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DIE NEUE<br />

ORDNUNG<br />

begründet von Laurentius Siemer OP<br />

<strong>und</strong> Eberhard Welty OP<br />

Nr. 1/2006 Februar 60. Jahrgang<br />

Editorial<br />

Wolfgang Ockenfels,<br />

Unternehmer unter Ganoven?<br />

Paul Josef Cordes, Solidarität oder Nächstenliebe?<br />

Komplementäres <strong>und</strong> Distinktives<br />

Christoph Böhr, Europäisch denken. Chris t-<br />

liche Prägung <strong>und</strong> universaler Anspruch<br />

Otto W.B. Schult, Europäische Union – quo<br />

vadis? Zeiträume <strong>und</strong> Grenzen<br />

Otmar Oehring, Die Türkei – auf dem Weg<br />

wohin?<br />

Franz-Josef Bormann, Kann Folter erlaubt<br />

sein? Moraltheologische Überlegungen<br />

Bericht <strong>und</strong> Gespräch<br />

Heinrich Basilius Streithofen, Streit um die<br />

Bibel. Zum Rückzug der EKD<br />

Harald Bergsdorf, (Selbst-)Entmachtung des<br />

Wählers. Zur B<strong>und</strong>estagswahl 2005<br />

Stefan Hartmann, Neubelebung des Thomismus.<br />

Literaturbericht zu David Berger<br />

Besprechungen<br />

2<br />

4<br />

14<br />

20<br />

32<br />

43<br />

56<br />

63<br />

68<br />

72<br />

Herausgeber:<br />

Institut für<br />

Gesellschaftswissenschaften<br />

Walberberg e.V.<br />

Redaktion:<br />

Wolfgang Ockenfels OP (verantw.)<br />

Heinrich Basilius Streithofen OP<br />

Bernd Kettern<br />

Redaktionsbeirat:<br />

Stefan Heid<br />

Martin Lohmann<br />

Edgar Nawroth OP<br />

Herbert B. Schmidt<br />

Günter Triesch<br />

Rüdiger von Voss<br />

Redaktionsassistenz:<br />

Andrea <strong>und</strong> Hildegard Schramm<br />

Druck <strong>und</strong> Vertrieb:<br />

Verlag Franz Schmitt, Postf. 1831<br />

53708 Siegburg<br />

Tel.: 02241/64039 – Fax: 53891<br />

Die Neue Ordnung erscheint alle<br />

2 Monate<br />

Bezug direkt vom Institut<br />

oder durch alle Buchhandlungen<br />

Jahresabonnement: 25,- €<br />

Einzelheft 5,- €<br />

zzgl. Versandkosten<br />

ISSN 09 32 – 76 65<br />

Bankverbindungen:<br />

Sparkasse Bonn<br />

Konto-Nr.: 11704533<br />

(BLZ 380 500 00)<br />

Postbank Köln<br />

Konto-Nr.: 13104 505<br />

(BLZ 370 100 50)<br />

Anschrift der<br />

Redaktion <strong>und</strong> des Instituts:<br />

Simrockstr. 19<br />

53113 Bonn<br />

Tel. + Fax Redaktion: 0228/222323<br />

Tel. Institut: 0228/21 68 52<br />

Fax Institut: 0228/22 02 44<br />

Unverlangt eingesandte Manuskripte <strong>und</strong><br />

Bücher werden nicht zurückgesandt.<br />

Verlag <strong>und</strong> Redaktion übernehmen keine<br />

Haftung<br />

Namentlich gekennzeichnete Artikel<br />

geben nicht unbedingt<br />

die Meinung der Redaktion wieder.<br />

Nachdruck, elektronische oder photomechanische<br />

Vervielfältigung nur mit<br />

Genehmigung der Redaktion<br />

http://www.die-neue-ordnung.de<br />

1


Editorial<br />

Unternehmer unter Ganoven?<br />

Für viele Arbeitslose <strong>und</strong> Rentenempfänger bewahrheitet sich der Satz von Walter<br />

Rathenau „Die Wirtschaft ist unser Schicksal“ auf verhängnisvolle Weise.<br />

Doch die Macht dieses Schicks<strong>als</strong> wird immer weniger <strong>als</strong> ein anonymes Strukturproblem<br />

wahrgenommen <strong>und</strong> diskutiert. Vielmehr trägt sie das Gesicht eines<br />

Unternehmens oder - noch einfacher, greifbarer <strong>und</strong> angreifbarer: den Namen<br />

eines Unternehmers. In seiner Person scheint sich die ökonomische Macht zu<br />

konzentrieren. Und an ihn richten sich zunehmend moralische Anforderungen,<br />

die ihn leicht überfordern.<br />

Dies ist inzwischen immer mehr zum Thema einer Ethik geworden, die nicht nur<br />

die sozialen Ordnungsbedingungen <strong>und</strong> Anreizsysteme der Wirtschaft reflektiert<br />

<strong>und</strong> zu gestalten versucht. Die Sozialethik wird sich vielmehr verstärkt mit der<br />

Entfaltung einer Bereichs- <strong>und</strong> Berufsethik einlassen müssen, der es besonders<br />

um die sittliche Prägung <strong>und</strong> die sozial-moralische Verantwortung von konkreten<br />

Personen geht. Denn die schönsten Systemkonstrukte brechen zusammen, wenn<br />

deren Subjekte korrupt <strong>und</strong> maßlos egoistisch sind.<br />

Ohne gemeinwohlbewußte, engagierte Demokraten gibt es keine Demokratie.<br />

Und ohne leistungsbereite, unternehmerische Entscheidungs- <strong>und</strong> Verantwortungsträger<br />

wird eine Marktwirtschaft nicht funktionieren. Daß die menschliche<br />

Natur seit dem Sündenfall durch egoistische Begehrlichkeiten <strong>und</strong> Laster geschwächt<br />

ist, war den christlichen Erfindern der Sozialen Marktwirtschaft bewußt.<br />

Sie konnten deshalb keine Ordnung anstreben, die erst dann funktioniert,<br />

wenn ihre personalen Subjekte völlig von den eigenen Interessen absehen <strong>und</strong><br />

nur tugendhaft leben. Auf dem schwachen Gerüst verschleißbarer Moral läßt sich<br />

keine stabile Wirtschaftsordnung aufbauen. Bekanntlich funktioniert der Leistungswettbewerb<br />

sogar unter Räuberbanden, <strong>und</strong> nach Angebot <strong>und</strong> Nachfrage<br />

verfährt auch der Sklavenmarkt bis heute erfolgreich. Vorausgesetzt, die Beteiligten<br />

halten sich an Regeln einer Minimalmoral.<br />

Zum gesicherten Bestand der Ganovenehre gehört die Einsicht, daß gerade wegen<br />

der Knappheit moralischer Ressourcen diese besonders zu pflegen sind. Die<br />

Opfer werden natürlich nicht gefragt, sie sind eben die Verlierer. Aber unter<br />

Ganoven, die ihren Interessen rücksichtslos nachgehen, setzt sich irgendwann die<br />

Erkenntnis durch, daß sie langfristig nur dann zu den Gewinnern gehören, wenn<br />

sie ihre Interessenwahrnehmung einigermaßen zügeln. Ist der moralische Grenznutzen<br />

erreicht, wird es Zeit, sich auf neue Regeln <strong>und</strong> Sanktionen zu einigen.<br />

Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht über neue Fälle von Korruption, Bilanzfälschung<br />

(„kreative Buchführung“), Betrug, Vertragsbruch, Diebstahl etc. berichtet<br />

wird. „Vergammelte Speisen zu überhöhten Preisen sind zurückzuweisen“, heißt<br />

es in einem lustigen, weil schwachsinnigen Schlagertext. Auf dem Podest der<br />

stets empörungsbereiten öffentlichen Aufmerksamkeit steht – neben Politikern –<br />

2


die Figur des Unternehmers (<strong>als</strong> Manager, Eigentümer <strong>und</strong> Arbeitgeber). Zunehmend<br />

verhärtet sich das Vorurteil, ein moralischer Unternehmer sei wie ein<br />

hölzernes Eisen, eine contradictio in adjecto. Dabei gerät er in den Schatten<br />

eines Ganoventums, das sich nicht einmal der entsprechenden „Ehre“ rühmen<br />

darf.<br />

Einem Unternehmer spricht man eher eine rücksichtslose, nicht von moralischen<br />

Skrupeln geplagte Persönlichkeit zu, eine Wolfsnatur, die sich im Dschungel des<br />

Wettbewerbs behaupten muß <strong>und</strong> deren vorherrschendes Organ der Ellenbogen<br />

ist. Auch das Erfolgsstreben nach Marktbeherrschung <strong>und</strong> die zunehmende Härte<br />

im globalen Wettbewerb zählen zum Repertoire der Kritik. Die Moralkritik ist zu<br />

einer gefährlichen Waffe geworden, mit der man Konkurrenten erledigen kann.<br />

Im Visier des Verdachtes, meist unmoralisch zu handeln, stehen „die da oben“,<br />

die vermeintlich Reichen <strong>und</strong> Mächtigen. Daraus leiten „die da unten“ die Berechtigung<br />

ab, es ihnen gleichzutun. Frei nach Schiller: Der brave Mann denkt an<br />

sich, selbst zuletzt.<br />

Das öffentlich reproduzierte Unternehmerbild spiegelt nicht selten ein Zerrbild<br />

von Habgier <strong>und</strong> Profitsucht, von Laster <strong>und</strong> Korruption. Die entsprechenden<br />

Skandale schädigen das moralische Ansehen des Managements wie das Vertrauen<br />

in „die Wirtschaft“ überhaupt. Darüber hinaus werden Unternehmer für alles<br />

mögliche verantwortlich gemacht, für die Arbeitslosigkeit, die Umweltverschmutzung<br />

<strong>und</strong> sogar für das Elend der Dritten Welt. Die moralisierende, von<br />

Sachkenntnis oft ungetrübte Kritik entspringt meist einer partikulären Gruppenmoral,<br />

die mit rigorosen Forderungen <strong>und</strong> Anklagen auftritt.<br />

Allerdings ist der Unternehmer nicht der autonome Macher der Wirtschaft, für<br />

den er vielfach gehalten wird. Er ist abhängig von naturalen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Vorgegebenheiten, von Angebot <strong>und</strong> Nachfrage im globalen Markt, von nationalen<br />

<strong>und</strong> internationalen Konkurrenten, Lieferanten, Kapitalgebern <strong>und</strong> Banken,<br />

von Mitarbeitern, Betriebsräten <strong>und</strong> Gewerkschaften, von der technischen Entwicklung<br />

- <strong>und</strong> nicht zuletzt vom Staat <strong>und</strong> den übernationalen Instanzen, die<br />

nicht selten massiv intervenieren.<br />

Die Moralkritik ist nicht nur negativ zu bewerten, denn sie bietet den Kritisierten<br />

die Chance, sich öffentlich zu rechtfertigen für das, was sie tun <strong>und</strong> lassen, nach<br />

welchen Wertmaßstäben sie sinnvoll handeln - innerhalb einer Wirtschaftsordnung,<br />

deren moralische <strong>und</strong> rechtliche Regeln sie selber mitbestimmen können.<br />

Mit der Ausflucht in die Ausdehnung <strong>und</strong> Verschärfung des Strafrechts ist es<br />

nicht getan. Sie kommt allen teuer zu stehen. Billiger, d.h. gerechter wäre eine<br />

Besinnung auf die Zehn Gebote. Und auf die klassischen Tugenden. Diese gelten<br />

für Unternehmer wie für alle, die nicht <strong>als</strong> Ganoven gelten wollen.<br />

Moral ist nicht immer gratis zu haben. Sie kostet oft Selbstüberwindung <strong>und</strong><br />

Zeit, manchmal auch Geld. Sie ist ein Zeichen von Souveränität <strong>und</strong> Stärke <strong>und</strong><br />

unterstreicht die Glaubwürdigkeit des Unternehmers. Diese Investition in das<br />

Vertrauenskapital eines Unternehmens zahlt sich - nicht zuletzt - in seinem wirtschaftlichen<br />

Erfolg aus.<br />

Wolfgang Ockenfels<br />

3


Paul Josef Cordes<br />

Solidarität oder Nächstenliebe?<br />

Komplementäres <strong>und</strong> Distinktives<br />

Im vergangenen Oktober beriet die Bischofssynode in Rom über das Thema „Die<br />

Eucharistie: Quelle <strong>und</strong> Höhepunkt des Lebens <strong>und</strong> der Sendung der Kirche“. Da<br />

das umfassende Abschlußdokument eine längere Zeit der Beratungen nötig<br />

macht <strong>und</strong> vom Papst selbst verantwortet wird, verfaßten die Synodenväter noch<br />

während der Zusammenkunft wieder einen kurzen Text; er wollte eine unmittelbare<br />

Antwort auf das öffentliche Interesse der Synode sein <strong>und</strong> soll verhindern,<br />

daß die Teilnehmer mit leeren Händen in die Diözesen zurückkehren. Er nennt<br />

sich Nuntius, wird von einer Redaktionsgruppe der Bischöfe rasch formuliert <strong>und</strong><br />

dann vom Plenum gebilligt. Er will ein authentischer Spiegel der erfahrenen<br />

Brüderlichkeit <strong>und</strong> des pastoralen Ringens sein.<br />

Beliebtheit des Begriffs „Solidarität“<br />

In der Einleitung dieser „Botschaft“ taucht gleich dreimal der Begriff „Solidarität“<br />

(Nr. 4 <strong>und</strong> 5) auf; auch anschließend wird er nochm<strong>als</strong> aufgenommen (Nr.<br />

13). Solche Häufung macht aufmerksam. Indessen verw<strong>und</strong>ert seine Herausstellung<br />

den nicht, der weitere offizielle kirchliche Stellungnahmen jüngeren Datums<br />

befragt. So gibt es im „Katechismus der Katholischen Kirche“ von 1992 23<br />

Stellen, ihn zu erläutern, <strong>und</strong> im „Kompendium der kirchlichen Soziallehre“ von<br />

2005 sind es gar 63 Hinweise. Vergleicht man nun allerdings diese Kumulation<br />

seiner Verwendung mit den Akten des Vaticanum II, so findet man in einer Konkordanz<br />

der zahlreichen <strong>und</strong> oft langen Beschlußtexte nur 9 Verweise. Weiter<br />

läßt sich feststellen, daß seine lateinische Version (solidarietas) in vorkonziliaren<br />

kirchlichen Verlautbarungen überhaupt fehlt, <strong>und</strong> daß sich auch das „Dictionaire<br />

de théologie catholique“ sogar ablehnend gegenüber seinem Gebrauch<br />

äußert: die soziale Solidarität sei der christlichen Liebe systematisch entgegengesetzt.<br />

Angesichts der Karriere des Wortes „Solidarität“ fragt sich der Beobachter, welche<br />

Gründe es so populär gemacht haben mögen. Natürlich kann ich den semantischen<br />

Prozeß nicht empirisch bestimmen wie man eine chemische Formel oder<br />

die Schwingungen eines Tones sichert. Ich will dazu nur einen Versuch beisteuern,<br />

der skizzenhaft bleibt <strong>und</strong> eher Zufälliges herausgreift.<br />

Solidarnosc<br />

Zunächst möchte ich an eine politische Bewegung in Polen erinnern, deren Zeitzeugen<br />

wir teilweise waren. Am 14. August 1980 kam es in Danzig auf der<br />

Schiffswerft zum Streik; 17.000 Arbeiter schlossen sich zur Gewerkschaft Soli-<br />

4


darnosc zusammen. Sie forderten von den kommunistischen Machthabern die<br />

Beachtung der Menschenwürde <strong>und</strong> gaben ihrer Sehnsucht nach Freiheit Ausdruck.<br />

Sie vollzogen gleichzeitig Brückenschläge der Arbeiterschaft zur Kirche:<br />

das Bild der Gottesmutter von Tschenstochau ging <strong>als</strong> Emblem des Protests um<br />

die ganze Welt; Gedenkkreuze wurden aufgestellt; täglich feierten die Streikenden<br />

die Hl. Messe.<br />

Papst Johannes Paul II. ermutigte von Rom aus die Arbeiter <strong>und</strong> forderte am<br />

20.8. den polnischen Episkopat zur Identifikation mit ihnen auf. Die polnische<br />

Intelligentzia schloß sich den Aufständischen an, <strong>und</strong> es kam zur klassenübergreifenden<br />

Solidarität. Der Papst reagierte bei der Mittwochsaudienz am 27.8.<br />

nochm<strong>als</strong>; er ermunterte zum zweiten Mal die polnischen Bischöfe <strong>und</strong> forderte,<br />

die Probleme der Streikenden in Frieden <strong>und</strong> Gerechtigkeit zu lösen. Unterhändler<br />

der Regierung akzeptierten schriftlich ein Abkommen. Solidarnosc war geboren.<br />

So entstand eine neue politische Kraft in Polen, die nicht zuletzt aus christlichem<br />

Geist hervorging.<br />

Es wäre nun zu berichten von der Verhängung des Kriegsrechts über Polen durch<br />

Moskauer Satrapen am 12./13.12.1981 <strong>und</strong> die Inhaftierung Tausender Anhänger<br />

von Solidarnosc; von der Reise des Papstes im Juni 1982 <strong>und</strong> sein unmißverständliches<br />

Eintreten für die Gewerkschaft – etwa seinen Aufruf, die größere<br />

Freiheit zu wählen <strong>und</strong> daß Nächstenliebe „gr<strong>und</strong>legende Solidarität zwischen<br />

den Menschen“ meine, ein F<strong>und</strong>ament der Gesellschaft <strong>und</strong> ein Prinzip ihrer<br />

„moralischen <strong>und</strong> sozialen Erneuerung“; von der Begegnung des Papstes mit<br />

Staatspräsident Jaruzelski in Krakau, bei der er das Recht von Solidarnosc auf<br />

Unabhängigkeit vom Staat forderte <strong>und</strong> sich gegen alle staatlichen Einwände mit<br />

dessen Gründer, Lech Walesa, traf; von der Ermordung des Priesters Popieluszko,<br />

dessen Grab sofort zu einem Wallfahrtsort der Gewerkschaft wurde sowie<br />

schließlich von der erneuten Verfolgung mancher Gewerkschaftsführer durch<br />

den kommunistischen Staat. Statt dessen soll Papst Johannes Paul II. selbst zu<br />

Wort kommen. Er machte im Juni 1987 seinen 3. Pastoralbesuch in Polen <strong>und</strong><br />

konnte diesmal an der Ostseeküste, in der Heimat der Gewerkschaft, zu den<br />

Menschen sprechen. In Gedingen sagte er: „Ja, das Meer spricht zum Menschen<br />

von der Notwendigkeit, einander zu suchen, (…) von der Notwendigkeit der<br />

Solidarität, der zwischenmenschlichen <strong>und</strong> der internationalen Solidarität. Wie<br />

bedeutsam ist doch die Tatsache, daß gerade das Wort Solidarnosc <strong>hier</strong>, am<br />

polnischen Meer, ausgesprochen wurde (…).<br />

Ich sagte: Solidarität muß vor Kampf kommen. Ich ergänze: Solidarität setzt<br />

auch Kampf frei. Aber dies ist nie ein Kampf gegen den anderen. Ein Kampf, der<br />

den Menschen <strong>als</strong> Feind <strong>und</strong> Gegner behandelt – <strong>und</strong> zu dessen Vernichtung<br />

strebt. Dies ist ein Kampf um den Menschen, um seine Rechte, um seinen wahren<br />

Fortschritt: ein Kampf für eine reifere Form des menschlichen Lebens. Denn<br />

dann wird dieses menschliche Leben auf Erden ,menschlicher‘, wenn man sich<br />

leiten läßt von Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit <strong>und</strong> Liebe.“<br />

Fraglos – so kann man all diese Ereignisse <strong>und</strong> die engagierten Beiträge des<br />

Papstes nur kommentieren – wurde der Begriff „Solidarität“ durch Polens jüngste<br />

Geschichte nicht nur salonfähig in der Kirche; er bekam eine attraktive Farbe,<br />

5


zumal er in sich Raum für zentrale christliche Elemente freihielt, gleichzeitig<br />

Heroismus ausstrahlte <strong>und</strong> eine Vitalität verbreitete, die ersehnte politische <strong>und</strong><br />

gesellschaftliche Veränderungen in Aussicht stellte.<br />

Charles Péguy<br />

Lange vor dieser polnischen Befreiungsgeschichte hatte schon ein anderer Christ<br />

die Solidarität auf den Schild gehoben, der Franzose Charles Péguy (†1914).<br />

Auch er muß Beachtung finden, wenn jemand ausloten will, was in diesem Begriff<br />

mitschwingt <strong>und</strong> noch heute gehört wird. Péguy rang um den Weg, der das<br />

Evangelium den Armen seiner Zeit näherbringen könnte; der es vermöchte, daß<br />

auch nicht ein einziger Mensch der ewigen Verdammnis anheimfiele.<br />

Ein f<strong>und</strong>amentaler Wegweiser war ihm zu diesem Ziel das <strong>hier</strong> umkreiste Wort –<br />

freilich <strong>als</strong> Kampfbegriff. Péguy rannte an gegen bourgeoise Frömmigkeit, die<br />

die eigenen Gefühle pflegt <strong>und</strong> nicht an solche Zeitgenossen denkt, die darben<br />

oder sich auf dem Weg zu Gott verirren. Gegen solche selbstzufriedenen Christen<br />

führte er die Solidarität ins Feld. Solidarität ist für Péguy nicht billiger zu<br />

haben <strong>als</strong> die charité, die im Kreuz Christi wurzelt. Er sammelte Gleichgesinnte<br />

um sich <strong>und</strong> warf den Frommen vor, sie möchten sich mit ein paar Werken der<br />

Nächstenliebe loskaufen. Er sprach von der Häresie des Modernismus, aber vom<br />

„Modernismus des Herzens“. Das Christentum sei nicht mehr die Religion des<br />

einfachen Volkes, sondern eine armselige Art von besserer Religion für angeblich<br />

bessere Leute. Es würde aber die Arbeitsstätten nicht für den Glauben zurückerobern,<br />

wenn es nicht die Kosten einer wirtschaftlichen, sozialen, industriellen<br />

Revolution tragen wolle, kurz die Kosten einer irdischen Revolution um<br />

des ewigen Heiles willen.<br />

Mit den Sozialisten ging Péguy allerdings nicht weniger hart ins Gericht <strong>als</strong> mit<br />

den Gewohnheitschristen. Er stieß die Parteipolitiker vor den Kopf; er entlarvte<br />

ihre Machtversessenheit, die die Menschen opfert <strong>und</strong> zu Instrumenten degradiert;<br />

er nannte deren Antichristentum eine substanzlose Gegenkirche; der A-<br />

theismus sei nichts weiter <strong>als</strong> eine neue Methodologie, das Freidenkertum ein<br />

neuer Klerikalismus.<br />

Péguys Solidarität polemisierte <strong>als</strong>o gegen die egoistisch-privaten Sonderinteressen<br />

der christlichen charité. Er suchte den Weg, der allen das Heil zuteil werden<br />

läßt. Schon <strong>als</strong> Kind erzählte ihm seine Großmutter Geschichten, in denen der<br />

Teufel Seelen in die Hölle ziehen wollte, diese ihm aber im letzten Augenblick<br />

von einem Engel oder dem Herrn Pfarrer entrissen wurden. So forderte er <strong>als</strong><br />

erwachsener Revolutionär: „Man soll seine Seele nicht retten, wie man einen<br />

Schatz rettet. Man soll sie <strong>als</strong>o retten, wie man einen Schatz verliert. Indem man<br />

sie ausgibt. Wir müssen uns zusammen retten. Wir müssen zusammen beim<br />

lieben Gott ankommen. Was würde er sagen, wenn wir ohne die anderen bei ihm<br />

ankämen, zu ihm heimkämen?“ Es wäre schlimm, wenn einer Gott gegen seinen<br />

Nächsten lieben würde; wenn er sein Heil gegen seinen Nächsten verfolgen würde.<br />

6


Noch einmal möchte ich diesen zentralen Schrei Péguys mit einigen Zeilen aus<br />

seinen „Nota Conjuncta“ festhalten. Er schreibt über die Partei der Frommen:<br />

„Weil sie nicht die Kraft (<strong>und</strong> nicht die Gnade) haben, der Natur anzugehören,<br />

glauben sie, daß sie der Gnade angehören. Weil sie keinen zeitlichen Mut haben,<br />

glauben sie, daß sie schon begonnen hätten, das Ewige zu durchdringen. Weil sie<br />

nicht den Mut haben, von der Welt zu sein, glauben sie, daß sie Gottes seien.<br />

Weil sie nicht den Mut haben, einer der Parteien des Menschen anzugehören,<br />

glauben sie, daß sie von der Partei Gottes seien. Weil sie nicht des Menschen<br />

sind, glauben sie, Gottes zu sein. Weil sie niemand lieben, glauben sie, Gott zu<br />

lieben.“<br />

Wie Solidarnosc in Polen hißte auch Péguy die Fahne der Solidarität. Seine Provokation<br />

ist prophetisch <strong>und</strong> bleibt gültig. Noch heute kann uns der Zentralbegriff<br />

seines eindrucksvollen Notrufs berühren. Und was der Dichter aus ihm las,<br />

wird den Frommen zum Apostel – oder ihm Angst machen.<br />

Zur Wurzel des Begriffs „Solidarität“<br />

Péguys Gleichsetzung von Solidarität <strong>und</strong> Nächstenliebe sollten wir allerdings<br />

noch prüfen <strong>und</strong> nicht naiv nachsprechen. Besonders weil nicht alle Zeitgenossen<br />

heute diesen Begriff mit Péguys Gedanken füllen. Inhalte von Begriffen sind ja<br />

nicht beliebig zu definieren. Etymologie lehrt uns, ihren Gebrauch nicht willkürlich<br />

zu handhaben. Das wäre eine Art von begrifflichem Nominalismus, der<br />

Verwirrung stiftet. Wohl mögen Worte im Laufe der Geschichte zusätzliche<br />

Inhalte aufnehmen. Dennoch tragen sie auch die Konnotationen ihres Ursprungs.<br />

Darum muß uns der geschichtliche Prozeß interessieren, der den Begriff Solidarität<br />

hervorbrachte.<br />

Auguste Comte (†1857) verwendete den Begriff solidarité in seinen Schriften zur<br />

Bezeichnung gegenseitiger Abhängigkeit zwischen Menschen <strong>und</strong> zwischen<br />

Menschengruppen. Klares Profil bekam er dann durch die Veröffentlichungen<br />

von Pierre Lerou (†1871), der ihn mit folgenden Worten deutet: „Ich habe <strong>als</strong><br />

erster den Begriff solidarité der Rechtssprache entlehnt, um ihn in die Philosophie<br />

einzuführen, d.h. nach meiner Vorstellung in die Religion: Ich wollte die<br />

charité des Christentums durch die Solidarietas der Menschen ersetzen.“ In<br />

seinem großen Werk „De l’Humanité – Über die Menschheit“ entwickelt er in<br />

seinem IV. Buch die „Gegenseitige Solidarität der Menschen“. Sie muß die<br />

christliche Liebe ersetzen, damit die Menschheit das Christentum hinter sich<br />

lassen kann: „Das Christentum ist die größte Religion der Vergangenheit; aber es<br />

gibt etwas Größeres <strong>als</strong> das Christentum: die Menschheit.“ Die Überwindung der<br />

christlichen Liebe ist nötig, da sie selbst gescheitert ist – in der Praxis, wie es<br />

evident ist; aber noch klarer in der Theorie, wenn man das Durcheinander <strong>und</strong><br />

die Gegnerschaft der drei verschiedenen Gegenstände beachtet, die nach christlichem<br />

