens<br />
steht. In der Stimme seines Gewissens, die alle Nebengeräusche übertönt, offenbart<br />
sich dem Menschen seine Teilhabe am Göttlichen. Indem der Mensch sein<br />
Gewissen entdeckt, lernt er sich selbst zu verstehen <strong>als</strong> Bürger, der zwei Welten<br />
angehört: der sinnlichen <strong>und</strong> der geistigen, der natürlichen <strong>und</strong> der übernatürlichen<br />
Welt. Diese doppelte Staatsbürgerschaft erhebt den Menschen über alle<br />
anderen Geschöpfe. Indem der Mensch sich selbst zu verstehen lernt, kann er<br />
seine Stellung in der Welt bestimmen. Er lernt, zwischen Meinung <strong>und</strong> Wahrheit<br />
zu unterscheiden. Jenseits der Offenbarungen des Judentums <strong>und</strong> lange, bevor<br />
das Christentum entsteht, beginnt der Mensch zu begreifen, was ihn über die<br />
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