Gebot zu lieben sind: Gott – der Nächste – sich selbst. „Drei Begriffe so<br />

durch Addition <strong>und</strong> Bündelung zusammenzuziehen, bedeutet nicht, sie zu begründen<br />

oder sie zu vereinigen. So hat sich die christliche Theologie geirrt.“ Die<br />

7


Geschichte des Christentums ist die Geschichte vom Bemühen <strong>und</strong> Scheitern<br />

beim Versuch, „diese drei Dinge zu harmonisieren“.<br />

Christliche Liebe ist darum von dreifacher Unvollkommenheit gekennzeichnet,<br />

die aus der notwendigen Unfähigkeit des Christentums folgt, spannungsvolle<br />

Beziehungen (Liebe) zwischen Ich <strong>und</strong> Nicht-Ich zu denken <strong>und</strong> zu organisieren:<br />

Das Ideal der christlichen Liebe ist ein Hirngespinst, weil es dem Menschen<br />

nicht gerecht wird; es verkannte ihn gleich dreifach <strong>und</strong> entstellte ihn. Es leugnete<br />

1. „das Ich oder die menschliche Freiheit, die gestrichen wurde; den notwendigen<br />

<strong>und</strong> heiligen Egoismus, der verachtet wurde …; 2. Das Ich oder die<br />

menschliche Freiheit, die direkt zu Gott hingewendet wurde …; 3. Das Nicht-Ich<br />

oder Meinesgleichen, verachtet selbst in der Nächstenliebe, der nur scheinbar<br />

<strong>und</strong> in einer Art Fiktion – eben nur um Gottes willen – geliebt wird; denn Gott<br />

ist die einzige Liebe des Christen.“<br />

Es ist nun die neue Philosophie, die die Widersprüche des Christentums hinter<br />

sich läßt <strong>und</strong> „die wahre Formel der Nächstenliebe oder die der gegenseitigen<br />

Solidarität bildet: ‚Liebt Gott in euch <strong>und</strong> in den andern‘; das bedeutet ‚Liebt<br />

euch (durch Gott) in den andern‘, oder ‚Liebt die andern (durch Gott) in euch‘.“<br />

Gott entfällt für die liebende Hinwendung zum Nächsten. Dreigliedrigkeit verdeutlicht<br />

sich zur Bipolarität. Solidarität kann <strong>als</strong>o schließlich in die Tat umg e-<br />

setzt werden: „Mit dem Prinzip der gegenseitigen Solidarität ist die gegenwärtige<br />

Gesellschaft befähigt, Nächstenliebe zu organisieren; denn Nächstenliebe ist im<br />

Gr<strong>und</strong>e Selbstsucht. So hat die Gesellschaft von heute endlich ein religiöses<br />

Prinzip. Die Kirche kann aufhören zu bestehen.“<br />

Aus solchen Wurzeln wächst dann die nicht-christliche Bedeutungsgeschichte<br />

der Solidarität. Als politischer Begriff verbreitet sich etwa in Deutschland Solidarität<br />

im Anschluß an Ferdinand Lassalle (†1864) <strong>und</strong> Friedrich Engels<br />

(†1895) mit dessen Erfahrung der Pariser Kommune. Solidarität meint <strong>als</strong> sozialistische<br />

Vokabel dann die Verpflichtung aller gegenüber allen. Gegen die kapitalistische<br />

freie Konkurrenz des „Jeder für sich!“ stellt Solidarität die Arbeiterverbrüderung<br />

<strong>und</strong> den Imperativ „Jeder für alle!“. Solidarität bekommt in der<br />

Arbeiter- <strong>und</strong> Gewerkschaftsbewegung höchste Popularität. Sie gilt <strong>als</strong> „der<br />

höchste Kultur- <strong>und</strong> Moralbegriff; ihn voll zu verwirklichen, das ist die Aufgabe<br />

des Sozialis mus“ (Wilhelm Liebknecht, †1900). Dabei behält der Begriff seine<br />

kämpferische <strong>und</strong> antichristliche Stoßkraft. Kurt Eisner (†1919) etwa formuliert:<br />

„Nein, nichts mehr von Liebe, Mitleid <strong>und</strong> Barmherzigkeit. Das kalte, stahlharte<br />

Wort Solidarität aber ist in dem Ofen des wissenschaftlichen Denkens geglüht.“<br />

Zweifellos stehen die atheistisch-sozialistischen Wurzeln der Bedeutung von<br />

Solidarität heute kaum noch jemandem vor Augen. Gleichzeitig ist die Tatsache<br />

festzuhalten, daß offenbar heute im gesellschaftlichen Diskurs kein Prinzip <strong>und</strong><br />

keine Idee eine stärkere Kraft auf wohlwollende Menschen ausübt <strong>als</strong> die These,<br />

daß alle für einander einzustehen haben. Gegen diesen Imperativ kommt anscheinend<br />

kein anderes der große normgeb<strong>und</strong>enen Prinzipien des sozialen<br />

Rechts an – weder das Prinzip der Gleichheit noch das der Freiheit.<br />

8


Hier liegt wohl auch über die Verweise auf Solidarnosc <strong>und</strong> auf Charles Péguy<br />

hinaus der Gr<strong>und</strong> für die Beliebtheit dieses Begriffs in der kirchlichen Sprache.<br />

Er fasziniert, weil Solidarität das Engagement aller im gemeinsamen Kampf<br />

gegen Unrecht <strong>und</strong> für Gerechtigkeit verspricht.<br />

Grenzen<br />

Leider wird jedoch bei gründlicherem Nachdenken die Verzauberung durch ihn<br />

der Ernüchterung weichen. Schon bei seinem Aufkommen in Deutschland wurde<br />

gefragt, welche Kräfte denn der Idee der Verbrüderung <strong>und</strong> der Solidarität aller<br />

die erhoffte Effizienz verliehen. Johann Gottlieb Fichte (†1814) richtete seinen<br />

Appell an die Staatsträger, sie müßten die Solidarität von ihren Bürgern einfordern;<br />

er zweifelte <strong>als</strong>o offenbar daran, daß sie ein „Selbstläufer“ wäre. Auch in<br />

unseren Tagen gibt der Philosoph Jürgen Habermas zu bedenken, daß eine Solidarisierung<br />

mit anderen Personen <strong>und</strong> ihren Zielen nur möglich ist, wenn jene<br />

sich für diese Ziele auch selbst einsetzen. So möchte es sein, daß das Vertrauen<br />

in die Solidarität sich aus einem Idealismus speist, der die Natur des Menschen<br />

wie die Lehren der Geschichte mit rosaroter Brille liest. Sind nicht oft genug die<br />

hehren Gefühle verflogen, wenn die Last des grauen Alltags drückte? Solcher<br />

Argwohn straft den im Begriff steckenden Wahrheitsgehalt nicht Lügen, gießt<br />

aber doch nicht wenige Wermutstropfen in den berauschenden Trank.<br />

Und sie nötigt endlich dazu, den von Pierre Lerou eliminierten Begriff wieder<br />

ins Licht zu rücken: Charité. Ihn neu herauszustellen, muß zunächst festhalten,<br />

daß in manchen Aussagen zur jüngsten Geschichte Polens <strong>und</strong> zu den Appellen<br />

Péguys statt Solidarität durchaus der Begriff charité hätte gebraucht werden<br />

können. Die Überschneidung beider Begriffe lag ja auf der Hand. Und der Elan,<br />

den der Begriff Solidarität offenbar in sich trägt, macht auch seine zunehmende<br />

Verwendung in kirchlichen Dokumenten jüngster Vergangenheit verständlich.<br />

Dennoch darf ein f<strong>und</strong>amentaler Unterschied zwischen beiden Begriffen nicht<br />

verwischt werden: Solidarität wurde von einem Boden hervorgebracht, der Welt<br />

<strong>und</strong> Menschen empirisch-zweidimensional deutet; er anerkennt nur das Greifbare<br />

<strong>als</strong> relevant. Charité aber sollte im Licht von Offenbarung <strong>und</strong> Glaube gelesen<br />

werden; dieser Kontext hält dann neue Einsichten bereit, die von der Soziallehre<br />

der Kirche zu beachten sind.<br />

Recht <strong>und</strong> Liebe<br />

Die christliche Botschaft sprengt zunächst die Vorstellung von Gerechtigkeit, die<br />

mit dem Begriff solidarité angezielt wird.<br />

Vom römischen Recht her wurde Gerechtigkeit verstanden <strong>als</strong> „voluntas ius<br />

suum unicuique tribuendi – der Wille, jedem sein Recht zuzuteilen“. Sie lag <strong>als</strong>o<br />

umfassend im Wollen <strong>und</strong> Wirken des Menschen. Anders versteht schon das<br />

Alte Testament die Gerechtigkeit. Es enthält für die Schaffung eines gerechten<br />

Miteinanders im auserwählten Volk starke Hinweise auf die Intervention Jahwes.<br />

Er verpflichtet sich, daß sich Gerechtigkeit in den Sozialbeziehungen durchsetzt.<br />

Er fordert gerechten Lohn <strong>und</strong> unparteiische Rechtsprechung (vgl. Exod 23.1 ff).<br />

9


Und der Prophet Isaia tritt <strong>als</strong> Jahwes Anwalt des Rechts auf, wenn er fordert:<br />

„Wascht euch, reinigt euch! Laßt ab von eurem üblen Treiben! Hört auf, vor<br />

meinen Augen Böses zu tun! Lernt, Gutes zu tun! Sorgt für das Recht! Helft den<br />

Unterdrückten! Verschafft den Waisen Recht, tretet ein für die Witwen“ (1,16f.).<br />

Sosehr diese soziale Gerechtigkeit den Menschen aufgetragen ist, so erscheint sie<br />

folglich nie allein <strong>als</strong> Frucht menschlichen Einsatzes. In ihrem Realismus erwartet<br />

demnach die Heilsgeschichte erst vom Messias die Heraufführung des konfliktfreien<br />

Zusammenlebens der Menschen: „Ja, er bringt wirklich das Recht. Er<br />

wird nicht müde <strong>und</strong> bricht nicht zusammen, bis er auf der Erde das Recht begründet<br />

hat. Auf sein Gesetz warten die Inseln“(Is 42,3f.).<br />

Vom Ersten Testament her verstehen sich im jüdisch-christlichen Horizont Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> Liebe nicht alternativ, sondern komplementär. Recht ohne Liebe<br />

würde allein zu einem Dasein ohne Wärme führen. Dieser eschatologische Ve r-<br />

weis öffnet den Blick auf Christus. In der Bergpredigt spricht der Herr freilich<br />

von einer neuen Gerechtigkeit (vgl. Mt 5-7), die die Thora vollendet. Sie besteht<br />

nicht in der Gerechtigkeit des Gesetzes noch in der Verteilungsgerechtigkeit, die<br />

jedem das Seine zumißt, sondern in der Gerechtigkeit der Verzeihung; in einer<br />

Gerechtigkeit, die dem Menschen geschenkt wird. Es ist die Gerechtigkeit der<br />

Liebe. Sie geschieht dank der Bekehrung des menschlichen Herzens, wenn jemand<br />

Kind Gottes wird, frei von Furcht, von bösem Verlangen, von Heuchelei<br />

<strong>und</strong> Rache. So kann sich der neue Mensch Gott überantworten in Dankbarkeit<br />

<strong>und</strong> Nächstenliebe. Diese neue Gerechtigkeit, die das Gesetz <strong>als</strong> solches übersteigt,<br />

ist letztlich mit Christus gleich, der den Menschen heil <strong>und</strong> gerecht macht.<br />

So unterläuft folglich dem ein erster schwerer Irrtum, der solidarité <strong>und</strong> charité<br />

unterschiedslos gleichsetzt: Aus christlicher Sicht kann auch für die perfekte<br />

Sozialordnung des Gemeinwesens nicht auf die Liebe verzichtet werden.<br />

Zur Ermöglichung des Liebens<br />

Damit verschärft sich die Frage, aus welcher Quelle sich die Bereitschaft speist,<br />

den Aufruf „Jeder für alle!“ in die Tat umzusetzen. Das Ungleichgewicht zwischen<br />

solidarité <strong>und</strong> charité kann der unmöglich leugnen, der das Wort Gottes<br />

noch gründlicher befragt.<br />

Neben der Bestimmung Gottes <strong>als</strong> „Geist“ (Joh 4,24) <strong>und</strong> <strong>als</strong> „Licht“ (1 Joh 1,5)<br />

führt das biblische Schrifttum des Lieblingsjüngers in das innerste Geheimnis<br />

Gottes ein <strong>und</strong> formuliert: „Gott ist Liebe“ (1 Joh 4,8.16). Dieser Satz will etwas<br />

vom verborgenen Wesen Gottes einfangen, an dem die Glaubenden Anteil gewinnen.<br />

Er formuliert außerdem Gottes Andersartigkeit gegenüber der Welt –<br />

nicht in der Absicht einer philosophischen Festlegung, sondern <strong>als</strong> Verkündigung,<br />

die die Hörer des Briefes treffen soll.<br />

Den Gr<strong>und</strong> für seine Aussage sieht der Autor in Gottes unfaßbarem Handeln: Er<br />

sendet seinen Sohn in die zum Verfall bestimmte Todeswelt, um den Menschen<br />

das Leben zu schenken. Diese Hingabe des Sohnes bek<strong>und</strong>et des Vaters unüberbietbare<br />

Liebesgesinnung. Sie überwältigt den Evangelisten dermaßen, daß Liebe<br />

ihm zum einzigen Charakteristikum göttlichen Heilshandelns wird. Wie könn-<br />

10


ten Glaubende diese charité gegen das Linsenmus (vgl. Gen 25.31) der solidarité<br />

eintauschen?<br />

Das Christentum <strong>als</strong> solches hängt an der Gr<strong>und</strong>wahrheit, daß Gott die Liebe ist.<br />

Ohne sie sind die Geheimnisse von Dreifaltigkeit <strong>und</strong> Erlösung völlig dunkel, ja<br />

abstrus. Im Horizont der Liebe gewinnen sie Umrisse <strong>und</strong> bewegen zur Anbetung.<br />

Denn <strong>als</strong> gegenseitiges Geschenk der Selbsthingabe ist Gott dreipersönlich:<br />

schrankenlose Kommunion der Beziehung zwischen Ich <strong>und</strong> Du; Liebe (griechisch<br />

agápe), die sich unablässig schenkt (Vater), die sich von Ewigkeit her in<br />

absoluter Gratuität empfängt (Sohn), die sich ohne Ende eint <strong>und</strong> unterscheidet<br />

(Heiliger Geist). Das Zueinander der drei Personen kennzeichnet ihre Liebe <strong>als</strong><br />

Kraft, die des anderen Nähe sucht <strong>und</strong> die Ketten der Einsamkeit des anderen<br />

bricht, um zu trösten <strong>und</strong> zu erlösen. Sie läßt sich herab <strong>und</strong> erniedrigt sich, indem<br />

sie dem Menschen nachgeht. Den christlichen Gott hält der unendliche<br />

Abstand zwischen göttlichem Schöpfer <strong>und</strong> sterblichem Geschöpf nicht ab, den<br />

trennenden Abgr<strong>und</strong> mit seiner allmächtigen Güte zu füllen. In dieser seiner<br />

„Menschwerdung hat er sich gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt“<br />

(Gaudium et spes 22), nahm freiwillig Leidensfähigkeit an <strong>und</strong> teilte das<br />

menschliche Los in seiner erbarmungswürdigen Niedrigkeit (vgl. Mk 15,34;<br />

Hebr 2,18; 4,15).<br />

Jesu Erdenweg ist vorgezeichnet vom himmlischen Vater, der unsere Erlösung<br />

will. Auf diesem Weg offenbart der Herr das Wesen <strong>und</strong> einzelne Züge der göttlichen<br />

Liebe.<br />

Jesus verkündet den Vater in den Evangelien <strong>als</strong> Quelle <strong>und</strong> Modell der Güte<br />

zwischen den Menschen: Er nährt die Vögel des Himmels (vgl. Mt 6,26); er<br />

weiß, was wir brauchen (vgl. ebd. 32); er gibt, um was wir ihn bitten; er läßt uns<br />

finden, was wir suchen; er öffnet, wenn wir anklopfen (vgl. ebd. 7,7). Die biblischen<br />

Pastoralbriefe ziehen das Fazit <strong>und</strong> formulieren, daß in Christus „die Güte<br />

<strong>und</strong> Menschenfre<strong>und</strong>lichkeit Gottes, unseres Retters“ (Tit 3,4), in die Welt gekommen<br />

ist. Er sei in eine Welt gekommen, in der der Mensch selbstsüchtig aller<br />

Art von Laster nachgehe. In dieser Welt wird er zum Neuanfang. Er leitet das<br />

Zeitalter eines anderen Wandelns <strong>und</strong> Handelns ein.<br />

Der Sohn sucht die totale Gemeinschaft mit seinen irdischen Brüdern <strong>und</strong><br />

Schwestern. Seine Nähe zu uns ist vorbehaltlos <strong>und</strong> seine Sensibilität für uns alle<br />

unverkürzt. Dennoch reflektiert er nicht einfachhin, wie sich Menschen lieben.<br />

Denn menschliche Liebe tut generell nicht den ersten Schritt; sie ist sek<strong>und</strong>är:<br />

Das menschliche Herz wandelt erotische Anziehung nur im nachhinein in Zuneigung.<br />

Christi Liebe stammt hingegen von oben, von dem „einen Gott, dem Vater<br />

… auf den hin wir leben“ (1 Kor 8,6). Sein <strong>und</strong> Handeln des ewigen Sohnes<br />

entspringen nicht dem eigenen Ich, sondern der Liebe, die der Vater für ihn hat.<br />

Christi Form der Liebe widerstrebt aller Selbstgenügsamkeit. Sie entläßt nicht in<br />

die Autonomie oder gar in die Isolierung. Sie ist „verdankt“; sie realisiert umfassend<br />

die Sohnschaft: demütiges Empfangen <strong>und</strong> dankbarer Jubel. – Folglich<br />

entlastet sie den Engagierten in seinem Einsatz <strong>und</strong> drängt ihn in die Gemeinschaft<br />

mit Christus, dem eigentlich Liebenden. So lieben wir, „weil er uns zuerst<br />

11


geliebt hat“ (1 Joh 4,19). Von Christus her enthüllt sich die Gottverwiesenheit<br />

der Nächstenliebe, jedem Helfer <strong>und</strong> Retter steht demnach die Demut dessen an,<br />

den er repräsentiert.<br />

Am Kreuz liebt Jesus den Vater mit seinem ganzen Herzen – die geöffnete Seite;<br />

mit all seinen Kräften – die angenagelten Hände; mit all seinen Gedanken – die<br />

Dornenkrone. Er wird am Schandpfahl zum „Fluch“ (Gal 3,13), damit er trotz<br />

seiner Schuldlosigkeit uns, die wir Sünder sind, nahe sein kann. An seiner Go t-<br />

tesferne – er ruft sein „Warum hast Du mich verlassen?“ (Mt 27,46) mit letzter<br />

Kraft in die Nacht – erkennen wir, wer uns erlöst <strong>und</strong> bewahrt hat vor dem endgültigen<br />

Gottesverlust; diesem wären wir durch keine eigene Leistung je entgangen.<br />

Aber wir kommen durch diese Einsicht vor dem Kreuz auch niem<strong>als</strong> über<br />

das Kreuz hinaus: Im Gekreuzigten sehen wir vor uns die Folge von unserem<br />

Versagen <strong>und</strong> unserer Sünde. Können wir dann den für uns Sterbenden seinem<br />

Schicksal überlassen, ohne innerlich angerührt <strong>und</strong> bewegt zu sein? Daß es uns<br />

widerfährt, enthüllt uns unser böses Herz; es drängt uns zur Dankbarkeit dem<br />

gegenüber, der auf so schreckliche Weise unsere Gegenliebe wecken wollte.<br />

Wer den selbstlosen Dienst am anderen durch die Glaubenswahrheiten des Begriffs<br />

charité zu wecken sucht, bewahrt Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft vor einer großen<br />

theologischen Verarmung, ja Verwirrung. Wenn in der Kirche charité durch<br />

solidarité naiv ausgetauscht wird, bleiben nur moralisierende Imperative für den<br />

Appell zur Hilfe <strong>und</strong> zur Verteidigung der Gerechtigkeit – statt daß das Herz des<br />

Glaubenden durch Gottes Heilswelt <strong>und</strong> die Liebe Jesu gnadenhaft bewegt wird.<br />

Darum muß es schon sehr verw<strong>und</strong>ern, wenn etwa nach einem Passus aus dem<br />

„Katechismus der Katholische Kirche“ (KKK) <strong>als</strong> das uns im Leib Christi einigende<br />

Band nicht die charité, sondern die solidarité behauptet wird (vgl. Nr.<br />

2850).<br />

Hermeneutische Verschiebung<br />

Dieser Mißgriff des KKK führt uns zu einem 3. Einwand gegen die Gleichsetzung<br />

der genannten Begriffe. Er ergibt sich aus einer knappen hermeneutischen<br />

Beobachtung.<br />

Daß unser Glaube schon seit der Aufklärung von der Säkularisierung geläutert,<br />

aber auch unterlaufen <strong>und</strong> angegriffen wird, ist eine Binsenweisheit. Ihre Denker<br />

haben versucht, alle Transzendenz in eine vollständig immanente Auffassung des<br />

menschlichen Daseins hinein aufzuheben. So sollte der Dualismus von weltlich<br />

<strong>und</strong> geistlich, von irdisch <strong>und</strong> göttlich, von profan <strong>und</strong> heilig überw<strong>und</strong>en werden.<br />

Die Trennung von Ewigkeit <strong>und</strong> Zeit, von Innerlichkeit <strong>und</strong> Äußerlichkeit<br />

sollte ein Ende haben. Auch wenn inzwischen die Grenzen dieser Sicht angezeigt<br />

wurden, schreitet der Prozeß der Säkularisierung fort; die Bischöfe machten ihn<br />

bei ihrer Synode in Rom 2005 immer neu zum Anknüpfungspunkt für vielerlei<br />

Analysen. Er bestimmt heute weitgehend die Sicht des menschlichen Miteinanders:<br />

Dies hätte sich folglich zu orientieren, ohne in Gottes Gebot verankert zu<br />

sein. Re ligion würde in säkulare Sprache übersetzt. Die göttliche Autorität würde<br />

12


transponiert in die Geltung von staatlichen Gesetzen <strong>und</strong> moralischer Schuldigkeit.<br />

Alle Ordnung resultierte aus der Selbstverpflichtung der Menschheit.<br />

So stellt sich denn die Frage: Läßt sich der Begriff „Solidarität“ – wie in der<br />

zitierten Katechismus-Passage – etwa <strong>als</strong> säkularisierte Verkümmerung des<br />

Glaubensbegriffs charité lesen?<br />

Diesen Verdacht <strong>hier</strong> zu äußern, soll gewiß den Begriff „Solidarität“ nicht in<br />

Bausch <strong>und</strong> Bogen ablehnen. Daß er die Verantwortung des einzelnen für die<br />

Menschheit artikuliert, gibt ihm großes Gewicht. Sein Appell-Charakter, seine<br />

politische Effizienz <strong>und</strong> seine Kritik an den Frommen schützen ihn auch unter<br />

Christen vor jeder Diskreditierung. Aber nur der Ungläubige wird den Vorrang<br />

der charité vor der solidarité bestreiten. Oder besser: Nicht einmal der Ungläubige<br />

wird charité in solidarité auflösen wollen, weil säkularisierte Sprache gar<br />

nicht die Fülle der Offenbarung aufnehmen kann.<br />

Wer das behauptet, hat mindestens einen sehr bedeutenden deutschen Philosophen<br />

auf seiner Seite: Jürgen Habermas. Er bekam 2001 den Friedenspreis des<br />

deutschen Buchhandels <strong>und</strong> hielt in der Frankfurter Paulskirche eine denkwürdige<br />

Rede über „Glaube <strong>und</strong> Wissen“.<br />

Er bezeichnete sich zunächst <strong>als</strong> „religiös unmusikalisch“, um zu bekennen, daß<br />

er selber zum Religiösen keinen Zugang hat. Er setzte sich dann jedoch ab von<br />

Immanuel Kant <strong>und</strong> dessen Versuch, das radikal Böse aus der biblischen Sprache<br />

in die Vernunftreligion zu übersetzen: „Säkulare Sprachen, die das, was einmal<br />

gemeint war, bloß eliminieren, hinterlassen Irritationen. Als sich Sünde in<br />

Schuld, das Vergehen gegen göttliche Gebote in den Verstoß gegen menschliche<br />

Gesetze verwandelte, ging etwas verloren.“ Und schließlich sagte er in einer<br />

bezeichnenden, zunächst leicht ironisch klingenden These: „Es gibt den Teufel<br />

nicht, aber der gefallene Erzengel treibt nach wie vor sein Unwesen – im verkehrten<br />

Guten der monströsen Tat, aber auch im ungezügelten Vergeltungsdrang,<br />

der ihr auf dem Fuße folgt.“<br />

Literatur<br />

„Dictionaire de théologie catholique“, II (Paris 1932) 2258 ff.<br />

Charles Péguy, Nota Conjuncta (Wien 1956).<br />

Hans Urs von Balthasar, Herrlichkeit II, 2 Laikale Stile (Einsiedeln 21969).<br />

Vincent Carraud, Solidarité ou les traductions de l’idéologie, in Communio (franz.) 5<br />

(1989) 106-127.<br />

P. J. Cordes, Communio. Utopie oder Programm? (Quaestiones Disputatae 148) (Freiburg<br />

1993).<br />

Historisches Wörterbuch der Philosophie IX (Darmstadt 1995) Art. Solidarität.<br />

Jürgen Habermas, Glaube <strong>und</strong> Wissen, F.A.Z., 15.10.2001.<br />

George Weigel, Zeuge der Hoffnung. Johannes Paul II. (Paderborn 2002).<br />

Erzbischof Dr. Paul Josef Cordes ist Präsident des Päpstlichen Rates Cor unum<br />

in Rom.<br />

13


Christoph Böhr<br />

Europäisch denken<br />

Christliche Prägung <strong>und</strong> universaler Anspruch*<br />

Es ist nicht leicht, eine überzeugende Antwort auf die Frage zu finden, was wir,<br />

bei Licht betrachtet, meinen, wenn wir von Europa sprechen. Was ist Europa?<br />

Ein Kontinent, den wir geographisch eingrenzen können? Wohl kaum, denn eine<br />

geographische Bestimmung läßt sich nicht finden. Ist Europa <strong>als</strong>o ein eher kulturell<br />

zu fassender Begriff? Auch <strong>hier</strong> wird die Antwort eher abschlägig ausfallen.<br />

Europa bestimmt sich seit je vorrangig über die Vielfalt kultureller Strömungen<br />

<strong>und</strong> Einflüsse, auch wenn diese scheinbar immer wieder zu einer Einheit verschmelzen.<br />

Aber kann man in diesem Zusammenhang wirklich von einer Einheit<br />

sprechen? Denn bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß die europäische Kultur<br />

eine polyzentrische Struktur aufweist, die zumindest drei Kulturkreise, nämlich<br />

Rom, Byzanz <strong>und</strong> Moskau umfaßt. So wenig wie die geographische <strong>und</strong> die<br />

kulturelle Bestimmung taugt auch der Versuch, Europa geopolitisch abzugrenzen.<br />

Was <strong>als</strong>o ist Europa?<br />

Europäisch nennt man ein bestimmtes Denken, genauer gesagt, eine Weise, wie<br />

der Mensch sich selbst versteht <strong>und</strong> zu sich selbst in ein Verhältnis tritt. Es ist<br />

<strong>als</strong>o das Menschenbild, das offensichtlich den entscheidenden Bezugspunkt für<br />

die Bestimmung des Begriffes bietet. Dieses Menschenbild wird aus vielfältigen<br />

Quellen gespeist. Besonders die griechischen, jüdischen <strong>und</strong> hellenistischen<br />

Einflüsse haben dieses Menschenbild geprägt. Aber entscheidend geformt wurde<br />

es schließlich durch das Christentum. Keine andere Prägung war ähnlich bestimmend<br />

wie die christliche. So wichtig <strong>und</strong> bedeutsam auch andere Quellen<br />

sind, keine hat das europäische Denken so gespeist wie die christliche. So kann<br />

man mit Fug <strong>und</strong> Recht sagen: Das europäische Menschenbild ist das christliche<br />

Menschenbild – <strong>und</strong> umgekehrt: Das christliche Menschenbild ist das europäische<br />

Menschenbild.<br />

An der Wiege dieses Menschenbildes steht, weit in vorchristlicher Zeit, eine<br />

Persönlichkeit, deren Erbe bis heute lebendig geblieben ist: Sokrates. Er hat<br />

gelehrt <strong>und</strong> gelebt, daß der Mensch immer unter dem Anruf seines Gewissens<br />

steht. In der Stimme seines Gewissens, die alle Nebengeräusche übertönt, offenbart<br />

sich dem Menschen seine Teilhabe am Göttlichen. Indem der Mensch sein<br />

Gewissen entdeckt, lernt er sich selbst zu verstehen <strong>als</strong> Bürger, der zwei Welten<br />

angehört: der sinnlichen <strong>und</strong> der geistigen, der natürlichen <strong>und</strong> der übernatürlichen<br />

Welt. Diese doppelte Staatsbürgerschaft erhebt den Menschen über alle<br />

anderen Geschöpfe. Indem der Mensch sich selbst zu verstehen lernt, kann er<br />

seine Stellung in der Welt bestimmen. Er lernt, zwischen Meinung <strong>und</strong> Wahrheit<br />

zu unterscheiden. Jenseits der Offenbarungen des Judentums <strong>und</strong> lange, bevor<br />

das Christentum entsteht, beginnt der Mensch zu begreifen, was ihn über die<br />

14


ganze Natur erhebt. Denn im Ruf des Gewissens erfährt der Mensch den Anspruch<br />

des Absoluten, dem er sich zwar verweigern, nicht aber entziehen kann.<br />

So erhält er eine Ahnung seiner Einmaligkeit <strong>und</strong> seiner Erhabenheit.<br />

Die Entdeckung des Sokrates war der Offenbarung des Judentums von Anfang<br />

an bekannt <strong>und</strong> zu eigen. In unvergleichlicher Weise wird die Stellung des Menschen<br />

in der Welt im 8. Psalm beschrieben: „Du hast den Menschen nur wenig<br />

geringer gemacht <strong>als</strong> Gott, hast ihn mit Herrlichkeit <strong>und</strong> Ehre gekrönt. Du hast<br />

ihn <strong>als</strong> Herrscher eingesetzt über das Werk Deiner Hände, hast ihm alles zu Füßen<br />

gelegt.“ 1 Es ist eine königliche Würde, mit der jeder Mensch ausgestattet ist.<br />

Folglich gibt es, einem alten jüdischen Weisheitsspruch folgend, keine schlimmere<br />

Sünde, <strong>als</strong> daß ein Mensch seine Würde vergißt – jene Würde, die er besitzt,<br />

weil er die Fähigkeit hat, über die Grenze der Welt des Bedingten hinauszublicken<br />

in die Welt des Unbedingten.<br />

Das Christentum hat diese Einsicht ganz von Anfang an <strong>als</strong> Gr<strong>und</strong>lage seines<br />

Menschenbildes übernommen <strong>und</strong> weiterentwickelt. Insbesondere in der Philosophie<br />

des Heiligen Thomas wird die völlige Übereinstimmung zwischen dem<br />

Anruf des Gewissens <strong>und</strong> den Ratschlägen der Vernunft ausgearbeitet. Der Begriff<br />

der Würde wird zum Dreh- <strong>und</strong> Angelpunkt eines Menschenbildes, das heute<br />

– mehr denn je – in unser Bewußtsein rückt. Denn allein dieser Begriff der Würde<br />

begründet, wie Papst Benedikt XVI. zutreffend bemerkt, die Ordnung der<br />

Macht von den Maßstäben des Rechts her. 2 Das ist europäisch gedacht, anders<br />

gesagt: In diesem Denken hat Europa zu seiner geistigen Ge stalt gef<strong>und</strong>en.<br />

Gerade im letzten Jahrzehnt haben etliche europäische Verfassungen den Begriff<br />

der Menschenwürde übernommen, so wie er Gegenstand des 1. Artikels des<br />

Gr<strong>und</strong>gesetzes der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland ist. 3 Die Menschenwürde ist<br />

Gr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> Voraussetzung aller Menschenrechte. Schon auf den ersten Blick<br />

zeigt sich, daß der Begriff der Würde des Menschen – eine unantas tbare Würde –<br />

in einem absoluten Anspruch gründet, <strong>als</strong>o der Welt des Unbedingten entstammt,<br />

aber für die Welt des Bedingten keineswegs folgenlos bleibt. Obwohl die Herkunft<br />

des Begriffs der Würde jenseits der Welt unserer Sinneserfahrungen liegt,<br />

ist doch kein anderer Begriff in der politischen <strong>und</strong> sozialen Welt von einer vergleichbaren<br />

Prägekraft. Vielleicht ist es ja gerade diese Herkunft unserer Vorstellung<br />

von Menschenwürde, die dem Begriff eine solche Wirkmächtigkeit verleiht.<br />

Der Begriff ist allen Begrenzungen <strong>und</strong> Bedingungen enthoben: In seiner unantastbaren<br />

Würde hat der Mensch Anteil am Absoluten, wie ihm erst die Vergewisserung<br />

des Absoluten ein Verständnis seiner Würde ermöglicht.<br />

Dieser Gedanke ist in seiner Bedeutung für die innere Verfassung <strong>und</strong> Zielsetzung<br />

der Demokratie gar nicht hoch genug einzuschätzen. Denn im Begriff der<br />

Unantastbarkeit der Würde des Menschen findet alle Politik ihren Ausgangs- <strong>und</strong><br />

Endpunkt. Demokratie ist dann eben mehr <strong>als</strong> die Suche nach einem vernünftigen<br />

Kompromiß <strong>und</strong> das Verhandeln unterschiedlicher Interessen. Wenn die<br />

Würde des Menschen allein die Ordnung der Macht von den Maßstäben des<br />

Rechts her begründet, dann ist alles Politische einem Maßstab unterworfen, über<br />

den die Politik selbst niem<strong>als</strong> verfügen kann. Wer so denkt, der denkt europäisch.<br />

15


Seit den ersten Anfängen begleitet das europäische Denken diese Überzeugung,<br />

daß nämlich alles Politische einem Maßstab unterliegt, der jenseits der Macht<br />

<strong>und</strong> dem Vorteilsstreben zu finden ist. Politik ist mehr <strong>als</strong> die Quersumme der<br />

Anliegen aller am politischen Prozeß Beteiligten. Die Metaphysik der Politik<br />

stellt diese Aufgabe in den Mittelpunkt, nämlich jenen Maßstab zu gewinnen,<br />

dem alles Politische zu unterwerfen ist, wenn Politik ihre Legitimität behaupten<br />

will. Kurz gesagt: Diese Legitimität steht <strong>und</strong> fällt mit dem Maßstab des Menschenbildes,<br />

das sich nicht in der Diesseitigkeit erschöpft <strong>und</strong> den Menschen in<br />

seiner Hinordnung zum Unbedingten seine Bestimmung finden <strong>und</strong> erfüllen läßt.<br />

Auf diese Weise findet Europa zu einer einzigartigen Denkfigur: Obwohl das<br />

europäische Menschenbild die Brücke baut zwischen der Welt des Bedingten<br />

<strong>und</strong> dem Anruf des Unbedingten, schützt es den Menschen vor einer geradezu<br />

totalitären Vereinnahmung, die immer naheliegt, wenn Politik sich dem Anspruch<br />

des Absoluten beugt. Die Metaphysik der Demokratie, wie sie sich im<br />

europäischen Denken entwickelt hat, sieht den Menschen auch in seinen politischen<br />

Geschäften unter dem Anruf des Absoluten. Aber dieser Anruf mündet in<br />

die unantastbare Freiheit der Gewissensentscheidung jedes Einzelnen – <strong>und</strong> nicht<br />

in die freiheitszerstörende, gewaltsam durchgesetzte Handlungsvorschrift eines<br />

ins Innerweltliche übertragenen Anspruchs des Absoluten. Kein anderer Kulturkreis<br />

hat die Freiheit des Menschen auch im Angesicht des Absoluten so begründet<br />

<strong>und</strong> ges ichert wie das europäische Denken.<br />

Gleichwohl ist die Frage berechtigt, ob dieses europäische Denken möglicherweise<br />

nur eine regionale Besonderheit darstellt, vielleicht sogar Geltung beanspruchen<br />

darf nur in dem Kulturkreis, dem es entstammt? Muß nicht das europäische<br />

Denken sich selbst zurücknehmen, gleichsam freiwillig seine Ge ltung<br />

einschränken <strong>und</strong> behaupten wollen ausschließlich innerhalb des europäischen<br />

Dunstkreises?<br />

Christliches <strong>und</strong> europäisches Menschenbild<br />

Zum europäischen Denken gehört – diese Frage eindeutig verneinend – der Anspruch<br />

der Universalität der Vernunft, die Geltung verlangt ganz unabhängig von<br />

ihrer Herkunft <strong>und</strong> ihrer Prägung. Denn es ist ja gerade diese Vernunft, die den<br />

Menschen seine Würde erkennen läßt <strong>und</strong> damit ein Menschenbild begründet,<br />

das wir heute das europäische, <strong>als</strong>o christliche Menschenbild nennen. Dürfen wir<br />

<strong>als</strong>o sagen, daß dieses Denken für alle Menschen gilt? Was gibt uns das Recht,<br />

dem europäischen Menschenbild einen universellen Anspruch zuzubilligen: etwa<br />

im Blick auf fremde Kulturen <strong>und</strong> andere Religionen, die doch allesamt ihr eigenes<br />

Recht haben?<br />

Um die Frage zu beantworten, muß noch einmal an eine Facette dieses europäischen<br />

Menschenbildes erinnert werden, die unmittelbare Folge des Anspruchs<br />

der Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen ist. Dieser Satz sagt nämlich<br />

aus, daß jeder Mensch in seiner Würde gleich ist, genauer gesagt, daß jeder<br />

Mensch einen unbedingten Anspruch auf seine geistige <strong>und</strong> körperliche Integrität<br />

hat – <strong>und</strong> daß dieser Anspruch durch nichts <strong>und</strong> niemanden auf der ganzen Welt<br />

16


egrenzt werden kann. Wenn ein Mensch immer Zweck an sich <strong>und</strong> niem<strong>als</strong><br />

bloß Mittel für andere <strong>und</strong> anderes sein darf, dann besitzt er ein Recht <strong>und</strong> eine<br />

Freiheit, die von jeder sozialen <strong>und</strong> politischen Ordnung nicht nur zu achten<br />

sind, sondern die jeder sozialen <strong>und</strong> politischen Ordnung ein Ziel vorgeben, das<br />

Menschen aus Achtung vor sich selbst nicht verrücken dürfen.<br />

Der universelle Anspruch des europäischen Menschenbildes ist nicht Ausdruck<br />

eines kulturimperialistischen oder hegemonialen Denkens. Vielmehr ist dieses<br />

europäische Menschenbild eine ständige <strong>und</strong> unausgesetzte Aufforderung zur<br />

Befreiung des Menschen. Dieser Auftrag zur Befreiung ist heute so bedeutsam<br />

wie je. Der Menschenhandel beispielsweise, den wir derzeit in Europa erleben,<br />

steht dem, was die antike Welt an Sklaverei kannte, in nichts nach – <strong>und</strong> doch ist<br />

dieses Thema heute kaum Gegenstand öffentlicher Erörterung. Der Auftrag zur<br />

Befreiung gilt in gleicher Weise jenen Menschen, die unter Bevorm<strong>und</strong>ung leiden,<br />

weil sie beispielsweise durch pseudoreligiöse Vereinnahmungen der Möglichkeit<br />

der freien Entscheidung beraubt sind. Und schließlich zielt der Auftrag<br />

zur Befreiung auf den so dringend notwendigen Schutz des Menschen vor allen<br />

möglichen Formen der Verzweckung. Man denke in diesem Zusammenhang nur<br />

an den Lebensschutz, die Embryonenforschung oder die Präimplantationsdiagnostik.<br />

Das christliche Menschenbild, wo es Gr<strong>und</strong>lage der Politik geworden<br />

ist, führt den Menschen zu sich selbst – heraus aus allen Formen der Fremdbestimmung,<br />

hin zur Selbstbestimmung. Deshalb ist dieses europäische Menschenbild<br />

nie <strong>und</strong> niem<strong>als</strong> vereinbar mit einer Rechts- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung, die<br />

letzte Verbindlichkeit beansprucht, weil sie sich <strong>als</strong> Ausdruck unmittelbaren<br />

göttlichen Rechts versteht. Genau in diesem Streit befindet sich das europäische<br />

Denken mit dem Islamismus <strong>und</strong> der Scharia beispielsweise. Beide, Islamismus<br />

wie Scharia, berufen sich auf eine Offenbarung <strong>und</strong> glauben deshalb, gegenüber<br />

allen Erfordernissen, die durch die Menschenwürde <strong>und</strong> die Freiheitsrechte begründet<br />

werden, gefeit zu sein. Eine politische Doktrin, die sich auf eine religiöse<br />

Offenbarung beruft, verfügt nicht über die Möglichkeit, ihren Überlegenheits<strong>und</strong><br />

Machtanspruch zu begrenzen.<br />

Wenn Europa sich auf seine Quellen besinnt <strong>und</strong> jenem Menschenbild, das sich<br />

in mehr <strong>als</strong> zweitausend Jahren herausgebildet hat <strong>und</strong> unverwechselbar zur<br />

Prägeform des europäischen Denkens geworden ist, treu bleiben will, wird es<br />

nach Lage der Dinge einer kämpferischen Auseinandersetzung mit anderen Kulturen<br />

nicht einfach ausweichen können. Ja, mehr noch: Das europäische Menschenbild<br />

verpflichtet zu dieser kämpferischen Auseinandersetzung, weil es<br />

ansonsten den eigenen Anspruch der Menschenwürde <strong>und</strong> der Freiheitsrechte<br />

selbst aufgeben müßte. Das aber wäre eine Selbstzerstörung Europas, die ja gerade<br />

von denen befürchtet wird, die auf der ganzen Welt bis heute unter den<br />

Bedingungen einer Zwangsherrschaft leben müssen <strong>und</strong> voller Hoffnung auf<br />

Europa blicken, weil sie von dem Wunsch beseelt sind, das europäische Menschenbild<br />

möge sich auf der ganzen Welt erfolgreich durchsetzen. Je fremdbestimmter<br />

Menschen sind, je mehr sie unter Bevorm<strong>und</strong>ung leiden oder gar Opfer<br />

von Unterdrückung sind, um so mehr sehnen sie sich nach einem Menschenbild,<br />

das ihnen die erhoffte Befreiung verspricht.<br />

17


Längst hat die Debatte über diese befreiende Kraft des christlichen Menschenbildes<br />

begonnen: in Europa, in anderen Kulturkreisen <strong>und</strong> nicht zuletzt im Rahmen<br />

der Begegnung verschiedener Kulturen. Dabei ist es in Europa vor allem der<br />

Islamismus, jene politische Radikalisierung des Islam, der den gleichermaßen<br />

europäischen wie christlichen Freiheitsbegriff herausfordert. Der Islamismus<br />

kennt so gut wie keine Trennung zwischen der religiösen <strong>und</strong> der säkularen<br />

Welt. Er neigt dazu, religiöse Gebote zu politischen Regeln zu machen <strong>und</strong> versteht<br />

den Anspruch des Absoluten eben nicht zu deuten <strong>als</strong> unantastbare Würde<br />

des Menschen, sondern <strong>als</strong> Mittel zur Unterwerfung <strong>und</strong> Vereinnahmung. Die<br />

Bekenntnisse von Selbstmordattentätern sprechen in diesem Zusammenhang eine<br />

unmißverständliche Sprache.<br />

Indem der Islam die Grenze zwischen Glauben <strong>und</strong> Politik verwischt, wenn nicht<br />

gar aufhebt, stellt er die gesamte Rechts- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung unter den<br />

Anspruch unbedingter Geltung. Nicht die Würde des Menschen – nach europäischem<br />

Verständnis – ist für ihn Ausgangspunkt <strong>und</strong> Maßstab alles Politischen,<br />

sondern der Wille Gottes, der jedem Versuch menschlicher Deutung enthoben<br />

wird. So kommt es, daß durch <strong>und</strong> durch politische oder rechtliche Fragen – wie<br />

beispielsweise das Tragen eines Kopftuches – religiös begründet werden, obwohl<br />

sie nach unserem Verständnis Ausdruck einer politischen Überzeugung sind. Wo<br />

sich Politik <strong>und</strong> Glaube wechselseitig durchdringen <strong>und</strong> eine Scheidung beider<br />

Bereiche ausgeschlossen wird, geht der Mensch seines Rechtes auf Selbstbestimmung<br />

verlustig <strong>und</strong> übernimmt die Rolle des Vollstreckers einer Wahrheit,<br />

die ihn ganz <strong>und</strong> gar zu ihrem Handlanger macht.<br />

An dieser Kernfrage entzündet sich die Auseinandersetzung zwischen den Kulturen.<br />

Man kann sich schwer vorstellen, daß diese Auseinandersetzung befriedet<br />

werden kann, indem man sich in der Mitte trifft. Beide Seiten sehen sich dem<br />

Anspruch des Absoluten verpflichtet. Aber dieser Anspruch wird in einer Weise<br />

politisch geltend gemacht, wie sie unterschiedlicher <strong>und</strong> gegensätzlicher kaum<br />

sein könnte.<br />

Der europäische Weg sieht in der unantastbaren Würde eines jeden Menschen –<br />

ganz gleich, wie dieser Mensch im einzelnen beschaffen ist – die angemessene<br />

Weise, die säkulare Welt unter den Anruf des Absoluten zu stellen. Deshalb<br />

gründet sich die ganze europäische Kultur auf das Menschenbild, dessen Bestimmung<br />

die größte Errungenschaft eben dieser Kultur darstellt. Und dieses<br />

europäische Menschenbild befindet sich keinesfalls auf dem Rückzug, sondern<br />

steht erst ganz am Anfang seines Siegeszuges.<br />

Denn angesichts der Verzweckung des Einzelnen durch andere Menschenbilder<br />

– auch solche, die längst in Europa Anhänger gef<strong>und</strong>en haben – geht es um nicht<br />

mehr <strong>und</strong> nicht weniger <strong>als</strong> um die Frage nach der Zukunft eines selbstbestimmten<br />

Lebensentwurfes, der zwar dem Ruf der Freiheit folgt, ohne jedoch der Willkür<br />

zu verfallen. Gerade weil das europäische Menschenbild Freiheit <strong>und</strong> Würde<br />

miteinander vereinbart, zielt es ausnahmslos auf jeden Menschen, gleich welcher<br />

Herkunft <strong>und</strong> Prägung. Ausnahmslos jedem Menschen läßt es einen umfassenden,<br />

nicht einschränkbaren Schutz vor Verzweckung, Willkür <strong>und</strong> Mißbrauch<br />

angedeihen. Hier liegt die Überlegenheit des europäischen Menschenbildes im<br />

18


Vergleich zu anderen Kulturen <strong>und</strong> Traditionen. Das europäische Menschenbild<br />

schützt gleichermaßen vor Vereinnahmung <strong>und</strong> Selbstüberhebung des Menschen<br />

– <strong>und</strong> einzig um dieses Schutzes willen stellt sich das europäische Menschenbild<br />

unter den Anspruch des Absoluten.<br />

Man muß diese Einschätzung selbst nicht teilen, um gleichwohl der Schlußfolgerung<br />

zustimmen zu können: Europa – das ist die Heimat eines Menschenbildes<br />

mit universellem Anspruch, eines Menschenbildes, das ausnahmslos jeden Menschen<br />

mit einer unantastbaren Würde ausgestattet sieht. Dieses christliche Menschenbild<br />

befindet sich keinesfalls auf dem Rückzug, im Gegenteil: Vieles<br />

spricht dafür, daß es am Beginn eines weltweiten Siegeszuges steht. Denn das<br />

christliche Menschenbild setzt den Menschen in sein Recht, weil es ihm Schutz<br />

vor Vereinnahmung <strong>und</strong> Verzweckung bietet. Dieses Bild vom Menschen geht<br />

wie auf keine andere Quelle auf eine christliche Prägung zurück, ja, man kann<br />

sagen, daß sich in diesem Menschenbild das christliche Erbe wie in einem<br />

Brennglas versammelt. Aus diesem Gr<strong>und</strong> bleiben wir Christen, solange wir<br />

Europäer sind. Von diesem christlichen Menschenbild geht keine Feindseligkeit<br />

<strong>und</strong> keine Mißachtung gegenüber anderen Kulturen aus. Aber nur um den Preis<br />

der Selbstaufgabe können die Europäer von dem universalen Anspruch ihres<br />

Menschenbildes absehen.<br />

Anmerkungen<br />

*Dem Artikel liegt ein Vortrag zugr<strong>und</strong>e, den der Verf. beim 60. Buß- <strong>und</strong> Bettagsgespräch<br />

des „Instituts für Gesellschaftswissenschaften Walberberg“ am 16. 11. 2005 auf<br />

dem Petersberg bei Bonn gehalten hat.<br />

1) Ps 8, 6-7.<br />

2) Joseph Ratzinger, Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft<br />

bestehen, Freiburg im Br. 2005, S. 145.<br />

3) Neben dem Gr<strong>und</strong>gesetz für die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland beziehen sich – in allerdings<br />

sehr unterschiedlicher Weise – die europäischen Verfassungen Polens, Spaniens,<br />

Schwedens, Portug<strong>als</strong>, Griechenlands, Italiens, Irlands, Sloweniens, Finnlands, der Slowakei,<br />

Lettlands, Litauens, Estlands, Ungarns, Tschechiens, Bulgariens <strong>und</strong> Rumäniens<br />

auf die Menschenwürde.<br />

Dr. Christoph Böhr ist Landesvorsitzender der CDU Rheinland-Pfalz, Vorsitzender<br />

der CDU-Fraktion im Landtag Rheinland-Pfalz <strong>und</strong> Vorsitzender der<br />

Wertekommission der CDU Deutschlands.<br />

19


Otto W. B. Schult<br />

Europäische Union – quo vadis?<br />

Zahlen <strong>und</strong> Fakten, Zeiträume <strong>und</strong> Grenzen<br />

Problembewußtsein<br />

Manchen Menschen geht es nicht schnell genug mit der Erweiterung der EU.*<br />

Andere, die sich vielleicht an den Zerfall der UdSSR erinnern <strong>und</strong> darüber nachgedacht<br />

haben, erachten es für dringlich, der Erweiterung eine Vertiefung vorausgehen<br />

zu lassen. So fordert Erwin Teufel l eine Generalüberholung der EU.<br />

Welches Tempo ist optimal für ihre Erweiterung? Nicht umsonst ermahnt uns<br />

Christoph Böhr 2 : „Wenn Entscheidungen getroffen werden, scheint es oft, daß<br />

deren Folgen nur unzureichend bedacht wurden.“ Hatten der Erweiterungskommissar<br />

<strong>und</strong> die anderen Entscheidungsträger der EU die Konsequenzen der EU -<br />

Erweiterung gründlich oder wenigstens hinreichend erwogen?<br />

Da sowohl wirtschaftliche <strong>als</strong> auch kulturelle <strong>und</strong> gravierende menschliche Probleme<br />

wie die Arbeitslosigkeit von Bedeutung sind, stellt sich die Frage nach der<br />

Gr<strong>und</strong>lage für die wirtschaftlichen Planungen, nach der kulturellen Verträglichkeit<br />

<strong>und</strong> nach der Toleranz gegenüber Anders- oder Ungläubigen in den jeweiligen<br />

Ländern. Im Hinblick auf die EU-Erweiterung <strong>und</strong> die Globalisierung benötigt<br />

man eigentlich neben den rein politischen Klarstellungen ein wirtschaftswissenschaftliches<br />

Weltmodell. Ist das Modell von Wilhelm Kohler 3 <strong>und</strong> von Ben<br />

Heijdra, Christian Keuschnigg <strong>und</strong> Kohler 4 so weit gediehen, daß es eine verläßliche<br />

Basis bilden kann für die wirtschaftliche Planung der EU -Erweiterung (vgl.<br />

auch Ref. 5, S. 135 <strong>und</strong> Ref. 6, S. 182)? Was wird sonst bedacht (siehe auch Ref.<br />

7, S. 29)?<br />

Jegliches Handeln, ja das Leben selbst findet in Raum <strong>und</strong> Zeit statt. Sinnvolles<br />

Handeln setzt Erkennen voraus <strong>und</strong> Planen auf der Gr<strong>und</strong>lage von Fakten <strong>und</strong><br />

Zahlen. Die Philosophen haben uns gelehrt, daß Erkennen nur gelingt, wenn man<br />

das zu Erkennende von weit entfernten Beobachtungspunkten aus betrachtet <strong>und</strong><br />

dabei möglichst unterschiedliche Methoden <strong>und</strong> Ansätze zu Hilfe nimmt. Für die<br />

Lösung komplexer Probleme, wie der EU-Erweiterung, ist es unerläßlich, Randbedingungen<br />

zu berücksichtigen <strong>und</strong> zu wissen, wie man damit umgehen muß.<br />

Wer dabei Schwierigkeiten hat, kann sich unterstützen lassen, vielleicht in interdis<br />

ziplinärer Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern, die Randwertprobleme<br />

lösen können. In jedem Fall ist es hilfreich, sich an Albert Einstein zu erinnern,<br />

der die „allgemeine Übersicht“ betonte. Dieser Ansatz, dem <strong>hier</strong> gefolgt wird,<br />

<strong>und</strong> die Beachtung f<strong>und</strong>amentaler Gesetze, die uns die Natur vorgibt, erlauben<br />

auch quantitative Aussagen, solange man sich auf integrale Daten beschränkt<br />

<strong>und</strong> damit hinreichend allgemein bleibt. Für Studien einzelner Details von EU-<br />

Ländern sind jedoch sorgfältige Modellrechnungen unverzichtbar, wobei die<br />

20


Simulationsprogramme auch den Kapital- <strong>und</strong> Arbeitsmarkt <strong>und</strong> damit die Migration<br />

sowie die Randbedingungen berücksichtigen müssen. Dabei ist es essentiell,<br />

daß solche notwendigerweise sehr umfangreiche Programme adäquat getestet<br />

wurden, z. B. an der deutschen Wiedervereinigung.<br />

Die entscheidende Frage lautet nun: Welchen Sinn <strong>und</strong> Zweck strebt die EU<br />

durch Erweiterung an? Was ist das Ziel? Ist nicht „faires Teilen“ 8 oberstes Ziel<br />

der Menschlichkeit, nicht nur für die EU, sondern für die ganze Welt? Darum ist<br />

die Globalisierung, wenn sie gedämpft erfolgt 9 , ebenso zu begrüßen wie eine in<br />

einem optimalen Zeitraum sich vollziehende Erweiterung der EU. Ist es nicht<br />

zweckmäßig, daß die EU eine Struktur anstrebt, nach der „Brüssel“ nur dort hilft,<br />

wo die einzelnen EU-Länder überfordert sind 1 , <strong>als</strong>o dem Subsidiaritätsprinzip<br />

folgt? Garantiert das nicht den einzelnen Ländern maximale Freiheit <strong>und</strong> minimalisiert<br />

das nicht gleichzeitig die EU -Bürokratie? Werden die EU-Mitglieder<br />

durch den 80.000 Seiten umfassenden (Ref. 7, S. 30) „acquis communautaire“<br />

bereichert oder bürokratisch stranguliert? Wurden diese Fragen ehrlich <strong>und</strong> in<br />

ausreichender Tiefe gestellt? Wurde über die besten Wege dazu nachgedacht?<br />

Und wurden deshalb die Konsequenzen gründlich überlegt?<br />

Maurice Obstfeld 10 schrieb: „The best way to maximize net benefits is to<br />

encourage economic integration while attacking concomittant distortions and<br />

other unwanted side effects.“ Die Nachteile lassen sich durch optimale Dämpfung<br />

minimalisieren. Könnte man darum nicht am besten wirtschaftlich schwächeren<br />

neuen EU -Mitgliedskandidaten die Möglichkeit er<strong>öffnen</strong> für eine Entwicklung,<br />

die sie aufholen läßt, so daß sie ökonomisch vergleichbar stark werden<br />

wie die alten EU-Länder, ohne daß bei diesen die durch die Globalisierung ohnehin<br />

auftretenden sozialen Probleme durch die EU-Erweiterung zusätzlich verschärft<br />

werden? Wilhelm Kohler 5 (S. 118) bringt die ökonomische Frage auf den<br />

Punkt: „Der Vorteil internationaler Wirtschaftsbeziehungen resultiert aus<br />

Arbeitsteilung, <strong>als</strong>o aus Tausch von exportierten Gütern gegen Importe.“<br />

Wer <strong>als</strong> Naturwissenschaftler schon seit Jahrzehnten mit Kollegen aus den verschiedensten<br />

Ländern der Welt zusammengearbeitet hat, weiß, daß auch dabei<br />

die Arbeitsteilung der Motor war für den optimalen Fortschritt der Erkenntnis.<br />

Diese Zusammenarbeit bewirkte auch eine fre<strong>und</strong>schaftliche Verb<strong>und</strong>enheit der<br />

Wissenschaftler <strong>und</strong> ihrer Familien. Deshalb leuchtet eine Befürwortung der<br />

Globalisierung <strong>und</strong> ein „Ja“ zur Osterweiterung ein. Ist deshalb aber eine Vollmitgliedschaft<br />

in der EU nach wenigen Jahren die beste Lösung? Könnte nicht<br />

eine „privilegierte Partnerschaft“ mit wenigen einfachen Regeln, die im Einklang<br />

sind mit dem Subsidiaritätsprinzip, die bilaterale Wechselwirkung des betreffenden<br />

Landes mit dem Rest der EU sich so entwickeln lassen, daß sie zum Vorteil<br />

wird für beide Partner? Muß das nach einer sinnvollen Übergangsperiode (Ref.<br />

6, S. 172) eine spätere Vollmitgliedschaft ausschließen?<br />

Gute Werke brauchen Zeit<br />

Welche Zeitspanne ist für eine solche Entwicklung angemessen? Nur die Erfahrung<br />

kann uns diese Frage am besten beantworten, nicht der menschlich begreif-<br />

21


are Wunsch nach „sofort“. Hat nicht genau das einen Politiker bewogen, „blühende<br />

Landschaften“ zu versprechen mit der Konsequenz eines entsprechend<br />

hohen, aber unerfüllbaren Erwartungshorizonts? Ein Blick auf die deutsche Wiedervereinigung<br />

macht deutlich, daß 15 Jahre mit Sicherheit nicht genügen. Der<br />

Schriftsteller Erich Loest sagte in einem Interview 11 : „Das dauert sehr lange, bis<br />

das in Fleisch <strong>und</strong> Blut übergeht. Das ist bei weitem nicht so geschehen. Dagegen<br />

haben die Leute sehr schnell, geradezu minutenschnell begriffen, was das<br />

heißt: Reisefreiheit. Dieser (Einigungs-) Prozeß wird nicht vollzogen sein in 25<br />

Jahren, wie ich einmal hoffte, sondern noch viel länger dauern.“ Nach dem Ende<br />

des zweiten Weltkriegs haben wir in Westdeutschland r<strong>und</strong> 40 Jahre gebraucht,<br />

bis wir wirtschaftlich stark waren. Der Criticus 12 schreibt (S. 5): „Die Alexander<br />

von Humboldt-Stiftung hat mehr <strong>als</strong> 50 Jahre gebraucht, um jene internationale<br />

Gemeinschaft zu werden, <strong>als</strong> die sie sich heute in 130 Nationen der Erde darstellt,<br />

eine Gemeinschaft, die sich <strong>als</strong> Familie fühlt, ... Könnte ihr Erfolgsrezept<br />

nicht auch ein Rezept für das an Sympathie <strong>und</strong> Zuneigung notleidende Europa<br />

sein?“ Und, wenn Kinder mancher Einwanderer selbst in der dritten Generation<br />

noch nicht genügend deutsch sprechen, legt das nahe, daß die natürliche Zeitspanne<br />

quantitativ mindestens eine, wenn nicht sogar zwei Generationen beträgt.<br />

Welcher Politiker – auch in der EU – hat den Mut, den Menschen das <strong>und</strong> damit<br />

die Wahrheit zu sagen <strong>und</strong> deutlich zu machen, daß gute Entwicklungen Zeit<br />

benötigen? Dadurch ließen sich viele Enttäuschungen der Bürger vermeiden. Bei<br />

sehr komplizierten Systemen kennt man zunächst die „Zeitkonstanten“ nicht.<br />

Um sie zu bestimmen, setzt man in der Physik das „System“ einer kleinen Störung<br />

aus, einer geringen „Kraftwirkung“, <strong>und</strong> beobachtet, wie das System darauf<br />

reagiert. Auf diese Weise gelingen Aussagen über das zeitliche Verhalten von<br />

Systemen, die sich einer Berechnung entziehen. Im praktischen Leben hat uns<br />

die Erfahrung gelehrt, daß bei Abläufen, die den Menschen betreffen, Zeiträume<br />

von mindestens einer Generation richtig sind.<br />

Es ist bekannt, daß die physikalischen Potentiale Kräfte verursachen, welche<br />

Systeme bewegen können, die ohne Dämpfung häufig Oszillationen ausgesetzt<br />

sind. Bei allen Meßgeräten wird Dämpfung angewandt, damit ein Zeigerausschlag<br />

sich rasch „einpendelt“. Eine Tsunami-Welle läßt sich leider nicht dämpfen.<br />

Die Konsequenzen sind bekannt. Beim Auto sorgen Stoßdämpfer an der<br />

Radaufhängung für angenehmes, ruhiges <strong>und</strong> zusätzlich sichereres Fahren.<br />

Dämpfung ist nicht einfach Bremsung, sondern sorgt für allmähliche Angleichung<br />

<strong>und</strong> Beruhigung. Sie hat <strong>als</strong>o entscheidende Vorteile. Trotzdem glauben<br />

viele Menschen, darauf verzichten zu können.<br />

Subventionen gedämpft ändern<br />

Kann man Dämpfung auch auf wirtschaftliche Systeme anwenden? Warum<br />

nicht? Als Beispiele könnten Subventionen, Eigenheimzulagen oder Kilometerpauschalen<br />

dienen. Wenn man solche Unterstützungsmaßnahmen nicht plötzlich<br />

an- oder abschaltet oder in größeren Sprüngen ändert, sondern durch einfache<br />

Regeln dafür sorgt, daß sie über eine angemessene, meist die natürliche Zeit-<br />

22


spanne, allmählich zu - oder abnehmen, dann werden sie dadurch „automatisch“<br />

gedämpft. Dazu braucht man nur die Unterstützungsmaßnahme um jährlich z. B.<br />

5% zu reduzieren, um somit nach 16 bzw. 32 Jahren einen gedämpften Abbau<br />

auf r<strong>und</strong> 46 bzw. 21% der ursprünglichen Unterstützung zu erreichen. Ein größerer/kleinerer<br />

Prozentsatz bewirkt eine stärkere/geringere Abnahme. Gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

ist es erwägenswert, ob man die letztlich geringen <strong>und</strong> wirtschaftlich nicht<br />

mehr bedeutenden Subventionen linear in mehreren Jahren auslaufen läßt oder,<br />

beispielsweise aus Gründen der Weiterentwicklung oder Erhaltung des Sachverstandes,<br />

eine Restsubvention im Sinne einer Forschungsförderung beibehält.<br />

Die gedämpfte Änderung von Subventionen bietet wesentliche Vorteile: Der<br />

Pendler kann planen, wie sich seine Fahrtenunterstützung entwickelt <strong>und</strong> wird<br />

danach seine Wohnentscheidung treffen <strong>und</strong> auch die für sein nächstes Auto. Der<br />

Bergmann wird seinen Kindern nicht mehr empfehlen, den Beruf des Vaters zu<br />

ergreifen. Und der Bauherr wird sich überlegen, welche Möglichkeit für ihn die<br />

beste ist. Auch die Bauindustrie kann sich auf allmähliche <strong>und</strong> vor allem berechenbare<br />

Änderungen besser einstellen. Kurz: Dämpfung sorgt für Planungssicherheit<br />

<strong>und</strong> dafür, daß Handlungen mit Bedacht getroffen werden können <strong>und</strong><br />

das Leben in ruhigeren, der Natur des Menschen eher entsprechenden Bahnen<br />

verlaufen kann. Auch der Wirtschaftsexperte Josef Stiglitz 13 plädiert für sanfte<br />

Entwicklung (S. 9). Vielleicht sollte man auch Änderungen bei der Besteuerung<br />

gedämpft vornehmen. Das Wort von Wolfgang Thielmann 14 „... das dauert Jahrzehnte.<br />

Eine schnelle Lösung gibt es nicht“ ist geradezu ein Aufruf, durch<br />

Dämpfung dafür zu sorgen, daß zeitlich zu rasche für Menschen hektische <strong>und</strong><br />

ges<strong>und</strong>heitsgefährdenden 15 Dauerstreß erzeugende Abläufe vermieden werden.<br />

Betrachtet man nun in Analogie zum physikalischen Potential die Löhne oder<br />

das Brutto-Inlandsprodukt (BIP) pro Person, dann bewirken unterschiedliche<br />

BIPs „Kräfte“, die Unternehmer veranlassen, die Produktion dorthin zu verlagern,<br />

wo das BIP/Person <strong>und</strong> speziell das Lohnniveau geringer ist. Solche „Kräfte“<br />

sind es auch, die Menschen aus Ländern mit niedrigem Lohnniveau veranlassen,<br />

in die Länder zu migrieren, in denen deutlich höhere Löhne gezahlt werden.<br />

Obstfeld 10 meint dazu: „Capital seeks out its most remunerative global use.“ Das<br />

versteht besonders, wer die nicht so ganz leicht durchschaubare physikalische<br />

Zustandsgröße Entropie kennt, die bei Reibung maximal, beim Betrieb von Maschinen<br />

mit hohem Wirkungsgrad aber weniger rasch zunimmt . Erfolgreiche<br />

Unternehmer <strong>und</strong> mutige Menschen, die Arbeit suchen, bemühen sich, „Reibungsverluste“<br />

zu minimalisieren. Die Arbeitsmigration wurde schon 4 Jahre vor<br />

der Osterweiterung von Kohler <strong>und</strong> Keuschnigg 16 angesprochen: „This is most<br />

clearly witnessed by a conspicuous absence of migration effects in the Commission`s<br />

own evaluation...“ (S. 329). Hat die EU-Kommission das inzwischen beherzigt?<br />

Wege zur EU-Erweiterung<br />

Wer nun bei der EU -Erweiterung – <strong>als</strong> erstes Szenario – unnatürlich schnelle<br />

Angleichung meint anstreben zu müssen, sollte sich vorher die Zahlen anse-<br />

23


hen 17,18 <strong>und</strong> einprägen: die Brutto-Inlands-Produkte BIPs pro Person <strong>und</strong> die<br />

Bevölkerungszahlen in den 15 alten <strong>und</strong> den 10 neuen EU-Ländern (EUROS-<br />

TAT 2003). Aus den EUROSTAT Daten 18 , den BIPs/Land, den BIPs/Kopf in<br />

den jeweiligen Ländern <strong>und</strong> den so berechenbaren Einwohnerzahlen für diese<br />

Länder erhält man für die alten 15 EU-Länder für 2003 ein gesamtes BIP (EU15)<br />

von ~ 9312 Mrd. Euro bei insgesamt ~ 381 Mio. Einwohnern <strong>und</strong> somit ein gemitteltes<br />

BIP/Kopf von ~ 24.440 Euro. Für die neuen 10 EU -Länder findet man<br />

für 2003 ein gesamtes BIP (EU10) von ~ 442 Mrd. Euro bei insgesamt ~ 73,7<br />

Mio. Einwohnern <strong>und</strong> daraus ein mittleres BIP/Kopf von 6.000 Euro. Hier wurden<br />

zur „allgemeinen Übersicht“ nur die integralen (jeweils aufsummierten)<br />

Daten der EU15 <strong>und</strong> der neuen 10 EU -Länder betrachtet.<br />

Nach den physikalischen Erhaltungssätzen, Naturgesetzen <strong>als</strong>o, würde die<br />

schnelle Angleichung (erstes Szenario), bei Vernachlässigung von Wachstum,<br />

einen jährlichen Transfer von ~ 1.140 Mrd. Euro aus den EU15 in die neuen 10<br />

EU-Länder erfordern. Das würde zu drastischen Turbulenzen führen. Für die<br />

EU15 wäre sie desaströs <strong>und</strong> schon deshalb für die neuen 10 Länder nicht erstrebenswert.<br />

Außerdem wäre sie für die neuen Länder verführerisch, würde eine nie<br />

zu erfüllende Erwartungshaltung wecken <strong>und</strong> wahrscheinlich mehr zum Konsum<br />

reizen anstatt zu langfristig wichtigen Investitionen. Kohler 7 (S. 65) hat aber<br />

betont, „daß Wachstum ... immer Konsumverzicht verlangt“. Kann man das<br />

Modell des ersten Szenarios, d. h. die Annahme einer unnatürlich schnellen Angleichung,<br />

an einem Beispiel testen <strong>und</strong> so herausfinden, ob es <strong>als</strong> Modell für<br />

wirtschaftliche Integration <strong>und</strong> Aufschwung geeignet ist? Durchaus! Hierfür gilt<br />

es die Frage zu beantworten, ob die Art <strong>und</strong> Weise, wie die deutsche Wiedervereinigung<br />

angegangen worden ist, besonders erfolgreich war. Nach immerhin 15<br />

Jahren kann sich jeder diese Frage selbst beantworten, besonders, wenn man<br />

seinen Blick auf die hohe Arbeitslosigkeit in Ost-Deutschland richtet. Auch bei<br />

der Wiedervereinigung war nämlich auf Dämpfung verzichtet worden, obwohl<br />

West- <strong>und</strong> Ostdeutschland sich in den vorausgegangenen 45 Jahren wesentlich<br />

auseinanderentwickelt hatten. Das <strong>und</strong> die EUROSTAT Daten 18 sollten jedermann<br />

davon überzeugen, daß eine unnatürlich schnelle Aufnahme anderer Länder<br />

in die EU weder sinnvoll noch zweckmäßig ist. Nur das richtige Tempo<br />

garantiert eine erfolgreiche Integration. Haben die Entscheidungsträger der EU<br />

aus der deutschen Wiedervereinigung genügend gelernt?<br />

Der Blick auf die Tabellen 18 ist auch deshalb lohnend, weil er auch Randeffekte<br />

deutlich macht, die nicht nur im geographischen Sinn verstanden werden dürfen.<br />

Wer tiefer nachdenkt, erkennt, daß auch die vorhandene Infrastruktur, die Lohnkosten<br />

mit allen Details, die Vorschriften <strong>und</strong> Regulierungen, das Steuersystem<br />

<strong>und</strong> das allgemeine Bildungsniveau <strong>als</strong> generalisierte Randbedingungen berücksichtigt<br />

werden müssen. Auch die Toleranz gegenüber Anders- oder Ungläubigen<br />

<strong>und</strong> deren Akzeptanz <strong>und</strong> Integrationsbereitschaft in eine Gesellschaft mit<br />

demokratischen Gr<strong>und</strong>strukturen ist eine wichtige Randbedingung. Man könnte<br />

zwar auch die Bürokratie, die Gesamtheit der unnötigen Vorschriften <strong>und</strong> Regelungen,<br />

zu den Randbedingungen zählen. Bürokratie ist aber eigentlich wie eine<br />

Seuche, die sich weltweit ausgebreitet hat, wünschenswerte wirtschaftliche Ent-<br />

24


wicklungen <strong>und</strong> Existenzgründungen erschwert, den wirtschaftlich ges<strong>und</strong>en<br />

Organismus schwächt <strong>und</strong> lähmt <strong>und</strong> Korruption fördert. Sollte man sie deshalb<br />

nicht auch wie eine Seuche behandeln?<br />

Der sinnvollste Weg für eine EU Erweiterung ist der über gedämpftes Wachstum,<br />

das zweite Szenario. Auch dafür genügt es, Mittelwerte zu betrachten.<br />

Wenn man sich für die EU15 mit einem jährlichen Wachstum von beispielsweise<br />

nur 2% pro Jahr begnügen könnte – nach Stiglitz 13 ist Wachstum essentiell –,<br />

dann würde dort in 32 Jahren das mittlere BIP von ~ 24.440 Euro auf ~ 46.000<br />

Euro anwachsen. Wenn in diesen 32 Jahren die neuen Länder mit einem mittleren<br />

BIP von nur ~ 6.000 Euro in 2003 zu einem BIP von ebenfalls ~ 46.000 Euro<br />

aufholen wollen, müßte bei ihnen im Mittel das jährliche Wachstum fast 6,6%<br />

betragen, ein sehr starkes Wachstum über viele Jahre. Das ist nur möglich, wenn<br />

durch optimale Dämpfung sich die Wirtschaft der ökonomisch schwächeren<br />

Länder rascher entwickelt <strong>und</strong> in den alten EU-Ländern weniger stark, so daß<br />

nach der natürlichen Zeitspanne von grob einer Generation alle 25 EU-Länder im<br />

Mittel wirtschaftlich gleich stark sind (gleiche BIPs).<br />

Läßt sich das Modell des 2. Szenarios auch testen? Das ist nicht so einfach, weil<br />

es keinen halbwegs ähnlich gelagerten Präzedenzfall gibt, in dem vergleichbar<br />

viele ehemalige Ostblockländer einer größeren Gruppe von Staaten angegliedert<br />

wurden, in denen das Leben nach marktwirtschaftlichen Gesetzen verläuft. Dennoch<br />

ist ein ziemlich aufschlußreicher Test möglich, bedingt durch die Tatsache,<br />

daß die „Wende“ für die meisten Ostblockländer, die 2004 der EU beigetreten<br />

sind, schon mehr <strong>als</strong> 10 Jahre zurückliegt. Diese Zeit reichte vielleicht für die<br />

„systemische Transformation“ (Ref. 19, S. 91), eine Anpassung an die globalisierte<br />

Welt <strong>und</strong> eine Fort- <strong>und</strong> Hinentwicklung dieser Ostblockstaaten zu den<br />

EU-Nachbarn, mit denen sehr bald nach der Wende wirtschaftliche Kontakte<br />

geknüpft worden waren. Deshalb macht es Sinn, einen Blick auf die letzten Jahre<br />

zu werfen, die der Aufnahme dieser Länder in die EU vorausgingen <strong>und</strong> die<br />

Vorhersage nach dem 2. Szenario mit den Daten (EUROSTAT Jahrbuch 20 2004,<br />

S. 40 <strong>und</strong> S. 118) zu vergleichen.<br />

Dabei werden zur „allgemeinen Übersicht“ wiederum nur integrale Daten betrachtet.<br />

In Ref. 20, S. 118 werden Kaufkraftstandards (KKS) pro Kopf angegeben,<br />

die ab 2002 allerdings einer Prognose entstammen. Die EU benötigt <strong>als</strong>o<br />

mehr <strong>als</strong> 2 Jahre, um endgültige Zahlen zu ermitteln, wofür man Verständnis<br />

haben kann. Wie lange Zeit brauchen aber Länder, um wirtschaftlich einen BIP-<br />

Faktor 4 (24.440/6.000) aufzuholen, <strong>und</strong> wie lange Zeit benötigen Menschen um<br />

sich mental <strong>und</strong> auch bezüglich ihrer Lebensgewohnheiten umzustellen? Mindestens<br />

eine Generation! Keuschnigg <strong>und</strong> Kohler 19 meinen (S. 123) „...it may<br />

take more than four decades for transition economies to reach their steady-state<br />

levels...“ (vgl. auch Ref. 4, S. 201). Bedenken das die Entscheidungsträger der<br />

EU bei dem von ihnen geplanten Erweiterungstempo?<br />

Auf S. 40 des EUROSTAT Jahrbuchs 20 für 2004 werden für das Jahr 2000 auch<br />

die Bevölkerungszahlen der EU15 <strong>und</strong> EU25 angegeben. Für die EU10, die<br />

neuen Mitgliedsländer, kann man sie aus der Differenz dieser Zahlen berechnen.<br />

Die relevanten Einwohnerzahlen sind dann für die EU15 (2000): 376,956 Mio.<br />

25


<strong>und</strong> für die EU10 (2000): 74,885 Mio. Für 2004 werden leider keine Zahlen<br />

angegeben. Man kann sie aber durch lineare Extrapolation aus den Zahlen für<br />

2002 <strong>und</strong> 2003 abschätzen <strong>und</strong> findet dann für die EU15 (2004): 382,348 Mio.<br />

<strong>und</strong> für die EU10 (2004): 73,733 Mio. Personen. Danach ist von 2000 bis 2004<br />

die Bevölkerungszahl in den EU15 um 5,392 Mio. Menschen gewachsen, aber<br />

für die EU10 um 1,152 Mio. zurückgegangen. Migration?<br />

Für den Test ist es notwendig, anstatt der BIPs pro Land die KKS zu betrachten<br />

<strong>und</strong> zur allgemeinen Übersicht die mittleren KKS. Für die EU15 <strong>und</strong> das Jahr<br />

2000 erhält man den Mittelwert des KKS, indem man für jedes der 15 Länder<br />

das Produkt bildet aus der Einwohnerzahl des Landes (Ref. 20, S. 40) in 2000<br />

<strong>und</strong> dem KKS pro Kopf, ebenfalls für 2000 (Ref. 20, S. 118), diese 15 Produkte<br />

addiert <strong>und</strong> die Summe durch die Gesamtzahl der Einwohner der EU15 in 2000<br />

teilt. So findet man KKS (EU15, mittel, 2000) = 22.663. Analog ist KKS (EU15,<br />

mittel, 2004) = 25.210. Für die neuen Mitgliedsländer findet man KKS (EU10,<br />

mittel, 2000) = 10.372 <strong>und</strong> KKS (EU10, mittel, 2004) = 12.516. Aus diesen<br />

mittleren KKS erhält man Wachstumsraten für die EU15 einerseits <strong>und</strong> für die<br />

EU10 andererseits. Und auf die Frage, wie lange es dauert, bis die mittleren KKS<br />

Werte für die EU15 denen für EU10 Ländern gleichen, findet man <strong>als</strong> Antwort:<br />

34 Jahre! Das ist in vorzüglicher Übereinstimmung mit der Annahme, daß bei<br />

gedämpftem Wachstum 32 Jahre erforderlich sind, bis Angleichung der EU10<br />

Länder an die EU15 Länder erreicht ist. Eine Bestätigung des zweiten Szenarios!?<br />

Eine verläßliche Vorhersage ist dennoch nicht möglich, denn die betrachteten<br />

Zahlen stammen aus den vier Jahren vor dem Beitritt der EU10 in die EU. Seit<br />

Mai 2004 sind aber die Regeln andere. Der EU-Beitritt schafft weitere Möglichkeiten,<br />

die einen zusätzlichen Wachstumsschub in den neuen Mitgliedsländern<br />

bewirken werden, bedingt auch durch die Tatsache, daß die Zahl der arbeitslosen<br />

Menschen in den neuen Ländern größer ist <strong>als</strong> in den EU15. Die Perspektive für<br />

die EU15 ist im Mittel ein weiterer Export von Arbeitsplätzen <strong>und</strong> Migration,<br />

was wir derzeit in unserm Land besonders deutlich erleben, da die bevölkerungsreichsten<br />

neuen EU Mitglieder direkt an der Ostgrenze Deutschlands oder unweit<br />

davon leben (Randwertproblem!). Die Beschränkung auf die „allgemeine Übersicht“<br />

erlaubt es nicht, quantitativ abzuschätzen, wer von den EU15 zu den Gewinnern<br />

oder Verlierern der Osterweiterung gehören wird. Dafür benötigt man<br />

ein sehr leistungsfähiges Modell. Nach Kohler 3 beträgt der finanzielle Gewinn<br />

durch die Osterweiterung für die EU15 insgesamt 0,3% des GNP (S. 865). Für<br />

Deutschland allein gibt Kohler (S. 886) 1,1% an. Nach den EUROSTAT Zahlen<br />

18 sind das 29 Mrd. Euro für die EU15 <strong>und</strong> 23 Mrd. Euro für Deutschland.<br />

Diese Zahlen sollte man vergleichen mit den 39 Mrd. Euro, die im ersten Halbjahr<br />

2005 dem B<strong>und</strong>, den Ländern, den Gemeinden <strong>und</strong> den Sozialversicherungen<br />

fehlten 21 oder der Stabilitätspaktverletzung in Höhe von 3,7% des BIP, <strong>als</strong>o<br />

r<strong>und</strong> 80 Mrd. Euro für Deutschland. Noch eindrucksvoller ist ein Vergleich mit<br />

den „expliziten Staatsschulden“ für Deutschland in Höhe von 1437 Mrd. Euro 21<br />

oder gar mit den „impliziten Staatsschulden“, die allein inzwischen 5700 Mrd.<br />

Euro 22 ausmachen.<br />

26


Schon 1999 hat Kohler 7 (S. 72) festgestellt: „Selbst wenn ein Land ... zu den<br />

Gewinnern ... gehört, werden einzelne Gruppen innerhalb dieses Landes mitunter<br />

zu den Verlierern zählen.“ Zählt vielleicht der B<strong>und</strong>esfinanzminister zu den<br />

größten Verlierern? Für die alten EU15 Länder bedeutet die „Osterweiterung“<br />

eine Herausforderung. Die bei uns in die Arbeitslosigkeit entlassenen Menschen<br />

müssen nun vom Staat, d. h. durch die Steuern der arbeitenden Bevölkerung<br />

unterstützt werden. Frenkel <strong>und</strong> Menkhoff 23 (S. 262) fordern dazu eine „ordnungspolitische<br />

Rahmensetzung“, die das Risiko ausschließt, daß Gewinne privatisiert<br />

werden <strong>und</strong> Verluste von der Gemeinschaft getragen werden müssen.<br />

Darum ist es wichtig, daß jeder Staat dafür sorgt, daß die Verluste derjenigen,<br />

die ohne Verschulden durch Maßnahmen wie die EU -Erweiterung Benachteiligung<br />

erfahren, adäquat ausgeglichen werden. Dieses Problem spricht auch Kohler<br />

5 an (S. 139). Haben die Entscheidungsträger der EU darüber nachgedacht?<br />

Sollte man das Wort von Markus Schöneberger 24 - „Ganz offensichtlich wurde<br />

versäumt, im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen auch Schutzklauseln <strong>und</strong><br />

Übergangsfristen zu vereinbaren“ - ignorieren oder einsehen, daß auch <strong>hier</strong> die<br />

Notwendigkeit von Dämpfung angesprochen wird? Welche EU-Wirtschafts -<br />

politik fördert die europäische Zusammenarbeit am besten?<br />

Ein flüchtiger Blick in die Zukunft<br />

Falls sehr bald die Balkanstaaten Rumänien <strong>und</strong> Bulgarien <strong>als</strong> Mitglieder in die<br />

EU aufgenommen werden, wird sich nach den Daten des CIA Factbook 25 die<br />

nach dem ersten Szenario berechenbare Herausforderung, die durch die Osterweiterung<br />

entstanden ist, auf einen Faktor 1,32 vergrößern. Mit der Aufnahme<br />

der Türkei in die EU würde sie – ganz abgesehen von den kulturellen Diskrepanzen<br />

– auf den Faktor 1,92 anwachsen. Eine Aufnahme der Ukraine in die EU<br />

würde eine Steigerung der bereits existierenden <strong>und</strong> sich noch entwickelnden<br />

Herausforderung auf den Faktor 2,27 bewirken. Die Aufnahme der restlichen<br />

Balkanstaaten: Kroatien, Serbien mit Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien<br />

<strong>und</strong> Albanien bedeutet dann eine weitere Steigerung der Herausforderung<br />

der EU15 auf den Faktor 2,43, was dann für das erste Szenario einem jährlichen<br />

„Transfer“ von ~ 2770 Mrd. Euro in die seit 2004 in die EU aufgenommenen<br />

Länder entsprechen würde.<br />

Wie plant die EU -Führung in Kenntnis der Entwicklung der deutschen Wiedervereinigung<br />

diese Aufgabe zu bewältigen? Die Mißachtung natürlicher Zeitkonstanten<br />

bedingt bei den neuen Mitgliedstaaten eine überhitzte Entwicklung <strong>und</strong><br />

mit Sicherheit eine schwere Enttäuschung der verführerischen Erwartungshaltung.<br />

Und für die alten Länder ist sie überwiegend sehr schmerzlich. Gedämpftes<br />

Wachstum könnte in angemessener Zeit allen EU -Ländern eine konvergente<br />

Evolution ermöglichen. Noch besser ist es zukünftig, an der EU interessierten<br />

Ländern über eine privilegierte Partnerschaft einen Weg zu bereiten, der eine<br />

pragmatische Anbindung an die EU <strong>und</strong> je nach der Entwicklung des jeweiligen<br />

Landes später sogar eine volle Mitgliedschaft ermöglicht. Besitzt die EU genügend<br />

Sinn- <strong>und</strong> Sachkomp etenz, Besonnenheit <strong>und</strong> Geduld?<br />

27


Sehr wichtige Aufgaben, welche die EU auch im Rahmen der Globalisierung zu<br />

bewältigen hat, sind die Reduzierung der Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> die Bereitstellung<br />

von genügend preiswerter Energie 26 . Von Kyaw 27 hat bereits im Jahr 2000 festgestellt:<br />

„Ausreichend alternative Arbeitsplätze im ländlichen Raum müssen erst<br />

noch geschaffen werden.“ Heijdra, Keuschnigg <strong>und</strong> Kohler 4 haben die Frage der<br />

Arbeitslosigkeit sehr ausführlich untersucht, auch im Zusammenhang mit der<br />

Immigration (S.189). Ob nach diesen Erkenntnissen sich die Zahl der arbeitslosen<br />

Menschen auf ein erstrebenswertes Maß reduzieren läßt ist zweifelhaft, denn<br />

nach der Übersicht von Silke Linneweber 28 hat die Zahl der Arbeitslosen in<br />

Westdeutschland von Juni 2004 auf Juni 2005 von 8,1 auf 9,5% zugenommen<br />

<strong>und</strong> in Ostdeutschland von 18,1 auf 18,5%.<br />

Betrachtet man aber gleichzeitig die Energieproblematik, die verschärft wird<br />

durch die wirtschaftlich begrüßenswerten Entwicklungen in China <strong>und</strong> Indien,<br />

dann kann man sich fragen, ob ein Paradigmenwechsel bei der Produktion von<br />

Gütern nicht einen möglichen Ausweg weisen könnte. Falls Güter modular so<br />

gefertigt würden, daß „kritische“, meistens elektronische Teile, leicht austauschbar<br />

wären, dann ließe sich die Lebensdauer vieler Produkte wesentlich steigern.<br />

So könnte Energie nicht nur effizienter genutzt, sondern auch unnötige Ve r-<br />

schrottung vermieden werden, was den Rohstoffbedarf senkt. Dadurch wird<br />

wirkungsvoller rezykliert, was Energ ie spart. 29 Entscheidend ist, daß derzeit<br />

arbeitslose Menschen dann mit Reparaturarbeiten sinnvoll beschäftigt werden<br />

könnten. Es wäre interessant zu erfahren, ob diese Frage mit Kohlers Modell<br />

wirtschaftswissenschaftlich quantitativ untersucht werden könnte. Es gibt zahlreiche<br />

Möglichkeiten, kurzfristig, mittelfristig <strong>und</strong> langfristig „durch intelligente<br />

<strong>und</strong> effiziente Maßnahmen“ 26 Energie einzusparen.<br />

28<br />

Das EU-Problem: intolerante Religionen<br />

Wenn man aus dem Blickwinkel des Physikers so weit geht <strong>und</strong> versucht, Naturgesetze<br />

sogar auf kulturelle Fragestellungen anzuwenden, dann gilt ebenfalls,<br />

daß Potentialunterschiede Kräfte bewirken. Identifiziert man darum nun die<br />

Religionen mit Potentialen, so wird unmittelbar klar: Bei toleranten Religionen<br />

sind die Kräfte beherrschbar, bei intoleranten 30 nicht. Gegenüber religiös intoleranten<br />

Menschen kann man sich nur fair verhalten, aber man muß Distanz wahren.<br />

Der in Ankara geborene <strong>und</strong> in Deutschland lebende Schriftsteller Zafer<br />

Senocak 31 spricht die Probleme in der Türkei offen an: „Wer Flugblätter verteilt,<br />

gilt in den Augen der türkischen Sicherheitsorgane schon <strong>als</strong> Provokateur. So<br />

denkt man in totalitären Staaten, nicht aber in Demokratien.“<br />

Die Problematik religiöser nicht-muslimischer Gruppen wird in dem Artike l von<br />

Thomas Gutschker 32 ausführlich dargestellt. Aus diesem Gr<strong>und</strong> ist die Mitgliedschaft<br />

eines Landes, wo Demokratie nicht verwirklicht ist <strong>und</strong> in dem Anders -<br />

oder Ungläubige nicht mit völliger Sicherheit die gleichen Rechte genießen wie<br />

die Einheimischen, in der EU ausgeschlossen. Peter Glotz 33 schrieb 2004: „Noch<br />

problematischer würde das alles, wenn die EU am Ende des Jahres beschlösse,<br />

mit der Türkei Aufnahmeverhandlungen zu führen. Eine EU mit der Türkei wäre<br />

eine Freihandelszone ohne politische Handlungsfähigkeit.“ Und er fragt zu


Recht: „Was, bitte, ist die Systematik, die hinter dieser Verhandlungspraxis<br />

steht?“ Darum ist die privilegierte Partnerschaft die einzige Möglichkeit, solchen<br />

Ländern wirtschaftlich wie kulturell die beste Unterstützung angedeihen zu lassen,<br />

weil zügig Beziehungen aufgenommen werden können, die unter Berücksichtigung<br />

der jeweiligen geographischen, wirtschaftlichen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Randbedingungen dem Land <strong>als</strong> EU -Partner optimal nützen.<br />

Der Ausweg<br />

In der Physik sorgt die Entropie z. B. für die Einstellung eines dynamischen<br />

Gleichgewichts. Wer sorgt für die Einstellung eines dynamischen ökonomischen<br />

Gleichgewichts in der EU oder weltweit <strong>und</strong> zwar zwischen Mensch <strong>und</strong> Ökonomie?<br />

Auch das könnte durch Dämpfung gelingen, wenn man dabei den natürlichen<br />

Zeitraum von mindestens einer Generation <strong>als</strong> f<strong>und</strong>amentale Zielgröße,<br />

das rechte Maß für jede Entwicklung, die den Menschen betrifft, berücksichtigt.<br />

Ist es mit der Menschenwürde verträglich, wenn ein Manager der Ökonomie<br />

oberste Priorität einräumt <strong>und</strong> von seinen Mitarbeitern verlangt, daß sie an jedem<br />

Ort jederzeit verfügbar sind, was er für sich nie akzeptieren würde, in krasser<br />

Verletzung des Gr<strong>und</strong>satzes „Was du nicht willst, daß man dir tu`, das füg auch<br />

keinem andern zu“? Warum wollen wir nicht einsehen, daß der Mensch den<br />

natürlichen Zeitraum von einer Generation benötigt, um in einem hinreichend<br />

langfristigen Arbeitsverhältnis seine Fähigkeiten voll zu entwickeln für hochwertige<br />

Leistungen an seinem Arbeitsplatz, um sich häuslich niederzulassen, eine<br />

Familie zu gründen, Kindern das Leben zu schenken <strong>und</strong> sie zu erziehen?<br />

Sind Spaß 34 <strong>und</strong> Wellness sinnstiftende F<strong>und</strong>amente des zwischenmenschlichen<br />

Lebens? Ist es richtig nur Ansprüche zu stellen, Rechte einzufordern <strong>und</strong> nach<br />

„Selbstverwirklichung“ zu streben, oder ist es notwendig, auch über Pflichten<br />

<strong>und</strong> Selbstbeteiligung nachzudenken <strong>und</strong> Eigeninitiative zu entwickeln? Wann<br />

hören die Politiker endlich damit auf, alles schönzureden? Wann schaffen sie<br />

klare Verhältnisse <strong>und</strong> sagen dem Bürger die Wahrheit? Unser Land braucht<br />

nicht Korruption <strong>und</strong> Verschleierung, sondern Ehrlichkeit <strong>und</strong> Vorbilder. Schadet<br />

es den Menschen, wenn sie sich auf die echten Werte besinnen? Erinnern wir<br />

uns doch an den jüdisch-christlichen Dekalog, nehmen wir ihn uns zu Herzen<br />

<strong>und</strong> handeln wir danach. Das könnte uns alle in die beste Zukunft geleiten.<br />

Anmerkungen<br />

*Mein besonderer Dank gilt Herrn Stefan Deges, der mir entscheidend geholfen hat, die<br />

EU-Daten zu bekommen <strong>und</strong> der mir direkt die Daten von Ref. 17 <strong>und</strong> 18 verfügbar<br />

gemacht hat. Von Herzen danke ich auch Herrn Prof. Wilhelm Kohler für die Zusendung<br />

seiner neueren Wissenschaftlichen Arbeiten über die EU-Erweiterung.<br />

1) Erwin Teufel: Nicht alles, sondern das Richtige tun – die EU soll leisten, was den<br />

Nation<strong>als</strong>taat überfordert. Interview im Rheinischen Merkur, Nr. 23, 2005, S. 9.<br />

2) Christoph Böhr: Wege aus der Abwärtsspirale. In: Rheinischer Merkur, Nr.10, 2005, S.<br />

4.<br />

29


3) Wilhelm Kohler: Eastern Enlargement of the EU: a comprehensive welfare assessment.<br />

In: Journal of Policy Modelling 26, 2004, 865-888.<br />

4) Ben J. Heijdra, Christian Keuschnigg, and Wilhelm Kohler: Eastern Enlargement of the<br />

EU: Jobs, Investment, and Welfare in Present Member Countries. In: Managing European<br />

Union Enlargement, Edited by Helge Berger and Thomas Moutons, CES, The MIT Press,<br />

Cambridge, Massachusetts and London, England.<br />

5) Wilhelm Kohler: Die Osterweiterung der EU aus der Sicht bestehender Mitgliedsländer:<br />

Was lehrt uns die Theorie der ökonomischen Integration? In: Perspektiven der Wirtschaftspolitik<br />

1, 2000, 115-141.<br />

6) Wilhelm Kohler and Christian Keuschnigg: An Incumbent Country View on Eastern<br />

Enlargement of the EU. In: Empirica 28, 2001, 159-185.<br />

7) Wilhelm Kohler: Wer gewinnt, wer verliert durch die Osterweiterung der EU? In:<br />

Jahrestagung des Vereins für Sozialpolitik, Gesellschaft für Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften,<br />

Mainz 1999, Erweiterung der EU. Herausgeber: Lutz Hoffmann: Duncker &<br />

Humboldt, Berlin.<br />

8) Der frühere Präsident des Institut de Physique Nucleaire et de Physique Particule, Prof.<br />

Dr. Jean Yoccoz, sagte mir bei meinem Besuch in Paris: the real problem we have to<br />

solve in our world is fair sharing.<br />

9) Otto W. B. Schult: Zur Dämpfung der Globalisierung. In: Die Neue Ordnung 58, 2004,<br />

264-279.<br />

10) Maurice Obstfeld: The Global Capital Market: Benefactor or Menace? In: Journal of<br />

Economic Perspectives, 12, Nr. 4, Fall 1998, 9-30.<br />

11) Erich Loest: „Wir bleiben das Volk“. Der Schriftsteller über gesamtdeutsche Illusionen<br />

<strong>und</strong> den langen Weg aus der Krise. In: Rheinischer Merkur Nr. 40, 2005, S. 17.<br />

12) Criticus: In: Humboldt Kosmos Nr. 85, Juli 2005, 4.<br />

13) Josef Stiglitz: Die Schatten der Globalisierung, Berlin: Siedler Verlag, 2002.<br />

14) Wolfgang Thielmann: Das Kapital liegt an der Basis. In: Rheinischer Merkur, Nr. 10,<br />

2005, S. 23.<br />

15) Karl Bechter <strong>und</strong> Katja Gaschler: Aufbruch der Killerzellen. In: Gehirn & Geist Nr. 5,<br />

2004, 34.<br />

16) Wilhelm Kohler and Christian Keuschnigg: An Incumbent Country View on Eastern<br />

Enlargement of the EU. In: Empirica 27, 2000, 325-351.<br />

17) http://epp.eurostat.cec.eu.int/.<br />

18) Eurostat: Statistik kurz gefaßt Wirtschaft <strong>und</strong> Finanzen 8/2005, Volkswirtschaftliche<br />

Gesamtrechnungen. Autor: Luis Biedma: Das Bruttoinlandsprodukt 2003, Tabelle T2 (für<br />

BIP/Land), Tabelle T6 (für BIP/Kopf).<br />

19) Christian Keuschnigg and Wilhelm Kohler: Innovation, capital accumulation, and<br />

economic transition. In: Dynamic Issues in Applied Commercial Policy Analysis. Edited<br />

by Richard E. Baldwin and Joseph F. Francois, Cambridge University Press, Cambridge,<br />

United Kingdom, 1999, 89-137, ISBN 0 521 64171 3.<br />

20) Eurostat Jahrbuch 2004.<br />

21) Stefan Deges: persönliche Mitteilung (aus der taz vom 25. 8. 2005).<br />

22) Edgar Beitzen: persönliche Mitteilung.<br />

30


23) Michael Frenkel <strong>und</strong> Lukas Menkhoff: Neue internationale Finanzarchitektur: Defizite<br />

<strong>und</strong> Handlungsoptionen. In: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 1, <strong>Heft</strong> 3, 2000, 259-<br />

273.<br />

24) Markus Schöneberger: Beruhigungspillen. In: Rheinischer Merkur, Nr. 15, 2005, S. 4.<br />

25) www.cia.gov/cia/publications/factbook/ Guide to Country Profiles.<br />

26) Sabine Seeger: Energiepreise – EU Kommissar Andris Piebalgs über das Risiko, von<br />

fossilen Brennstoffen abhängig zu sein. „Atomkraft bleibt wichtig“. Europa steckt in<br />

einem Abwärtssog: Mit den Stromkosten steigt die Arbeitslosigkeit, sagt der lettische<br />

Politiker. An ein Entrinnen glaubt er nicht. In: Rheinischer Merkur, Nr. 31, 2005, S. 14.<br />

27) Dietrich von Kyaw: Dorthin, wo die Sonne aufgeht – Europa / Kann die EU Ihre<br />

Erweiterung nach Osten <strong>und</strong> Südosten verkraften? In: Rheinischer Merkur, Nr. 16, 2000,<br />

S. 3.<br />

28) Silke Linneweber: Albtraum Arbeitsmarkt – Vor genau drei Jahren versprach der<br />

B<strong>und</strong>eskanzler, mit den Hartz-Reformen die wirtschaftliche Krise zu beenden. Der Plan<br />

ist gescheitert. Lohnkosten / Mehr Beschäftigung – aber wie? Warten aufs Jobw<strong>und</strong>er. In<br />

Rheinischer Merkur, Nr. 31, 2005, S. 7.<br />

29) Alexander Robinson: Mülltrennung spart Energie. In: Rheinischer Merkur, Nr. 31,<br />

2005, S. 34.<br />

30) Hans-Peter Raddatz: Lizenz zum Töten – Koran: Für unantastbar halten die Muslime<br />

ihr heiliges Buch. Die Islamisten ziehen daraus grausame Konsequenzen. In: Rheinischer<br />

Merkur, Nr. 47, 2005, S. 20.<br />

31) Zafer Senocak: Helden im Mythenmantel – Türkei: Beharrlich leugnet der Staat des<br />

Mustafa Kemal Atatürk seine blutige Geschichte. Wer das hehre Selbstbild des Landes in<br />

Frage stellt, muß mit Repressalien rechnen. In: Rheinischer Merkur, Nr. 19, 2005, S. 21.<br />

32) Thomas Gutschker: Im rechtsfreien Raum – Türkei / Christliche Gemeinden werden<br />

überwacht wie Staatsfeinde. Aber sie können sich nicht wehren. In: Rheinischer Merkur<br />

N. 31, 2005, S. 25.<br />

33) Peter Glotz: Zeit zur Vertiefung – Grenzen / Die EU darf kein lockerer Völkerb<strong>und</strong><br />

werden. In: Rheinischer Merkur, Nr. 18, 2004, S. 7.<br />

34) Peter Hahne: Schluß mit Lustig! Das Ende der Spaßgesellschaft, Lahr: Johannis Verlag,<br />

2005, ISBN 3-501-051080-8.<br />

Prof. em. Dr. Otto W. B. Schult arbeitet im Institut für Kernphysik am Forschungszentrum<br />

Jülich.<br />

31


Otmar Oehring<br />

Die Türkei – auf dem Weg wohin?<br />

Daß sich die EU -Außenminister am 3. Oktober 2005 für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen<br />

mit der Türkei entschieden haben, ist gut – zumal damit über<br />

den Ausgang der Beitrittsverhandlungen, die ergebnisoffen geführt werden sollen,<br />

noch nichts ausgesagt ist. Denn niemand kann heute absehen, ob die Beitrittsverhandlungen<br />

überhaupt zu Ende geführt werden, oder ob sie nicht schon<br />

vorher abgebrochen werden bzw. mit einem anderen Ziel (Privilegierte Partnerschaft,<br />

abgestufte Integration o.a.) weitergeführt werden.<br />

Wären die Beitrittsverhandlungen nicht aufgenommen worden, hätte dies zu<br />

einer Stärkung der chauvinistischen Nationalisten <strong>und</strong> der Anhänger der türkisch-islamischen<br />

Synthese geführt. Wären die Beitrittsverhandlungen nicht<br />

aufgenommen worden, wäre in der Türkei aber auch das zarte Pflänzlein Demokratie<br />

ausgetreten worden, das erst noch richtig erblühen muß. Wären die Beitrittsverhandlungen<br />

nicht aufgenommen worden, dann hätten die Menschenrechte<br />

– denken wir z.B. an die Frauenrechte oder an Religionsfreiheit – auch weiterhin<br />

keine Chance. Wären die Beitrittsverhandlungen nicht aufgenommen worden,<br />

würden viele Tabus, über die nun zunehmend offen <strong>und</strong> kontrovers diskutiert<br />

wird – man denke an den Armeniergenozid, an die anti-griechischen Pogrome,<br />

an das sogenannte Kurdenproblem <strong>und</strong> vieles andere – Tabus bleiben.<br />

Und dennoch sind all jene europäischen Politiker, die in den beiden letzten Jahren<br />

wider besseres Wissen der Entscheidung zugunsten der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen<br />

das Wort geredet haben, aufs heftigste zu kritisieren. Die<br />

Entscheidung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei hätte<br />

nämlich schlicht nicht fallen dürfen, hätten sich die europäischen Politiker an die<br />

von ihnen selbst formulierten Bedingungen gehalten, weil die Voraussetzungen<br />

dafür auch weiterhin nicht gegeben sind.<br />

Als Bedingungen für einen Beitritt hatte die EU 1993 auf dem Europäischen Rat<br />

von Kopenhagen drei Gruppen von Kriterien formuliert, die sogenannten „Kopenhagener<br />

Kriterien“, die alle Beitrittsländer erfüllen müssen:<br />

- Das „politische Kriterium“: Institutionelle Stabilität, demokratische <strong>und</strong> rechtstaatliche<br />

Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung <strong>und</strong> Schutz<br />

von Minderheiten.<br />

- Das „wirtschaftliche Kriterium“ : Eine funktionsfähige Marktwirtschaft <strong>und</strong> die<br />

Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck innerhalb des EU-Binnenmarktes standzuhalten.<br />

- Das „Acquis -Kriterium“: Die Fähigkeit, sich die aus einer EU-Mitgliedschaft<br />

erwachsenden Verpflichtungen <strong>und</strong> Ziele zu eigen zu machen, das heißt: Übernahme<br />

des gemeinschaftlichen Regelwerkes, des „gemeinschaftlichen Besitz-<br />

32


standes“, <strong>als</strong>o des acquis communautaire, der gegenwärtig ungefähr 80.000 Seiten<br />

Rechtstexte umfaßt.<br />

Entscheidend für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sollte die weitgehende<br />

Erfüllung des „politischen Kriteriums“ sein. In der am 6. Oktober 2004<br />

veröffentlichten Empfehlung zu den Fortschritten der Türkei auf dem Weg zum<br />

Beitritt 1 stellt die Europäischen Kommission fest, daß sie „in Anbetracht der<br />

bereits erreichten allgemeinen Fortschritte im Reformprozeß <strong>und</strong> unter der Vo r-<br />

aussetzung, daß die … noch ausstehenden Gesetze 2 in Kraft treten, … der Auffassung<br />

[sei], daß die Türkei die politischen Kriterien in ausreichendem Maß<br />

erfülle“ <strong>und</strong> empfiehlt die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen. Die Kommission<br />

äußerte gleichzeitig die Erwartung, daß „die Unumkehrbarkeit des Reformprozesses,<br />

seine Umsetzung insbesondere im Hinblick auf die Gr<strong>und</strong>freiheiten,<br />

… sich über einen längeren Zeitraum bestätigen“ müssen.<br />

Strenggenommen hätte der damalige EU -Erweiterungskommissar Günter Verheugen<br />

der EU-Kommission im Oktober 2004 überhaupt kein Papier über eine<br />

an den Europäischen Rat zu richtende Empfehlung über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen<br />

mit der Türkei zur Beschlußfassung vorlegen dürfen. So<br />

hatte Verheugen bei einem Gespräch am 15. Juli 2004, bei dem ihm Vertreter<br />

von Menschenrechtsorganisationen ihre Einschätzung der Lage in der Türkei<br />

vortrugen, mir gegenüber bestätigt, daß sich etwa die von mir vorgetragenen<br />

Defizite im Hinblick auf die Religionsfreiheit <strong>und</strong> den Rechtsstatus der nichtmuslimischen<br />

Minderheiten, mit den Erkenntnissen der EU -Kommission deckten.<br />

Daß die erwähnten Defizite im Oktober 2004 noch fortbestanden, ist dem<br />

ebenfalls am 6. Oktober 2004 veröffentlichten Regelmäßigen Bericht über die<br />

Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt 3 der EU-Kommission zu entnehmen,<br />

den dam<strong>als</strong> noch Günter Verheugen verantwortete.<br />

Wie im Hinblick auf die Themenfelder Religionsfreiheit <strong>und</strong> Rechtsstatus der<br />

nicht-muslimischen Minderheiten hat sich auch in vielen anderen, die Menschenrechte<br />

tangierenden Themenfeldern, im letzten Jahr in der Türkei nichts oder nur<br />

sehr wenig bewegt. Im Fortschrittsbericht 2005, den die EU -Kommission am 9.<br />

November 2005 vorgelegt hat, hagelt es deshalb auch Kritik. Und passagenweise<br />

liest sich der Fortschrittsbericht 2005 wie eine Abschrift des letztjährigen Fortschrittsberichts.<br />

Anzuerkennen ist immerhin, daß die sechs Gesetze, deren Verabschiedung in der<br />

am 6. Oktober 2004 veröffentlichten Empfehlung zu den Fortschritten der Türkei<br />

auf dem Weg zum Beitritt <strong>als</strong> Vorbedingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen<br />

genannt war, mittlerweile verabschiedet worden sind. Sieht man<br />

allerdings die Kopenhagener Kriterien – <strong>und</strong> <strong>hier</strong> insbesondere das sogenannte<br />

politische Kriterium – weiterhin <strong>als</strong> die Basis für die Diskussion über die Aufnahme<br />

von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, sind die Voraussetzungen für<br />

die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen eigentlich noch immer nicht erfüllt.<br />

Denn institutionelle Stabilität, demokratische <strong>und</strong> rechtstaatliche Ordnung, Wahrung<br />

der Menschenrechte sowie Achtung <strong>und</strong> Schutz von Minderheiten können<br />

nach herrschender Meinung eigentlich nicht schon deshalb <strong>als</strong> gegeben erachtet<br />

werden, weil dies von Rechtsnormen so postuliert wird. Und das ist genau das<br />

33


Problem, dem sich die Türkei auch weiterhin widmen muß. Es reicht eben nicht<br />

aus, Gesetze zu erlassen, sich aber nicht um ihre Anwendung zu kümmern bzw.<br />

diese gar zu behindern. Und es ist erst recht intolerabel, wenn neue Rechtsvorschriften,<br />

die die Türkei reif für Europa machen sollen, schlicht dadurch umgangen<br />

werden, daß findige Staatsanwälte <strong>und</strong> Richter fortbestehende Rechtsvorschriften,<br />

die sich auf ganz andere Sachverhalte beziehen, so uminterpretieren,<br />

daß sie die Verurteilung für Sachverhalte ermöglichen, die mittlerweile gar nicht<br />

mehr strafbewehrt sind.<br />

All das <strong>und</strong> noch viel mehr haben die Außenminister der 25 EU-Mitgliedsstaaten<br />

gewußt, <strong>als</strong> sie sich in den späten Nachtst<strong>und</strong>en des 3. Oktober 2005 auf die<br />

genau für diesen 3. Oktober 2005 in Aussicht gestellte Eröffnung von Beitrittsverhandlungen<br />

mit der Türkei einigten.<br />

So war es für die EU-Kommission <strong>und</strong> die EU-Mitgliedsstaaten eigentlich <strong>und</strong>enkbar,<br />

daß es Beitrittsverhandlungen zwischen der Republik Türkei <strong>und</strong> den<br />

25 EU-Mitgliedsstaaten geben kann, solange das neue EU -Mitglied Zypern von<br />

der Türkei nicht völkerrechtlich anerkannt wird. Da nicht zu erwarten war, daß<br />

die Türkei die Republik Zypern völkerrechtlich anerkennen würde, erschien es<br />

<strong>als</strong> elegante Lösung eines komplexen Problems, von der Türkei ersatzweise die<br />

Unterzeichnung eines Zusatzprotokolls 4 zum sogenannten Vertrag von Ankara<br />

über die Assoziierung der Türkei an die EWG 5 zu verlangen, wodurch der Gü l-<br />

tigkeitsbereich dieses Vertrages auf die zehn neuen EU-Mitgliedsländer <strong>und</strong><br />

damit auch die Republik Zypern ausgeweitet wurde. Während aber für die EU -<br />

Kommission <strong>und</strong> die EU -Mitgliedsstaaten die Unterzeichnung dieses Zusatzprotokolls<br />

durch die Türkei <strong>als</strong> faktische, wenn auch nicht förmliche, völkerrechtliche<br />

Anerkennung der Republik Zypern angesehen wurde, machten türkische<br />

Regierungsvertreter immer wieder darauf aufmerksam, daß die Unterzeichnung<br />

des Zusatzprotokolls für sie nicht einer völkerrechtlichen Anerkennung der Republik<br />

Zypern gleichkomme.<br />

Die Intimfre<strong>und</strong>e Ankaras in der EU scheinen bis zuletzt geglaubt zu haben, die<br />

Türkei werde sich wie gewünscht verhalten, das Zusatzprotokoll unterzeichnen<br />

<strong>und</strong> nach Möglichkeit die Frage der völkerrechtlichen Anerkennung der Republik<br />

Zypern am besten gar nicht mehr erwähnen. Diese Hoffnung wurde aber<br />

bitter enttäuscht. Die Türkei unterzeichnete zwar das Zusatzprotokoll zum Ve r-<br />

trag von Ankara, machte in einer Verlautbarung aber deutlich, daß die Unterzeichnung<br />

des Protokolls nicht die völkerrechtliche Anerkennung der Republik<br />

Zypern bedeute, was gr<strong>und</strong>sätzlich zwar möglich sei, aber erst nach einer endgültigen<br />

vertraglichen Lösung des Zypernkonflikts.<br />

Spätestens an diesem Punkt hätte man von der EU -Ratspräsidentschaft bzw. den<br />

EU-Mitgliedsstaaten eigentlich eine deutliche Stellungnahme, wenn nicht gar<br />

eine klare Entscheidung für die Aufschiebung der Eröffnung der Beitrittsverhandlungen<br />

bis zur Klärung der strittigen Fragen in Sachen Zypern erwarten<br />

dürfen. Ankara konnte sich aber einmal mehr auf seine Fre<strong>und</strong>e verlassen <strong>und</strong> so<br />

kam es wie nicht anders zu erwarten – die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei<br />

wurden am 3. Oktober 2005 eröffnet.<br />

34


Im Gr<strong>und</strong>satz ist das aus den eingangs erwähnten Gründen auch sicher zu begrüßen.<br />

Die Umstände, unter denen es zu dieser Entscheidung kam, werfen aber –<br />

denkt man an den Satz „Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere<br />

stammt vom Bösen. (Mt 5,37) sicher die Frage auf, ob die Europäische Union<br />

ihrerseits gegenwärtig überhaupt fähig ist, Verhandlungen mit Beitrittskandidaten<br />

zu führen.<br />

Um so mehr kommt es jetzt auf das Screening an, mit dem die Europäische<br />

Kommission in diesen Wochen beginnt, um festzustellen, inwieweit die Gesetzgebung<br />

der Türkei den Rechtstexten der EU angeglichen ist. Das Screening, das<br />

im günstigsten Fall nach etwa einem Jahr abgeschlossen sein kann, wobei jedoch<br />

der Gr<strong>und</strong>satz „Gründlichkeit vor Schnelligkeit“ gelten soll, wird in allen 35<br />

Kapiteln des Verhandlungsrahmens 6 vorgenommen - <strong>und</strong> erst dann können die<br />

Verhandlungen über die Kapitel des Verhandlungsrahmens beginnen.<br />

Sieht man sich die Kapitelüberschriften des Verhandlungsrahmens an, wird deutlich,<br />

daß die Fragestellungen, die sich auf die Erfüllung des politischen [Kopenhagener]<br />

Kriteriums, Institutionelle Stabilität, demokratische <strong>und</strong> rechtstaatliche<br />

Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung <strong>und</strong> Schutz von Minderheiten,<br />

beziehen, nicht ausdrücklich Gegenstand eines gesonderten Verhandlungskapitels<br />

sind.<br />

Kernproblem Religionsfreiheit<br />

Soweit die genannten Themenkomplexe nicht im Rahmen der Ve rhandlungen<br />

über die Kapitel 23 Rechtswesen <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>rechte bzw. 24 Justiz, Freiheit <strong>und</strong><br />

Sicherheit angesprochen werden, bleibt es Aufgabe der Europäischen Kommission,<br />

dafür Sorge zu tragen, daß die Diskussion der offenen <strong>und</strong> teilweise äußerst<br />

komplexen Fragen etwa im Hinblick auf die Menschenrechtslage – man denke<br />

nur an das Spannungsfeld von Religionsfreiheit i.S.d. Art. 9 der Europäischen<br />

Menschenrechtskonvention <strong>und</strong> dem damit inkompatiblen türkischen Verständnis<br />

von Laizismus in der Türkei – nicht unbehandelt bleiben. In diesem Zusammenhang<br />

kommt auch der Zivilgesellschaft in der Türkei <strong>und</strong> den 25 EU -<br />

Mitgliedsstaaten – etwa auch den Kirchen – eine wichtige Rolle zu. Der bisherige<br />

Umgang der Europäischen Kommission <strong>und</strong> der EU-Mitgliedsstaaten mit den<br />

Defiziten im Hinblick auf die Religionsfreiheit in der Türkei <strong>und</strong> den daraus<br />

resultierenden rechtlichen <strong>und</strong> praktischen Problemen der Religionsgemeinschaften<br />

– etwa auch der christlichen Kirchen – gibt nämlich Anlaß zur Sorge.<br />

Die Europäische Kommission <strong>und</strong> die Delegation der Europäischen Kommission<br />

in Ankara haben sich bislang im wesentlichen auf die Klärung der Fragen im<br />

Hinblick auf die sogenannten Gemeindestiftungen konzentriert. Als Gemeindestiftungen,<br />

die Rechtspersönlichkeit haben, sind die Liegenschaften bestimmter<br />

Kirchen 7 <strong>und</strong> der jüdischen Gemeinschaft organisiert. Rechtlich gesehen haben<br />

diese Gemeindestiftungen mit den entsprechenden Kirchen, die ihrerseits in der<br />

Türkei keine Rechtspersönlichkeit haben, <strong>als</strong>o nicht existieren, nichts zu tun.<br />

Sollte nach langem hin <strong>und</strong> her über kurz oder lang das türkische Parlament nun<br />

ein seit geraumer Zeit überfälliges Stiftungsrecht – vielleicht sogar nach Maßga-<br />

35


e der Empfehlungen der Europäischen Kommission – verabschieden, wäre zwar<br />

die rechtliche Lage der Gemeindestiftungen etwas klarer. Für die Kirchen <strong>als</strong><br />

solche <strong>und</strong> die jüdische Gemeinschaft, wie auch für den Islam wäre dies aber<br />

rechtlich völlig unbedeutend, da sich am Rechtsstatus der Religionsgemeinschaften<br />

in der Türkei durch die Verabschiedung eines neuen Stiftungsrechts überhaupt<br />

nichts ändern würde.<br />

Es ist in diesem Zusammenhang ganz offensichtlich, daß die gr<strong>und</strong>legenden<br />

Probleme der nicht-muslimischen Minderheiten in der Türkei – insbesondere die<br />

Frage der fehlenden rechtlichen Anerkennung – nur dann zu lösen sind, wenn<br />

das Thema Religionsfreiheit im Hinblick auf die Türkei endlich ganz gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

diskutiert wird. Es hilft überhaupt nicht weiter, wenn immer wieder darauf<br />

hingewiesen wird, daß die Türkei ein laizistischer Staat sei. Das ist sie nicht. Die<br />

Türkei ist ein türkisch-nationalistischer Staat, der einen sunnitischen Staatsislam<br />

fördert bzw. verwaltet <strong>und</strong> sich ungeachtet dessen laizistisch nennt. Daran ändert<br />

auch der Umstand nichts, daß sich die Militärs, die sich <strong>als</strong> Hüter der kemalistischen<br />

Staatsideologie verstehen, bei den regelmäßigen Vorgehen gegen islamistische<br />

Umtriebe innerhalb der Streitkräfte <strong>und</strong> darüber hinaus auf das Verfassungsprinzip<br />

Laizismus beziehen, das in der Praxis nichts mehr mit dem französischen<br />

laïcisme zu tun hat. Daran ändert auch nichts, daß Staatspräsident Ahmed<br />

Necdet Sezer immer wider an die laizistischen Gr<strong>und</strong>lagen des türkischen Staates<br />

erinnert <strong>und</strong> im Mai 2004 sein Veto gegen ein Gesetzesvorhaben der Regierung<br />

Erdogan, das den Absolventen der Imam- <strong>und</strong> Predigerschulen wieder den direkten<br />

Zugang zu den wissenschaftliche Hochschulen er<strong>öffnen</strong> sollte, eingelegt hat.<br />

Auch wenn sich EU -Erweiterungskommissar Olli Rehn im Juni 2005 brieflich an<br />

Ministerpräsident Erdogan gewandt <strong>und</strong> die Verabschiedung des o.e. Stiftungsgesetzes<br />

angemahnt hat <strong>und</strong> wenn Sprecher der EU-Kommission zum wiederholten<br />

Male darauf hingewiesen haben, daß Religionsfreiheit in der Türkei höchste<br />

Priorität in den Beitrittsverhandlungen haben werde, bleiben doch Zweifel, ob<br />

das Thema Religionsfreiheit in den Beitrittsverhandlungen tatsächlich den Stellenwert<br />

haben wird, den es haben sollte. Im Gespräch mit Diplomaten aus EU-<br />

Ländern wird dann auch recht deutlich, daß Zweifel an der Ernsthaftigkeit der<br />

Befassung mit dem Thema Religionsfreiheit zumindest nicht völlig gr<strong>und</strong>los<br />

sind.<br />

Würde die Türkei, die seit 1950 Mitglied des Europarates ist <strong>und</strong> 1954, <strong>als</strong>o vor<br />

51 Jahren, die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert hat, Artikel 9<br />

der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) anwenden, der individuelle<br />

<strong>und</strong> kollektive Religionsfreiheit garantiert, würden sich die zentralen Probleme<br />

der nicht-muslimischen Minderheiten in der Türkei, <strong>als</strong>o etwa der Christen<br />

<strong>und</strong> Juden, ohne weiteres lösen lassen. Gleichzeitig müßte Art. 9 EMRK auch<br />

auf den Islam in der Türkei angewandt werden, was u.U. auch bedeuten würde,<br />

daß das Verbot der islamischen Orden, das in Artikel 174, Ziffer 3 der Türkischen<br />

Verfassung von 1982 ausdrücklich bestätigt wurde, aufgehoben werden<br />

müßte. Es würde auch bedeuten, daß die neuen islamischen Bewegungen wie die<br />

Nurcular, die Süleymancilar, eventuell auch Millî Görüs <strong>und</strong> andere, die sich<br />

bester Kontakte in die Politik rühmen können <strong>und</strong> schon bislang mit Wirtschafts-<br />

36


imperien auch in der Türkei präsent sind, sich möglicherweise offiziell <strong>als</strong> islamische<br />

Bewegungen organisieren dürften. Es würde schließlich auch bedeuten,<br />

daß sich die Aleviten endlich <strong>als</strong> Religionsgemeinschaft <strong>und</strong> nicht nur in Kulturvereinen<br />

etablieren könnten. Das macht nicht nur echten Laizisten <strong>und</strong> den Anhängern<br />

der kemalistischen Staatsideologie mit ihrem Staatsislam Angst. Das<br />

scheint auch manchen europäischen Diplomaten soweit zu verstören, daß das<br />

Thema Religionsfreiheit geradezu zum Tabuthema zu werden scheint. Ein Blick<br />

auf Art. 9, Abs. 2 EMRK, der gesetzliche Beschränkungen der Religions- <strong>und</strong><br />

Bekenntnisfreiheit zuläßt, „sofern es sich um die in einer demokratischen Gesellschaft<br />

notwendigen Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Sicherheit, der<br />

öffentlichen Ordnung, ... oder für den Schutz der Rechte <strong>und</strong> Freiheiten anderer“<br />

handelt, könnte da sicher weiterhelfen. Ein wehrhafter demokratis cher Rechtsstaat<br />

Türkei, der sich Religionsfreiheit im Sinne des Artikel 9 EMRK leisten<br />

kann, muß das gemeinsame Ziel sein.<br />

Die Zweifler<br />

Noch gibt es aber in der Türkei <strong>und</strong> darüber hinaus viele, die nicht glauben können<br />

oder wollen, daß die Türkei tatsächlich eines Tages Mitglied der Europäischen<br />

Union sein könnte.<br />

- Die Anhänger des türkischen Nationalismus, die Türken nicht einschließend<br />

definieren – alle Bürger der Türkei, gleich welcher Ethnie oder Religion sie<br />

angehören, sind Türken, wie es der Staatsgründer Atatürk wollte –, sondern ausschließend<br />

– Türke ist, wer türkischer Muttersprache <strong>und</strong> sunnitisch-islamischer<br />

Religionszugehörigkeit ist – <strong>und</strong> sich nicht mit dem Gedanken abfinden können,<br />

daß einst eine europäische Identität an die Stelle ihrer türkischen Identität treten<br />

könnte.<br />

- All jene in der Türkei <strong>und</strong> in Europa, die sich nicht vorstellen können, daß sich<br />

die Mentalität der Mehrheit der türkischen Bevölkerung in den nächsten zehn bis<br />

fünfzehn Jahren so weit fortentwickeln könnte, daß sie die Werte der Europäischen<br />

Union <strong>als</strong> ihre Werte betrachten würden.<br />

- Aber auch jene, die wie ein Teil der türkischen Medien <strong>und</strong> der türkischen<br />

Öffentlichkeit immer wieder darüber diskutieren, ob die maßgeblichen Akteure<br />

der türkischen Regierungspartei AKP – darunter Ministerpräsident Erdogan <strong>und</strong><br />

Außenminister Gül – doch keine geläuterten Islamisten seien <strong>und</strong> noch immer<br />

der Ideologie der Nationalen Sicht (Milli Görüs) anhängen. Ziel dieser Ideologie,<br />

die der Vorsitzende der islamistischen Nationalen Heilspartei <strong>und</strong> spätere türkische<br />

Ministerpräsident Necmettin Erbakan in den siebziger Jahren entwickelte<br />

<strong>und</strong> in Buchform publizierte, ist es, die laizistische Staatsordnung in der Türkei<br />

zu beseitigen <strong>und</strong> ein auf Koran <strong>und</strong> Scharia basierendes Rechts- <strong>und</strong> Gesellschaftssystem<br />

zu errichten. Erdogan <strong>und</strong> Gül etwa waren in den siebziger Jahren<br />

Jungfunktionäre von Erbakans Nationaler Heilspartei. (Millî Selamet Partisi/MSP).<br />

Die Nationale Heilspartei wurde nach dem Militärputsch vom 12. September<br />

1980 verboten, ihre ebenfalls islamistischen Nachfolgeparteien, die<br />

Wohlfahrtspartei (Refah Partisi/RP) <strong>und</strong> die Tugendpartei (Fazilet Partisi/FP) am<br />

37


16. Januar 1998 <strong>und</strong> 22. Juni 2001 vom türkischen Verfassungsgericht. Dessen<br />

ungeachtet entstanden aus dem geistigen Nachlaß der verbotenen Tugendpartei<br />

zwei neue Parteien, die <strong>als</strong> gemäßigt-islamisch beschriebene Partei für Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> Entwicklung (Adalet ve Kalkinma Partisi / AKP) <strong>und</strong> die Partei der<br />

Glückseligkeit (Saadet Partisi / SP), die in der Türkei weiterhin die Abschaffung<br />

des Laizismus <strong>und</strong> die Errichtung einer islamischen Lebens- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung<br />

im Sinne einer universalen <strong>und</strong> allumfassenden Ordnung anstrebt.<br />

Während die Saadet Partisi sich ideologisch strikt an ihren verbotenen Vorgängerparteien<br />

MSP, RP <strong>und</strong> FP orientiert, nimmt die AKP für sich in Anspruch,<br />

islamisches Gedankengut mit der Demokratie versöhnen zu wollen <strong>und</strong> den<br />

zentralen Zielen der Ideologie der Nationalen Sicht abgeschworen zu haben.<br />

Genau das zieht aber ein Teil der türkischen Medien <strong>und</strong> der türkischen Öffentlichkeit<br />

in Zweifel. Immer wieder ist in bestimmten Zeitungen – darunter auch<br />

Massenblätter – im Hinblick auf die AKP <strong>und</strong> ihre führenden Vertreter von takkiye<br />

die Rede, <strong>als</strong>o von der Muslimen in Notlagen erlaubten Verleugnung der<br />

wahren Absichten. Zumindest bei zwei Gesetzgebungsvorhaben, die im Jahr<br />

2004 ganz oder teilweise gescheitert sind, gab es nach Ansicht jener, die der<br />

AKP takkiye unterstellen, Anhaltspunkte für die wahren Absichten der AKP-<br />

Regierung:<br />

Im Mai 2004 verabschiedete das türkische Parlament mit 254 Stimmen der regierenden<br />

AKP bei vier Gegenstimmen die Reform des Türkischen Hochschulrates<br />

(YÖK) – die Abgeordneten der oppositionellen Republikanischen Volkspartei<br />

(Cumhuriyet Halk Partisi / CHP) hatten schon vor der Abstimmung demonstrativ<br />

den Plenarsaal verlassen. Einer der umstrittensten Punkte der Reform war die<br />

Neureglung des Hochschulzugangs für Absolventen aller Berufsfachschulen –<br />

u.a. auch der Imam- <strong>und</strong> Predigerschulen (Imam-Hatip-Schulen) – womit die<br />

bisherige Benachteiligung gegenüber den Absolventen der Gymnasien aufgehoben<br />

werden sollte. Kritiker werteten dies <strong>als</strong> Gefahr einer Unterwanderung des<br />

laizistischen Systems, da die religiösen Schulen lediglich zur Ausbildung von<br />

Imamen <strong>und</strong> Predigern gegründet worden seien. Einige wollten gar nicht glauben,<br />

daß die Streitkräfteführung diese offene Herausforderung ohne nachhaltige<br />

Reaktion hinnehmen würde. Das Veto des laizistischen Staatspräsidenten Ahmet<br />

Necdet Sezer u.a. gegen die genannte Gesetzesregelung führte schließlich dazu,<br />

daß die AKP-Regierung den Gesetzentwurf zurückzog <strong>und</strong> – bis auf weiteres –<br />

in der Schublade verschwinden ließ.<br />

Größeres Aufsehen bei uns hat die Diskussion um den Ehebruchsparagraphen im<br />

neuen Türkischen Strafgesetzbuch erregt, das am 26. September 2004 – allerdings<br />

ohne den Ehebruchsparagraphen – in Kraft trat. Ehebruch war in der Türkei<br />

bis zur Aufhebung der entsprechenden Regelungen durch das türkische Ve r-<br />

fassungsgericht strafbewehrt. Der Entwurf des neuen Strafgesetzbuches sah nun<br />

die Wiedereinführung eines entsprechenden Paragraphen vor, was von AKPkritischen<br />

Kommentatoren <strong>als</strong> neuerlicher Hinweis auf die wahren Absichten der<br />

AKP gewertet wurde.<br />

Kommentatoren, die selbst im Hinblick auf die AKP nicht an Verschwörungstheorien<br />

glauben, meinen allerdings, sowohl der erwähnte <strong>und</strong> durchaus bedeu-<br />

38


tende Punkt der geplanten YÖK-Reform wie auch der letztlich gestrichene Ehebruchsparagraph<br />

im Türkischen Strafgesetzbuch seien einzig den Erwartungen<br />

der islamischen Klientel der AKP geschuldet gewesen <strong>und</strong> keineswegs Ausdruck<br />

einer tendenziell islamischen bzw. islamistischen Politik der AKP.<br />

Wer Recht hat, wird erst die Zukunft zeigen. Auch wenn die AKP-Regierung<br />

programmatisch eigentlich außer der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit<br />

der EU nichts vorzuweisen hat – die wirtschaftliche Ges<strong>und</strong>ung des Landes ist<br />

einem Programm des IWF zu danken –, kann sie bei den turnusgemäßen Parlamentswahlen<br />

im nächsten Jahre angesichts der Schwäche der parlamentarischen<br />

<strong>und</strong> außerparlamentarischen Opposition neuerlich mit einem überragenden<br />

Wahlergebnis rechnen, sofern sie sich keine großen handwerklichen Fehler leistet.<br />

Im günstigsten Fall könnte die AKP, die bei den letzten Wahlen mit r<strong>und</strong><br />

34,3% der Stimmen 67,1% der Parlamentssitze errang, mit einem geringfügig<br />

erhöhten prozentualen Anteil an Wählerstimmen sogar die für eine Verfassungsänderung<br />

erforderliche Drei-Viertel-Mehrheit im Parlament erreichen.<br />

Sollte die AKP tatsächlich eine islamistische Agenda haben, könnte sie spätestens<br />

dann mit deren Umsetzung beginnen. Behindern könnte dies allerdings<br />

weiterhin Staatspräsident Sezer, dessen Amtzeit erst im Mai 2007 endet. Der<br />

türkische Internet-Nachrichtendienst HABERTÜRK berichtete in diesem Zusammenhang<br />

am 15.9.2005, die AKP-Führung diskutiere ein vom Vorsitzenden<br />

des Verfassungsausschusses in der türkischen Nationalversammlung, Burhan<br />

Kuzu, vorgelegtes 52 Artikel umfassendes Paket zur Änderung der Verfassung,<br />

das u.a. einen Vorschlag enthalte, der darauf abziele, die Amtszeit künftiger<br />

Staatspräsidenten von sieben auf fünf Jahre zu verkürzen, wobei diese Regelung<br />

ausdrücklich schon auf den gegenwärtigen Stelleninhaber Anwendung finden<br />

solle.<br />

Abgesehen davon, daß auch im türkischen Recht formal ein Rückwirkungsverbot<br />

für gesetzliche Regelungen gelten dürfte, ist kaum davon auszugehen, daß die<br />

kemalistisch-laizistische oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP)<br />

einer solchen Verfassungsänderung zustimmen dürfte – <strong>und</strong> noch benötigt die<br />

AKP-Regierung die Stimmen der Opposition für Verfassungsänderungen. Ministerpräsident<br />

Erdogan, dem selbst immer wieder Ambitionen auf das höchste<br />

Staatsamt nachgesagt werden, soll denn auch empfohlen haben, eine Einigung<br />

mit der oppositionellen CHP anzustreben. Bis zur Wahl eines neuen Staatspräsidenten<br />

würde die AKP <strong>als</strong>o auf jeden Fall noch warten müssen, sollte sie tatsächlich<br />

eine islamistische hidden-agenda haben.<br />

Ein Plan B für die Türkei<br />

Die österreichische Außenministerin Plasnik hat bei den langwierigen Verhandlungen<br />

über die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei am 3. Oktober<br />

2005 bis zuletzt auch auf der konkreten Nennung einer Alternative zur<br />

Vollmitgliedschaft bestanden. Das sollte eigentlich bei Verhandlungen, die offiziell<br />

<strong>als</strong> ergebnisoffen bezeichnet werden, selbstverständlich sein – ist es aber<br />

nicht. Denn in der politischen Diskussion um die Beitrittsverhandlungen mit der<br />

39


Türkei war im Regelfall nur von dem Ziel der Vollmitgliedschaft die Rede. Die<br />

von den Unionsparteien in die Diskussion eingebrachte alternative Privilegierte<br />

Partnerschaft konnte sich in der politischen Diskussion auch deshalb kaum behaupten,<br />

weil sie eigentlich nirgends überzeugend dargelegt worden ist.<br />

Das von Matthias Wissmann am 22.1.2004 in aktualisierter Fassung vorgelegte<br />

Positionspapier „Eine ‚Privilegierte Partnerschaft’ <strong>als</strong> Alternative zu einer EU -<br />

Vollmitgliedschaft der Türkei“ 8 krankt nicht zuletzt auch daran, daß es aus Sicht<br />

der Türkei tatsächlich kaum etwas anbot, was weit über das hinausging, was die<br />

Türkei schon bisher für sich in Anspruch nahm. In manchen Punkten zwar gelegentlich<br />

mitreden, aber nicht mitentscheiden zu dürfen, konnte aus türkischer<br />

Sicht nur privilegierte Diskriminierung heißen. Im Wesentlichen gilt das gleiche<br />

auch für die weit ausführlichere Analyse von Karl-Theodor zu Guttenberg „Die<br />

Beziehungen zwischen der Türkei <strong>und</strong> der EU – eine ‚Privilegierte Partnerschaft’“.<br />

9<br />

Als zweite Alternative zur Vollmitgliedschaft stellten Wissenschaftler des Osteuropa-Instituts<br />

um Wolfgang Quaisser <strong>und</strong> Steve Wood die Erweiterte Assoziierte<br />

Mitgliedschaft (EAM) vor, die im Kern eine Mitgliedschaft im „Erweiterten<br />

Europäischen Wirtschaftsraum“ (EWR) <strong>und</strong> primär eine Ausweitung <strong>und</strong> Vertiefung<br />

der handels - <strong>und</strong> wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit mit Einschränkungen<br />

im Hinblick auf die Personen- <strong>und</strong> Arbeitnehmerfreizügigkeit vorsieht. 10<br />

Allerdings stößt auch die Erweiterte Assoziierte Mitgliedschaft auf Ablehnung<br />

der türkischen Seite, die sich zumindest offiziell auf die EU -Vollmitgliedschaft<br />

festgelegt hat.<br />

Wenngleich natürlich klar ist, daß für die gegenwärtige türkische Regierung<br />

jedes Alternativangebot zur Vollmitgliedschaft zumindest offiziell inakzeptabel<br />

ist, gäbe es doch Alternativen, die auch aus türkischer Sicht <strong>als</strong> Alternativen<br />

akzeptabel sein könnten. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, daß auch in der<br />

Türkei nicht wenige Beobachter davon ausgehen, daß es bei den Beitrittsverhandlungen<br />

unter Umständen schon recht bald zu gr<strong>und</strong>legenden Meinungsverschiedenheiten,<br />

daraus resultierend zu einer Unterbrechung <strong>und</strong> schlußendlich<br />

zum Abbruch der Verhandlungen kommen könnte. Zwar will sich niemand festlegen<br />

aus welchem Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> wann ein solches Szenario Wirklichkeit werden<br />

könnte. Fest steht aber, daß die Türkei, würde sie sich von den Beitrittsverhandlungen<br />

verabschieden, mit mehr oder weniger leeren Händen dastünde. Um dies<br />

zu verhindern <strong>und</strong> insbesondere auch um dann eine Abkehr der Türkei von Europa<br />

zu verhindern, sind Alternativen zu diskutieren, die die Bindung der Türkei<br />

an Europa dauerhaft sichern können.<br />

Aufbauend auf dem Türkei-Beschluß des Europäischen Rates vom 16./17. Dezember<br />

2004, wonach sicherzustellen ist, „daß das Bewerberland durch eine<br />

möglichst starke Bindung vollständig in den europäischen Strukturen verankert<br />

wird“ könnte das von Cemal Karakas von der Hessischen Stiftung Friedens- <strong>und</strong><br />

Konfliktforschung entwickelte Modell der Abgestuften Integration 11 zu gegebener<br />

Zeit eine mögliche Anbindungsoption jenseits der Privilegierten Partnerschaft<br />

oder der Erweiterten Assoziierten Mitgliedschaft sein, da sie sowohl der<br />

EU <strong>als</strong> auch der Türkei eine dauerhafte <strong>und</strong> klar definierte Integrationsalternative<br />

40


ietet. Denn die Abgestufte Integration sieht eine schrittweise Heranführung der<br />

Türkei an die EU-Strukturen mit Integration in Teilbereichen vor <strong>und</strong> ist zugleich<br />

ein Modell, bei dem die Integration sukzessive fortschreiten könnte. Jeder<br />

Partner kann bei diesem Modell entscheiden, ob ihm die jeweils erreichte Integrationsstufe<br />

bereits ausreicht <strong>und</strong> dementsprechend von einer weiteren Integration<br />

bzw. Vertiefung absehen.<br />

Anders <strong>als</strong> im Falle der Privilegierten Partnerschaft oder der Erweiterten Assoziierten<br />

Mitgliedschaft würde die Türkei bei der Abgestuften Integration nicht nur<br />

vor allem wirtschaftlich, sondern auch politisch (teil-)integriert <strong>und</strong> hätte für die<br />

integrierten Bereiche auch ein Mitentscheidungsrecht. Zudem müßte die Türkei<br />

nicht von vorneherein auf die Option auf eine spätere Vollmitgliedschaft verzichten.<br />

Wen kann es angesichts der Vorzüge dieses Modells <strong>und</strong> ihrer leichten Vermittelbarkeit<br />

verw<strong>und</strong>ern, daß der Landesbeauftragte der Konrad-Adenauer-Stiftung<br />

in der Türkei, nach der Resonanz der Privilegierten Partnerschaft in türkischen<br />

Politikerkreisen gefragt, das Modell der Abgestuften Integration <strong>als</strong> vermittelbar<br />

erläutert. Vielleicht sollte man im Konrad-Adenauer-Haus in Berlin auch einmal<br />

über die Vorzüge der Abgestuften Integration nachdenken <strong>und</strong> die Privilegierte<br />

Partnerschaft einmotten.<br />

Der Weg zur Vollmitgliedschaft der Türkei ist noch lang. Zehn bis fünfzehn<br />

Jahre werden aber kaum für einen gr<strong>und</strong>legenden Mentalitätswechsel ausreichen,<br />

ohne den Vollmitgliedschaft nicht denkbar ist. Der Mentalitätswechsel kann aber<br />

nur gelingen, wenn das chauvinistische Bildungssystem der Türkei nicht erst<br />

übermorgen, sondern schon morgen von seinen chauvinistischen Gr<strong>und</strong>lagen<br />

gesäubert wird <strong>und</strong> die entsprechende Indoktrination der künftigen Generationen<br />

aufgeklärter Bildung Platz macht. Auf jeden Fall wird man auch weiterhin über<br />

Alternativen zur Vollmitgliedschaft diskutieren müssen. Nach Möglichkeit sollte<br />

man über Alternativen diskutieren, die auch aus türkischer Sicht <strong>als</strong> solche akzeptabel<br />

sind. Sonst könnte im ungünstigsten Fall tatsächlich die Gefahr bestehen,<br />

daß sich die Türkei von Europa abwendet.<br />

Anmerkungen<br />

1) KOM(2004) 656 endgültig.<br />

2) Bei den genannten Gesetzen handelt es sich um das Vereinsgesetz, das neue Strafgesetzbuch,<br />

das Gesetz über die zweitinstanzlichen Berufungsgerichte, die neue Strafprozeßordnung,<br />

die Gesetzgebung zur Schaffung einer Kriminalpolizei <strong>und</strong> das Gesetz über<br />

Strafvollzug <strong>und</strong> Maßregeln.<br />

3) SEK(2004) 1201.<br />

4) PA/CE/TR/de 39.<br />

5) ABl. 217 vom 29.12.1964, S. 3687.<br />

6) 1. Freier Warenverkehr, 2. Freier Personenverkehr, 3. Niederlassungsfreiheit <strong>und</strong> freier<br />

Dienstleistungsverkehr, 4. Freier Kapitalverkehr, 5. Vergaberecht, 6. Gesellschaftsrecht,<br />

7. Schutz geistiger Eigentumsrechte, 8. Wettbewerbsrecht, 9. Finanzdienstleistungen, 10.<br />

Informationsgesellschaft <strong>und</strong> Medien, 11. Landwirtschaft <strong>und</strong> landwirtschaftliche Boden-<br />

41


planung, 12. Lebensmittelsicherheit, Veterinärpolitik <strong>und</strong> Pflanzenschutz, 13. Fischerei,<br />

14. Verkehrspolitik, 15. Energie, 16. Steuerpolitik, 17. Wirtschafts- <strong>und</strong> Währungspolitik,<br />

18. Statistiken, 19. Sozialpolitik <strong>und</strong> Beschäftigung (inkl. Antidiskriminierung <strong>und</strong><br />

Gleichberechtigung von Geschlechtern), 20. Unternehmens- <strong>und</strong> Industriepolitik, 21.<br />

Transeuropäisches Verkehrsnetz, 22. Regionalpolitik <strong>und</strong> Koordination der strukturpolitischen<br />

Instrumente, 23. Rechtswesen <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>rechte, 24. Justiz, Freiheit <strong>und</strong> Sicherheit,<br />

25. Wissenschaft <strong>und</strong> Forschung, 26. Bildung <strong>und</strong> Kultur, 27. Umwelt, 28. Verbraucher<strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitsschutz, 29. Zollunion, 30. Außenbeziehungen, 31. Außenpolitik, Sicherheits-<br />

<strong>und</strong> Verteidigungspolitik, 32. Finanzkontrolle, 33. Finanz- <strong>und</strong> Haushaltsbestimmungen,<br />

34. Institutionen, 35. Andere Fragen.<br />

7) armenisch-katholische, armenisch-orthodoxe, armenisch-protestantische, bulgarischorthodoxe,<br />

chaldäisch-katholische, georgisch-katholische, griechisch-katholische, griechisch-orthodoxe<br />

(dem griechisch-orthodoxen Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel<br />

zuzuordnen), griechisch-melkitisch-orthodoxe (dem griechisch-orthodoxen Patriarchat<br />

von Damaskus zuzuordnen), syrisch-katholische, syrisch-orthodoxe, syrischprotestantische.<br />

8) http://www.cducsu.de/section__2/subsection__3/id__845/Meldungen.aspx.<br />

9) Hanns Seidel Stiftung – Akademie für Politik <strong>und</strong> Zeitgeschehen – Aktuelle Analysen<br />

33 (www.hss.de/downloads/aa33-internet.pdf).<br />

10) Wolfgang Quaisser, Alternative EU-Integrationsstrategien für die Türkei <strong>und</strong> andere<br />

EU-Kandidatenländer. Privilegierte Partnerschaft oder „Erweiterte Assoziierte Mitgliedschaft“,<br />

Osteuropa-Institut, Kurzanalysen <strong>und</strong> Informationen Nr. 12/2004, München,<br />

2004; Wolfgang Quaisser/Steve Wood, EU Member Turkey? Preconditions, Consequences,<br />

and Integration Alternatives, Forschungsverb<strong>und</strong> Ost- <strong>und</strong> Südosteuropa (Forost),<br />

Arbeitspapier Nr. 25, München, 2004.<br />

11) http://www.hsfk.de/downloads/Standpunkte-4-2005(druckfrei).pdf.<br />

Dr. Otmar Oehring ist Leiter der Fachstelle Menschenrechte des Internationalen<br />

Katholischen Missionswerks „Missio“ in Aachen.<br />

42<br />

Franz-Josef Bormann


Kann Folter erlaubt sein?<br />

Moraltheologische Überlegungen zur jüngsten Folterdiskussion<br />

Die Stadt Freiburg ist seit sechs Jahren um eine Attraktion reicher. 1999 öffnete<br />

unweit des Münsters ein ‚Mittelalterliches Foltermuseum‘ seine Pforten, das<br />

seinen Besuchern einen „umfangreichen Einblick in die mittelalterliche Rechtsprechung<br />

sowie ihre ‚phantasievolle‘ Bestrafungsmaschinerie“ verheißt. Man<br />

kann über den volkspädagogischen Nutzen einer solchen Einrichtung gewiß<br />

geteilter Meinung sein. Fatal wäre es jedoch, wenn auf diese Weise dem Eindruck<br />

Vorschub geleistet würde, bei der Folter handele es sich um ein Relikt aus<br />

längst vergangenen Zeiten. Zwar ist es richtig, daß die Folter in der neueren<br />

Geschichte der westlichen Welt in vielen Ländern <strong>als</strong> Instrument der gerichtlichen<br />

Wahrheitsfindung bzw. Strafverfolgung ebenso verschw<strong>und</strong>en ist wie die<br />

Todesstrafe 1 , doch gehört die Praxis von Folterhandlungen deswegen noch lange<br />

nicht der Vergangenheit an. Ungeachtet der verschiedenen nationalen <strong>und</strong> internationalen<br />

Abkommen zu ihrer Ächtung 2 ist die Liste derjenigen Staaten lang, in<br />

denen die Folter nach wie vor an der Tagesordnung ist. Organisationen wie Amnesty<br />

International weisen in ihren einschlägigen Berichten denn auch immer<br />

wieder darauf hin, daß in mehr <strong>als</strong> einh<strong>und</strong>ertfünfzig Staaten der Erde, darunter<br />

in mehreren bevorzugten Urlaubsregionen der Deutschen, regelmäßig Männer,<br />

Frauen <strong>und</strong> Kinder gefoltert werden. 3<br />

Die meisten Menschen haben sich bewußt oder unbewußt für eine ganz bestimmte<br />

Strategie im Umgang mit diesem Thema entschieden. Dem Soziologen Horst<br />

Herrmann zufolge läßt sich diese Strategie kurz so zusammenfassen: „Amnestie<br />

durch Amnesie“ 4 , d.h. wir versuchen uns das Problem der Folter durch eine Mischung<br />

von Verdrängung, Verleugnung, Vergessen <strong>und</strong> Lüge vom Leib zu halten.<br />

Wenn dennoch in jüngster Zeit nicht nur in Deutschland verstärkt über die Folter<br />

gesprochen <strong>und</strong> geschrieben worden ist, dann hat das seinen Gr<strong>und</strong> in zwei<br />

höchst unterschiedlichen Ereignissen, die auf ihre je eigene Art dazu angetan<br />

sind, das besondere Interesse der Moraltheologie zu wecken. Das erste Ereignis<br />

besteht in der Folterandrohung durch den ehemaligen Frankfurter Polizeivizepräsidenten<br />

Wolfgang Daschner im Entführungsfall Jakob von Metzler im Oktober<br />

2002, die sofort nach ihrem Bekanntwerden eine heftige Debatte über die<br />

Grenzen staatlicher Gewaltanwendungen ausgelöst hat. Bei dem zweiten Vo r-<br />

kommnis handelt es sich um die Foltervorwürfe, die im Mai 2004 gegen amerikanische<br />

Soldaten <strong>und</strong> Militärpolizisten im irakischen Gefängnis Abu Ghraib<br />

laut geworden sind <strong>und</strong> die zu einem schweren Imageverlust der amerikanischen<br />

Besatzungspolitik im Irak geführt haben. Während uns im Fall Daschner ein<br />

geradezu klassisches Entführungsszenario begegnet, haben wir es bei den Folterungen<br />

irakischer Gefängnisinsassen mit einer höchst interessanten Begleiter-<br />

43


scheinung eines neuartigen Phänomens, nämlich des sogenannten ‚Kriegs gegen<br />

den Terrorismus‘ zu tun, der seit dem 11. September 2001 die Einstellung vieler<br />

Menschen zur Folter nachhaltig verändert zu haben scheint. Plötzlich debattieren<br />

im Mutterland von Demokratie <strong>und</strong> Bürgerrechten wohlerzogene Liberale über<br />

die gewaltsame Erpressung von Aussagen zum Schutze ihres Gemeinwesens.<br />

Das Nachrichtenmagazin Newsweek kommentie rte diese neue Situation in seiner<br />

Ausgabe vom 5. November 2002 denn auch ebenso lakonisch wie treffend mit<br />

der Überschrift „Time to think about torture“. Ganz offensichtlich häufen sich<br />

die Stimmen derjenigen, die unter dem Eindruck des lange unterschätzten Bedrohungspotenti<strong>als</strong><br />

durch den internationalen Terrorismus immer lautstarker die<br />

Frage stellen, ob es nicht auch Situationen geben könnte, unter denen der Einsatz<br />

der Folter zur Rettung von Menschen zumindest gerechtfertigt erscheint.<br />

Um diese Frage schrittweise einer Antwort zuzuführen, werde ich zunächst versuchen,<br />

den Begriff der Folter genauer zu bestimmen. Im Anschluß daran soll im<br />

Blick auf die sogenannte ‚Rettungsfolter‘ gezeigt werden, warum an einem strikt<br />

ausnahmslosen Verbot der Folter festzuhalten ist. Ein dritter Argumentationsschritt<br />

ist dann der Auseinandersetzung mit der Problematik einer Androhung<br />

von Folter gewidmet, die im Fall Daschner für erhebliches Aufsehen gesorgt hat.<br />

1. Zur näheren Bestimmung des Begriffs der Folter<br />

Eine wesentliche Voraussetzung für eine überzeugende moralische Urteilsbildung<br />

besteht ganz generell in einer klaren Begriffssprache. Schon ein flüchtiger<br />

Blick auf die derzeitige Folter-Debatte genügt jedoch um festzustellen, daß <strong>hier</strong><br />

von einer präzisen, allgemein geteilten Terminologie keine Rede sein kann. Statt<br />

dessen stößt man auf zwei gegenläufige Tendenzen, die beide insofern höchst<br />

problematisch erscheinen, <strong>als</strong> sie sich einer ganz bestimmten partikularen Interessenlage<br />

verdanken. Die eine Tendenz besteht in einer extrem weiten Begriffsverwendung,<br />

derzufolge praktisch „jede Zufügung von körperlichem oder seelischem<br />

Leid“ 5 bereits <strong>als</strong> Folter angesehen wird. 6 Daß die mit einer solchen Ausweitung<br />

bzw. Überdehnung einhergehende „geradezu quälende Unbestimmtheit“<br />

7 des Folterbegriffs kaum dazu angetan ist, die Möglichkeit eines strikt<br />

ausnahmslosen Folterverbotes auch nur ernsthaft in Erwägung zu ziehen, versteht<br />

sich eigentlich von selbst. Die andere, genau entgegengesetzte Tendenz<br />

wird überall dort sichtbar, wo der Folterbegriff so verengt wird, daß er nur noch<br />

einen Teilbereich jener Mißhandlungen abdeckt, die wir begründeterweise <strong>als</strong><br />

‚Folter‘ anzusprechen gewohnt sind. Die einfachste Form einer solchen ungebührlichen<br />

Begriffsverengung ist bei Werner Wolbert zu beobachten, der in seinem<br />

LThK-Artikel die Folter <strong>als</strong> „die mit bestimmten Geräten vorgenommene<br />

körperliche Mißhandlung von Menschen“ 8 bestimmt. Diese Definition trifft zwar<br />

auf eine ganze Reihe von Foltertechniken durchaus zu, doch schließt sie zu Unrecht<br />

den weiten Bereich der Seelentortur aus, die nicht primär auf eine Beeinträchtigung<br />

der körperlichen Integrität des Opfers abzielt <strong>und</strong> folglich auch auf<br />

den Einsatz entsprechender ‚Gerätschaften‘ verzichten kann.<br />

44


Als zu eng erweisen sich darüber hinaus aber auch solche Definitionsversuche,<br />

die von Folter nur dann sprechen wollen, wenn eine ganz bestimmte Intention<br />

des Folterers – wie z.B. die Erlangung von bestimmten Informationen – gegeben<br />

ist, so daß vergleichbare Gewaltanwendungen mit einer anders gearteten Zielsetzung<br />

rein begrifflich nicht mehr <strong>als</strong> Folter zu qualifizieren wären. 9 Gegenüber<br />

derartigen Ansätzen ist an die immense Breite des intentionalen Spektrums von<br />

Folterhandlungen zu erinnern, die wir rein sprachlich dadurch zum Ausdruck<br />

bringen, daß wir etwa von ‚Geständnisfolter‘, ‚Bestrafungsfolter‘, ‚Hinrichtungsfolter‘,<br />

‚Unterhaltungsfolter‘ oder neuerdings auch von ‚Rettungsfolter‘ reden.<br />

Innerhalb des generellen Handlungstyps der Folter haben wir <strong>als</strong>o mit einer Fülle<br />

verschiedener Handlungsarten zu rechnen, die sich intentional erheblich voneinander<br />

unterscheiden 10 <strong>und</strong> die auch wertungsmäßig klar gegeneinander abzugrenzen<br />

sind.<br />

Eine dritte Variante der gezielten Verengung des Folterbegriffs begegnet uns<br />

schließlich in einem Vermerk des amerikanischen Justizministeriums vom August<br />

2002, in dem ausgeführt wird, körperlicher Schmerz im Sinne der Anti-<br />

Folter-Konvention der Vereinten Nationen müsse in seiner Intensität dem<br />

Schmerz gleichkommen, der „eine ernsthafte Körperverletzung, wie Organversagen,<br />

Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder sogar den Tod“ begleitet.<br />

Ebenso wie die Etikettierung afghanischer Kriegsgefangener <strong>als</strong> ‚feindliche<br />

Kämpfer‘ <strong>und</strong> ihre gezielte Verbringung in das außerhalb des US-Territoriums<br />

gelegene Gefangenenlager Guantanamo Bay auf Cuba verfolgt auch die bewußte<br />

Einschränkung des Folterbegriffs auf extremste Formen der Schmerzzufügung<br />

ganz offensichtlich das Ziel, bestehende völkerrechtliche Normierungen zu unterlaufen<br />

<strong>und</strong> eine Grauzone zu schaffen, die es amerikanischen Soldaten ermö g-<br />

licht, straffrei Handlungen auszuführen, die bei näherer Betrachtung <strong>als</strong> illegitime<br />

Akte der Folter zu bezeichnen sind. So überrascht es denn auch kaum, daß<br />

das Justizministerium sofort nach Bekanntwerden der Übergriffe in Abu Ghraib<br />

den genannten Vermerk für überholt erklärt <strong>und</strong> in einer neuen Anweisung klargestellt<br />

hat, daß „großer Schmerz“ nicht auf „quälende <strong>und</strong> unerträgliche“<br />

Schmerzen zu beschränken sei.<br />

Angesichts der verschiedenen Möglichkeiten einer unzulässigen Überdehnung<br />

bzw. Verengung des Folterbegriffs drängt sich natürlich die Frage auf, wie denn<br />

dann eine angemessene Begriffsbestimmung näherhin aussehen könnte. Einen<br />

guten Orientierungspunkt bietet m. E. die Definition, die sich in Artikel 1 Absatz<br />

1 der UN-Folterkonvention vom 10.12.1984 findet. Sie lautet:<br />

„Im Sinne dieses Übereinkommens bezeichnet der Ausdruck ‚Folter‘ jede Handlung,<br />

durch die einer Person vorsätzlich große körperliche oder seelische<br />

Schmerzen oder Leiden zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder einem<br />

Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu erlangen, um sie für eine tatsächlich<br />

oder mutmaßlich von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen oder um<br />

sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder zu nötigen, oder aus einem anderen,<br />

auf irgendeiner Art von Diskriminierung beruhenden Gr<strong>und</strong>, wenn diese<br />

Schmerzen oder Leiden von einem Angehörigen des öffentlichen Dienstes oder<br />

einer anderen in amtlicher Eigenschaft handelnden Person, auf deren Veranlas-<br />

45


sung oder mit deren ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis<br />

verursacht werden. Der Ausdruck umfaßt nicht Schmerzen oder Leiden, die sich<br />

lediglich aus gesetzlich zulässigen Sanktionen ergeben, dazu gehören oder damit<br />

verb<strong>und</strong>en sind.“<br />

In dieser Definition finden sich drei wichtige Elemente, die alle vorhanden sein<br />

müssen, wenn begründeterweise von ‚Folter‘ gesprochen werden soll. Es sind<br />

dies: „(1) ein objektiver Tatbestand, der mit der ‚Zufügung großer körperlicher<br />

oder seelischer Schmerzen oder Leiden‘ umschrieben wird, ferner (2) ein subjektiver<br />

Tatbestand, bestehend aus Vorsatz <strong>und</strong> einer bestimmten Intention <strong>und</strong><br />

schließlich (3) eine besondere Nähe des Täters zur staatlichen Gewalt“. 11<br />

Obwohl vor allem das erste Definitionselement – <strong>als</strong>o der Verweis auf große<br />

körperliche <strong>und</strong>/oder seelische Schmerzen <strong>und</strong> Leiden – gewiß noch der näheren<br />

Spezifizierung bedarf, ist kaum zu bestreiten, daß damit zumindest die wichtigsten<br />

der derzeit bekannten Foltermethoden (wie z.B. Schläge, Elektroschocks,<br />

gezielte Verbrennungen an empfindlichen Körperteilen, das Ausreißen von Finger-<br />

<strong>und</strong> Fußnägeln, Knochendurchbohrungen, Amputationen, sexueller Mißbrauch<br />

bis hin zur Vergewaltigung durch Tiere, Scheinhinrichtungen sowie psychische<br />

Manipulationen durch Schlafentzug, Gehirnwäsche, Verabreichung von<br />

Drogen oder die extrem prolongierte Verhinderung jedweder Sinneswahrnehmung)<br />

erfaßt werden. Beachtung verdient zudem das dritte Definitionselement,<br />

das die Folter von den verschiedenen Formen privater etwa häuslicher Gewalt<br />

abgrenzt, die trotz ihres gelegentlich systematischen <strong>und</strong> lang anhaltenden Charakters<br />

keinen Zusammenhang mit den Trägern staatlicher Gewalt aufweisen. 12<br />

Auf der Gr<strong>und</strong>lage dieses Begriffsverständnisses soll nachfolgend das Problem<br />

der moralischen Bewertung von Folterhandlungen diskutiert werden.<br />

2. Zur Debatte um die sogenannte ‚Rettungsfolter‘<br />

In der gegenwärtigen Diskussion geht es nicht um eine generelle Erlaubnis der<br />

Folter zu beliebigen Zwecken. Niemand bestreitet ernsthaft, daß Folter zur Erlangung<br />

eines Geständnisses, zur Bestrafung von Kriminellen oder gar zur Einschüchterung<br />

von politischen Gegnern immer <strong>und</strong> unter allen Umständen verboten<br />

ist. Der Streit geht allein um die Frage, ob Folter zum Zwecke der Rettung<br />

von Menschenleben in bestimmten Extremsituationen wie dem berühmt -<br />

berüchtigten ticking bomb-Szenario erlaubt ist, in dem ein Terrorist das Leben<br />

Tausender unschuldiger Bürger mit einer tickenden Zeitbombe bedroht <strong>und</strong> damit<br />

eine Gefahrensituation heraufbeschwört, die sich zumindest prima facie nur<br />

dadurch beseitigen läßt, daß dem Täter unter der Folter der Zahlencode der versteckten<br />

Bombe abgepreßt wird.<br />

So unterschiedliche Autoren wie der Heidelberger Ordinarius für Öffentliches<br />

Recht Winfried Brugger 13 , der Hamburger Rechtsphilosoph Reinhard Merkel 14<br />

<strong>und</strong> der Münchener Historiker Michael Wolffssohn haben sich jüngst zustimmend<br />

zur Möglichkeit einer legitimen ‚Rettungsfolter‘ geäußert <strong>und</strong> damit nach<br />

Einschätzung vieler ihrer Kollegen einen Tabu-Bruch begangen, der nicht unwidersprochen<br />

bleiben darf. 15<br />

46


Wie wenig es sich bei der mittlerweile entstandenen Kontroverse um einen rein<br />

akademischen Disput im elfenbeinernen Turm der Wissenschaft handelt, wird<br />

sofort deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß der frühere niedersächsische<br />

Ministerpräsident Ernst Albrecht schon im Jahre 1976 in seinem Buch „Der<br />

Staat“ 16 die Frage aufgeworfen hatte, ob Folter im Kampf gegen Terroristen<br />

nicht „sittlich geboten“ sein könne, <strong>und</strong> der Große Krisenstab während der<br />

Schleyer-Entführung im Jahre 1977 darüber diskutiert hat, ob man mit Gewalt<br />

gegen inhaftierte RAF-Mitglieder vorgehen dürfe.<br />

Zumal unter den derzeitigen Bedingungen eines internationalen ‚Kriegs gegen<br />

den Terrorismus‘ wird <strong>als</strong>o derjenige gute Gründe ins Feld führen müssen, der<br />

auch <strong>und</strong> gerade im Blick auf die Rettungsfolter für ein absolutes Folterverbot<br />

eintritt. Um zu zeigen, welche Gründe das sein können <strong>und</strong> welche Überlegungen<br />

dafür offenbar ungeeignet sind, werde ich im folgenden drei verschiedene<br />

Argumentationsstrategien skizzieren, von denen ich die beiden ersten jedoch für<br />

wenig überzeugend erachte.<br />

2.1 Die rechtsstaatliche Begründungsvariante:<br />

Ein erster Argumentationstyp zugunsten eines absoluten Folterverbots begegnet<br />

uns geradezu mustergültig in den Arbeiten des Hamburger Literatur- <strong>und</strong> Sozialwissenschaftlers<br />

Jan Philipp Reemtsma, der sich wiederholt in die aktuelle<br />

Folterdebatte eingeschaltet hat. 17 Reemtsma zufolge besteht „der gravierendste<br />

Fehler, der in der gegenwärtigen Diskussion unterläuft“ darin, „die Frage nach<br />

dem Verbot der Folter für eine moralische Frage zu halten“. 18 Da es <strong>hier</strong>bei jedoch<br />

„nicht um Regeln für das Verhalten Einzelner <strong>und</strong> ihr Verhalten im Einzelfall,<br />

sondern um die Verfassung des Gemeinwesens“ gehe, gehöre das Verbot<br />

der Folter „nicht in den Bereich der Moralität, sondern in den der Sittlichkeit“. 19<br />

Entsprechend scheut sich Reemtsma denn auch nicht, die seinerzeit von Niklas<br />

Luhmann in seinem Heidelberger Vortrag „Gibt es in unserer Gesellschaft noch<br />

unverzichtbare Normen?“ 20 aufgeworfene Frage positiv zu beantworten, ob man<br />

einen Terroristen foltern dürfe, um dadurch das Leben vieler unschuldiger Menschen<br />

zu retten. Ja – so bekennt Reemtsma in seinem jüngst erschienenen Band<br />

„Folter im Rechtsstaat?“ – er würde diesen Menschen so lange quälen, bis er ihm<br />

alles verraten habe, <strong>und</strong> die Grenze für sein Tun würde ihm dabei nicht sein<br />

„Mitgefühl mit dieser Person ziehen, sondern der irgendwann eintretende Ekel<br />

vor mir selbst“. 21<br />

Wenn sich Reemtsma gleichwohl für ein absolutes Folterverbot ausspricht, dann<br />

hat das seinen Gr<strong>und</strong> darin, daß eine – wenn auch nur gelegentliche – Zulassung<br />

der Folter s. E. „die Idee des Rechtsstaats in ihrer Substanz beschädigte“, was<br />

um so verheerender sei, <strong>als</strong> die Idee der Rechtsstaatlichkeit das entscheidende<br />

F<strong>und</strong>ament unserer gesamten modernen westlichen Kultur bilde. Ein ‚folternder<br />

Rechtsstaat‘ ist für Reemtsma insofern ein Widerspruch in sich, <strong>als</strong> die Voraussetzung<br />

des Rechtsstaates die „Idee des rechtsfähigen Subjekts“ 22 ist, <strong>und</strong> das<br />

Individuum durch die Folter „in seiner Fähigkeit, ein Rechtssubjekt zu sein,<br />

angegriffen, ja im Extremfall <strong>als</strong> autonomes Individuum zerbrochen <strong>und</strong> zerstört<br />

wird“. 23 Zwar dürfe der Rechtsstaat durchaus Zwang auf seine Bürger ausüben,<br />

doch müsse er „dem von seinen Maßnahmen Betroffenen stets ein Minimum an<br />

47


Resistenzmöglichkeit“ 24 belassen, was durch die Folter aber gerade ausges chlossen<br />

sei, da diese regelmäßig auf die Totalunterwerfung des Gefolterten abziele.<br />

Was ist von einem solchen rechtsstaatlichen Begründungsansatz zu halten? Obwohl<br />

ich Reemtsmas Ziel der Begründung eines absoluten Folterverbots ausdrücklich<br />

teile, weist seine konkrete (nicht nur sprachlich ganz im Plausibilitätsrahmen<br />

der Habermasianischen Variante der Diskursethik verbleibende) Argumentation<br />

m. E. wenigstens drei gravierende Schwachpunkte auf: erstens hält<br />

seine Behauptung, auch eine streng reglementierte Zulassung der Rettungsfolter<br />

führe unweigerlich zur nachhaltigen Beschädigung der Substanz des Rechtsstaates<br />

einer empirischen Überprüfung nicht stand. Gerade die Erfahrungen des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts zeigen, daß den zivilisatorischen Abstürzen z.B. im Vietnam- <strong>und</strong><br />

im Algerienkrieg ein „erstaunlich schnelles Sich-wieder-Berappeln“ der betroffenen<br />

rechtsstaatlichen Systeme folgte, das Reemtsma sogar ausdrücklich anerkennt.<br />

25 Zweitens hat der Verweis auf die engstens mit der Rechtssubjektivität<br />

verb<strong>und</strong>ene Forderung nach einer wenigstens minimalen Resistenzmöglichkeit<br />

des Bürgers den Nachteil, daß sie einerseits zuviel <strong>und</strong> andererseits zuwenig<br />

leistet. 26<br />

Zuviel leistet sie insofern, <strong>als</strong> auch andere staatliche Maßnahmen wie z.B. der<br />

finale polizeiliche Rettungsschuß dem Bürger die Resistenzmöglichkeit rauben<br />

<strong>und</strong> das Opfer in seiner Rechtssubjektivität zerstören, so daß neben der Folter<br />

noch weitere staatliche Gewaltmaßnahmen unter Reemtsmas striktes Verbotsurteil<br />

fallen müßten. Zuwenig leistet der Gedanke der totalen Aufhebung der Widerstandsfähigkeit<br />

des Bürgers dagegen insofern, <strong>als</strong> nur „eine keinerlei Beschränkungen<br />

unterliegende Folter ... die Chance des Opfers zum Widerstand zur<br />

Gänze auf(hebt)“ 27 , während einer ‚maßvollen‘ Folter zu widerstehen durchaus<br />

möglich bleibe. Müßte Reemtsma dann nicht konsequenterweise solche milderen<br />

Formen der Folter zulassen? Am gravierendsten scheint mir jedoch drittens der<br />

Umstand, daß sich Reemtsma einerseits dezidiert für einen rein formalprozeduralen<br />

Begründungsansatz stark macht 28 , andererseits dann aber doch<br />

seine Zuflucht zu „materiale(n) Äquivalente(n)“ 29 des Rechtsstaatsgedankens<br />

nehmen muß, um der argumentativen Schwäche der reinen Formalität aufzuhelfen.<br />

Das Ergebnis ist eine Art doppelte begründungstheoretische Buchführung.<br />

So erfrischend der Verzicht auf die übliche Beschwörung der moralischen Rechte<br />

<strong>und</strong> der Selbstzwecklichkeit des potentiellen Folteropfers auf den ersten Blick<br />

zu sein scheint, so wenig vermag sich der Gedanke der ‚Rechtssubjektivität‘ von<br />

diesem metaphysischen Hintergr<strong>und</strong> wirklich vollständig zu befreien <strong>und</strong> argumentativ<br />

für sich selbst aufzukommen.<br />

2.2 Die teleologische Begründungsvariante<br />

Eine zweite Argumentationsstrategie zugunsten eines strikten Folterverbots begegnet<br />

uns bei Werner Wolbert, der für „ein auf dem Gesichtspunkt der Güterabwägung<br />

basierendes (teleologisch begründetes) Nein zur Folter“ 30 plädiert.<br />

Wolbert weist zu Recht darauf hin, „daß mit der Feststellung, die Folter sei niem<strong>als</strong><br />

verantwortbar, (noch) nicht der zwischen Deontologen <strong>und</strong> Teleologen<br />

strittige Punkt getroffen ist“. 31 Richtig ist auch seine Beobachtung, daß das katholische<br />

Lehramt zwar in jüngster Zeit wiederholt auf die ausnahmslose<br />

48


Schlechtigkeit der Folter hingewiesen hat 32 , daß die Folter in der moraltheologischen<br />

Tradition aber gerade nicht zu den deontologisch normierten intrinsece<br />

mala gezählt worden ist. Bekanntlich waren es denn auch nicht Denker wie<br />

Thomas von Aquin oder der Erzdeontologe Immanuel Kant 33 , sondern verschiedene<br />

Autoren aus dem Umkreis des Utilitarismu s – wie Jeremy Bentham 34 <strong>und</strong><br />

Cesare Beccaria 35 –, die sich in der Neuzeit energisch für eine Abschaffung der<br />

Folter eingesetzt haben.<br />

Um jedoch beurteilen zu können, ob Wolberts teleologischer Denkansatz tatsächlich<br />

ein absolutes Folterverbot zu begründen vermag, müssen wir einen Blick auf<br />

die verschiedenen Einzelargumente werfen, mit deren Hilfe er zu einer „gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />

Ablehnung der Folter“ kommen will. Wolbert stützt sich auf fünf<br />

Überlegungen: 1. äußere sich der Respekt vor den Menschen für uns heute wesentlich<br />

auch im Respekt vor der körperlichen Integrität des anderen; 2. gehöre<br />

der Körper des Verbrechers – entgegen früheren Anschauungen – nicht dem<br />

Staat; 3. sei das Opfer durch die Folter für lange Zeit oder ein ganzes Leben<br />

geprägt; 4. müsse derjenige, der einen anderen Menschen foltere, dabei ein Stück<br />

seiner eigenen Humanität über Bord werfen, <strong>und</strong> 5. sei <strong>hier</strong> eine Art slippery<br />

slope-Betrachtung relevant, da die akute Gefahr mißbräuchlicher Ausweitungseffekte<br />

bestehe. 36<br />

Überblickt man diese fünf Argumente, dann fällt auf, daß vor allem die beiden<br />

ersten Gesichtspunkte ohnehin nur auf die körperliche Folter anwendbar sind,<br />

<strong>und</strong> die Argumente drei <strong>und</strong> vier insofern äußerst vage <strong>und</strong> unbestimmt bleiben,<br />

<strong>als</strong> die spezifische Art der Beeinträchtigung sowohl des Täters wie des Opfers<br />

durch die Folterhandlung überhaupt nicht zur Sprache kommt. Daß <strong>als</strong> harter<br />

Kern der Wolbertschen Argumentation somit letztlich nur noch das relativ<br />

schwache Dammbruchargument übrig bleibt, erhellt auch aus der Feststellung<br />

des Autors, sein „gr<strong>und</strong>sätzliches Nein“ zur Rettungsfolter sei „im Sinne einer<br />

‚lex lata ad praecavendum periculum generale‘“ 37 zu verstehen, da bereits überall<br />

dort, wo man eine solche Handlungsweise auch nur in Erwägung ziehe, dem<br />

Mißbrauch Tür <strong>und</strong> Tor geöffnet sei.<br />

Ich halte diese Behauptung gerade im Blick auf die besonderen Umstände der<br />

Rettungsfolter insofern für wenig überzeugend, <strong>als</strong> es sich <strong>hier</strong>bei um eine ganz<br />

eindeutig umschriebene Extremsituation handelt, in der es per definitionem um<br />

einen durch entsprechende Sicherheitsvorkehrungen eingegrenzten, gewissermaßen<br />

streng kontrollierten Foltereinsatz geht. Gerade ein rein folgenorientierter<br />

Ansatz wie das teleologische Denkmodell müßte <strong>hier</strong> eigentlich zur Verhinderung<br />

von größeren Katastrophen die Rettungsfolter <strong>als</strong> minus malum tolerieren<br />

<strong>und</strong> zu einem entsprechenden Erlaubnisurteil gelangen. So polemisiert Wolbert<br />

denn auch ausdrücklich gegen die ‚fiat iustitia pereat m<strong>und</strong>us‘-Mentalität der<br />

Deontologie, die sich der scheinbar zwingenden Logik derartiger Abwägungsprozesse<br />

hartnäckig widersetzt. 38<br />

Wolbert versucht, das Problem der drohenden Inkonsistenz seiner Position durch<br />

die Behauptung zu lösen, „daß die bei solchen Gegenargumenten vorgetragenen<br />

Güterabwägungen meist recht selektiv sind“, <strong>und</strong> „Gesichtspunkte wie der Gewöhnungseffekt,<br />

die Erosion des Rechtsbewußtseins (<strong>und</strong>) der seelische Schaden<br />

49


für Folterer ... übergangen (werden)“. 39 Das mag zwar gelegentlich tatsächlich<br />

der Fall sein, doch dürfte die Problematik der Rettungsfolter gerade darin bestehen,<br />

daß ihre ‚positiven Folgen‘ auch bei Berücksichtigung aller genannten Aspekte<br />

ihre negativen Konsequenzen in den Augen vieler Zeitgenossen übersteigen,<br />

so daß ein strikt ausnahmsloses Folterverbot auf diesem Wege eben nicht<br />

mehr zu begründen ist.<br />

Wolbert muß sich <strong>als</strong>o konsequenterweise entscheiden: entweder er bleibt seiner<br />

rein teleologischen Folgen-Betrachtung treu <strong>und</strong> ist damit gezwungen, gelegentliche<br />

Akte der Rettungsfolter für zulässig zu erklären; oder er hält an seinem<br />

ausnahmslosen Folterverbot fest <strong>und</strong> muß dafür zusätzliche Argumente ins Feld<br />

führen, die den teleologischen Rahmen seiner Argumentation sprengen.<br />

2.3 Die deontologische Begründungsvariante<br />

Anhänger eines deontologischen Standpunktes in der normativen Ethik versuchen<br />

die Notwendigkeit eines absoluten Folterverbots zumeist durch einen<br />

Rückgriff auf die Kategorie der ‚Menschenwürde‘ zu begründen. Dies ist freilich<br />

nur dann möglich, wenn es gelingt, den schillernden Begriff der Würde des<br />

Menschen klar zu bestimmen <strong>und</strong> genau anzugeben, worin die Menschenwürdewidrigkeit<br />

der Folter näherhin besteht. In der Tradition des neuzeitlichen Humanismus<br />

wird unter ‚Würde‘ zumeist die Ausprägung eines angeborenen <strong>und</strong><br />

unveräußerlichen Eigenwertes der menschlichen Person verstanden, der sich<br />

wiederum in verschiedenen natürlichen Rechten des Individuums niederschlägt.<br />

Zum Ensemble dieser die Menschenwürde konstituierenden Rechte zählt der<br />

Würzburger Rechtsphilosoph Eric Hilgendorf „1. das Recht auf ein materielles<br />

Existenzminimum, 2. das Recht auf autonome Selbstentfaltung, 3. das Recht auf<br />

geistig-seelische Integrität, 4. das Recht auf Freiheit von extremem Schmerz, 5.<br />

das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, 6. das Recht auf Rechtsgleichheit<br />

sowie 7. das Recht auf minimale Achtung“. 40<br />

Legt man dieses Verständnis von Menschenwürde zugr<strong>und</strong>e, dann wird sofort<br />

deutlich, daß die Folter gleich in mehrfacher Hinsicht eine massive Verletzung<br />

der Menschenwürde darstellt, weil das Folteropfer nicht nur des Existenzminimums<br />

<strong>und</strong> der elementaren Achtung beraubt, sondern auch in seiner psychophysischen<br />

Integrität verletzt wird. Allerdings ist zu betonen, daß die genannten<br />

Rechte nicht einfach <strong>als</strong> gleichwertige Größen beziehungslos nebeneinander<br />

stehen.<br />

Da der Kern der Menschenwürde in der Autonomiefähigkeit des Menschen besteht,<br />

liegt das eigentlich Verwerfliche der Folterhandlung gar nicht in der Zufügung<br />

körperlicher Schmerzen <strong>als</strong> solcher, sondern in dem gezielten Versuch, bis<br />

in das Innerste einer Person – <strong>als</strong>o bis in den Bereich, wo Selbstbewußtsein,<br />

Gewissens- <strong>und</strong> Willensfreiheit ihren Sitz haben – vorzudringen <strong>und</strong> die Person<br />

durch eine bewußte Traumatisierung zu einem Handeln zu zwingen, das im Widerspruch<br />

zur eigenen Gewissensentscheidung steht. 41 Letztlich geht es <strong>als</strong>o auch<br />

bei der Rettungsfolter um einen Angriff auf die Autonomiefähigkeit des Menschen,<br />

durch den dieser auf die Ebene einer bloß körperlich-vegetativen Existenzform<br />

herabgewürdigt wird.<br />

50


Mit der unveräußerlichen Menschenwürde auch des Straftäters kommt ein letzter<br />

qualitativer Gesichtspunkt in den Blick, der einem rein quantifizierenden Abwägungskalkül<br />

eine absolute Grenze zu ziehen <strong>und</strong> deswegen m. E. ein kategorisches<br />

Folterverbot durchaus plausibel zu begründen vermag. 42<br />

Allerdings sollte man sich zweier möglicher Folgeprobleme einer solchen Argumentation<br />

bewußt sein: erstens ist damit zu rechnen, daß die entscheidende,<br />

nicht zu überschreitende Grenze, an der die Autonomiefähigkeit eines Menschen<br />

durch staatliche Zwangsmaßnahmen irreversiblen Schaden nimmt, je nach Robustheit<br />

der betroffenen Person individuell variiert, so daß eine praktische Umsetzung<br />

dieser Verbotsnorm hohe Anforderungen an das praktische Urteilsvermögen<br />

aller Beteiligten stellt.<br />

Zweitens ist davon auszugehen, daß es eine ganze Reihe von polizeilichen<br />

Zwangsmaßnahmen gibt, die sicherlich noch unterhalb der Schwelle der Würdeverletzung<br />

bleiben. Präzisiert man daher das in der eingangs zugr<strong>und</strong>e gelegten<br />

Folterdefinition enthaltene objektive Tatbestandsmerkmal der ‚Zufügung starker<br />

körperlicher Schmerzen <strong>und</strong>/oder seelischer Leiden‘ i.S. der nachhaltigen Schädigung<br />

der für die Menschenwürde entscheidenden Autonomiefähigkeit des<br />

Betroffenen, dann bleiben immer noch verschiedene staatliche Zwangsmittel<br />

erlaubt, deren Einsatz dringend der formalen Regelung bedarf, auch wenn man<br />

diese Maßnahmen sinnvollerweise nicht mehr <strong>als</strong> ‚Folter‘ im strikten Sinne bezeichnen<br />

sollte.<br />

Die beiden genannten Probleme sind gewiß sehr ernst zu nehmen, doch wiegen<br />

sie m. E. nicht so schwer, daß sie die gr<strong>und</strong>sätzliche Plausibilität eines deontologischen<br />

Folterverbots zu erschüttern vermögen. Dies gilt um so mehr, <strong>als</strong> der<br />

Verweis auf die Menschenwürde in diesem Zusammenhang auch zwei nicht zu<br />

unterschätzende Vorteile hat: er erinnert uns nämlich zum einen daran, daß gerade<br />

auch in den für die Rettungsfolter einschlägigen psychologisch schwierigen<br />

Entführungs- <strong>und</strong> Erpressungssituationen jeder einzelne prinzipiell nur für sein<br />

eigenes Handeln (nicht aber für die voraussehbaren Folgen des Handelns anderer!)<br />

verantwortlich ist 43 , wodurch einer oftm<strong>als</strong> ins Phantastische übersteigerten<br />

Aufblähung unserer Verantwortung für die Rettung der Welt von vorneherein die<br />

Gr<strong>und</strong>lage entzogen wird.<br />

Zum anderen zeichnet sich die <strong>hier</strong> vertretene Position aber auch durch ihren<br />

nüchternen politischen Realismus aus. Bei dem immer wieder bemühten sog.<br />

ticking bomb-Szenario, in dem die Anwendung der Rettungsfolter erlaubt sein<br />

soll, handelt es sich nämlich um eine abstrakte Konstruktion, deren spezifische<br />

Bedingungen in der Realität bislang in noch keinem einzigen Fall angewandter<br />

Folterungen erfüllt waren. Statt der millionenfachen realen Anwendung der<br />

Folter durch den theoretischen Nachweis eines vermeintlichen Rechts auf die<br />

künftige Anwendung der Rettungsfolter ungewollt den Schein zumindest der<br />

Diskussionswürdigkeit (wenn nicht gar der Legitimität) zu verschaffen, zeichnet<br />

sich das klare deontologische Verdikt auch über die Rettungsfolter u.a. auch<br />

dadurch aus, für derartige politische Instrumentalisierungen prinzipiell untauglich<br />

zu sein.<br />

51


3. Zur Frage der moralischen Legitimität von Folterandrohungen<br />

Obwohl der sog. Fall Daschner auch eine ganze Reihe höchst interessanter juristischer<br />

Fragen aufwirft 44 , scheint seine eigentliche Brisanz auf moralischem<br />

Gebiet zu liegen. Rein rechtlich ist klar, daß Daschner gegen positive polizeigesetzliche<br />

Bestimmungen verstoßen hat <strong>und</strong> dafür auch rechtlich sanktioniert<br />

werden muß. Um jedoch beurteilen zu können, wie sein Vorgehen moralisch zu<br />

beurteilen ist, müssen wir uns kurz die damalige Situation vergegenwärtigen:<br />

Daschner hatte in einem Aktenvermerk vom 1. Oktober 2002 angeordnet, der<br />

der Kindesentführung dringend tatverdächtige Jurastudent Magnus Gäfgen sei<br />

„nach vorheriger Androhung, unter ärztlicher Aufsicht, durch Zufügung von<br />

Schmerzen (keine Verletzung) erneut zu befragen“, um so das akut bedroht geglaubte<br />

Leben des elfjährigen Jakob von Metzler zu retten. Der vernehmende<br />

Polizeibeamte soll dem Beschuldigten daraufhin den Ernst der Lage verdeutlicht<br />

<strong>und</strong> darauf hingewiesen haben, daß „per Hubschrauber ein Experte eingeflogen<br />

werde, der ih m Schmerzen zufügen werde, wie er sie noch nie verspürt habe“.<br />

Wenig später gab Gäfgen dann den Aufenthaltsort 45 des von ihm bereits ermo r-<br />

deten Entführungsopfers bekannt.<br />

Viele Kommentatoren des Geschehens haben in der prekären Situation, in die<br />

Wolfgang Daschner durch das hartnäckige Schweigen des Täters gebracht worden<br />

ist, ein Musterbeispiel für eine sog. tragic choice-Situation sehen wollen.<br />

Tragisch sei die von Daschner zu treffende Wahl deshalb, weil sie – ganz gleich<br />

wie er sich entscheide – auf die Verletzung tendentiell gleichwertiger Normen<br />

hinauslaufe. Danach mußte Daschner gewissermaßen zwangsläufig entweder an<br />

den Rechten des Täters oder an denjenigen des Entführungsopfers schuldig werden.<br />

Stimmt das tatsächlich?<br />

Ich glaube, daß bei aller psychologischen Schwierigkeit der Situation von einer<br />

echten moralischen Tragik keine Rede sein kann. Tatsächlich liegen nämlich die<br />

konfligierenden Verpflichtungen, die Daschner dem Entführer auf der einen <strong>und</strong><br />

dem Entführungsopfer auf der anderen Seite gegenüber hat, nicht auf derselben<br />

Ebene. Obwohl es selbstverständlich zutrifft, daß der Begriff der Menschenwürde<br />

neben einem Achtungs- auch einen Schutzaspekt beinhaltet, der gerade im<br />

Blick auf das Handeln des Staates <strong>und</strong> seiner Organe nicht übersehen werden<br />

darf, kommt der gebotenen Achtung, die sich primär in bestimmten Unterlassungshandlungen<br />

äußert, doch ein eindeutiger Primat zu. Noch vor allen positiven<br />

Hilfsmaßnahmen zum Schutze des Entführungsopfers ist der Repräsentant<br />

staatlicher Gewalt daher zur Achtung der Würde aller Beteiligten verpflichtet.<br />

Da auch ein krimineller Kindesentführer durch sein verbrecherisches Handeln<br />

keineswegs seiner Würde verlustig geht, sowohl Opfer wie Täter mithin Träger<br />

derselben Menschenwürde sind, besteht die erste <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legende Pflicht des<br />

Staates darin, all jene Handlungen zu unterlassen, die mit der Achtung vor der<br />

menschlichen Würde schlechthin unvereinbar sind. Der moralisch notwendige<br />

Verzicht auf die Folterung des Täters verstößt folglich auch nicht gegen ein<br />

Schutzrecht des Opfers, da sich der moralisch gebotene Schutz, auf den dieser<br />

52


selbstverständlich ein Recht hat, gr<strong>und</strong>sätzlich nur in jenen Grenzen bewegen<br />

kann, die vom prioritären Gedanken der Achtung gezogen werden.<br />

Die Anerkennung dieser Grenze verurteilt die staatliche Gewalt <strong>und</strong> ihre Repräsentanten<br />

nun jedoch umgekehrt keineswegs zu ohnmächtiger Passivität. Es gibt<br />

ein breite Palette von polizeilichen Zwangsmaßnahmen unterhalb der Schwelle<br />

des Vollzugs der Folter, die mit der Achtung der Würde des Täters durchaus<br />

vereinbar sind. Zu diesen Maßnahmen kann unter Umständen auch die Androhung<br />

von ‚schweren Schmerzzufügungen‘ (wie z.B. das Verdrehen der Handgelenke<br />

u.ä.) gehören, zu der u. a. auch Wolfgang Daschner gegriffen hat. Zwar ist<br />

sein Verhalten insofern durchaus auch moralisch kritikwürdig, <strong>als</strong> er die Bereitschaft<br />

erkennen ließ, es notfalls nicht bei der bloßen Folterandrohung bewenden<br />

zu lassen, doch ist es dazu bekanntlich nicht mehr gekommen. 46<br />

So ist aus dem Fall Daschner ein wenigstens Dreifaches zu lernen: nämlich erstens,<br />

daß es Extremsituationen gibt, in denen es moralisch berechtigt sein kann,<br />

eine Handlung wie die Folter anzudrohen, die auszuführen man unter keinen<br />

Umständen berechtigt wäre; zweitens, daß ein solches Vorgehen de facto durchaus<br />

erfolgreich sein kann; <strong>und</strong> drittens, daß im Blick auf die rechtliche Bewältigung<br />

solcher Situationen insofern ein akuter Regelungsbedarf im derzeit gültigen<br />

Polizeirecht besteht, <strong>als</strong> die einschlägigen Zwangsmaßnahmen derzeit wegen<br />

ihrer pauschalen rechtlichen Tabuisierung eher verdeckt <strong>und</strong> damit unkontrolliert<br />

in einer Grauzone praktiziert werden, was für alle Beteiligten erhebliche Gefahren<br />

mit sich bringt, so daß <strong>hier</strong> eine Klärung der Sachlage dringend geboten<br />

erscheint.<br />

Anmerkungen<br />

1) Vgl. dazu F. Helbing: Die Tortur. Geschichte der Folter im Kriminalverfahren aller<br />

Völker <strong>und</strong> Zeiten, 1910 (Neudruck 2001), M. Schmoeckel: Humanität <strong>und</strong> Staatsraison.<br />

Die Abschaffung der Folter in Europa <strong>und</strong> die Entwicklung des gemeinen Strafprozeß<strong>und</strong><br />

Beweisrechts seit dem hohen Mittelalter, 2000 sowie E. Peters: Folter. Geschichte der<br />

Peinlichen Befragung, 2003.<br />

2) Von besonderer Bedeutung sind dabei auf UN-Ebene die am 10.12.1948 von der Generalversammlung<br />

der vereinten Nationen verabschiedete Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte,<br />

die in Art. 5 erklärt: „Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher<br />

oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.“ sowie die UN-<br />

Folterkonvention vom 10.12.1984. Weitere wichtige völkerrechtliche Dokumente für den<br />

europäischen Bereich sind Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950<br />

sowie das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter <strong>und</strong> unmenschlicher<br />

oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26.11.1987, dem die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland 1989 beigetreten ist.<br />

3) Vgl. amnesty international: Folter. Stellungnahmen, Analysen, Vorschläge zur Abschaffung,<br />

1976; amnesty international: „Wer der Folter erlag...“ Ein Bericht über die<br />

Anwendung der Folter in den 80er Jahren, 1985 sowie amnesty international: Für eine<br />

Welt frei von Folter, 2000, 8.<br />

4) H. Herrmann: Die Folter. Eine Enzyklopädie des Grauens, 2004, 10.<br />

5) E. Hilgendorf: Folter im Rechtsstaat?, in: Juristenzeitung 59 (2004), 331-339, 331.<br />

53


6) Wie fragwürdig ein derartiger Gebrauch des Folterbegriffs gerade in der Praxis ist,<br />

wurde sowohl im Fall Daschner <strong>als</strong> auch im Umkreis der Anschuldigungen gegen amerikanische<br />

Soldaten im Irak deutlich. So dürfte weder die Androhung, dem Kindsentführer<br />

Magnus Gäfgen starke Schmerzen durch das Verdrehen der Handgelenke zuzufügen,<br />

noch das spektakuläre Aufeinanderstapeln nackter Gefängnisinsassen zu einer Menschenpyramide<br />

oder das Bespucken des Koran den Tatbestand der Folter im strikten Sinne<br />

erfüllen. Diese <strong>und</strong> ähnliche Maßnahmen mögen erniedrigend, grob unschicklich <strong>und</strong> in<br />

jedem Fall geltendem Recht widersprechend sein, doch bleiben sie allesamt noch deutlich<br />

unterhalb jenes Gewaltniveaus, auf das der Begriff der Folter verweist.<br />

7) E. Hilgendorf: Folter im Rechtsstaat?, 331.<br />

8) W. Wolbert: Art. „Folter“, in: LThK Bd.3, 1995, Sp. 1343.<br />

9) So definiert etwa der Brockhaus von 2004 Folter <strong>als</strong> die „gezielte Zufügung physischer<br />

oder psychischer Schmerzen zur Erzwingung einer Aussage“.<br />

10) R. Perry definiert ‚Folter‘ daher zu Recht folgendermaßen: „Torture is the deliberate<br />

infliction of violence, and, through violance, severe mental and/or physical suffering upon<br />

individu<strong>als</strong>. It may be inflicted by individu<strong>als</strong> or groups and for diverse ends, ranging<br />

from extracting information, confession, admission of culpability or liability, and selfincrimination<br />

to general persuasion or intimidation or for amusement.“ (Encyclopedia of<br />

Ethics, 1992, 1252).<br />

11) E. Hilgendorf: Folter im Rechtsstaat?, 334.<br />

12) Derartige private Gewaltexzesse sollten daher nur in einem analogen Sinne <strong>als</strong> ‚Folter‘<br />

bezeichnet werden.<br />

13) Vgl. W. Brugger: Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, in: Der Staat 35 (1996), 67-<br />

97; ders.: Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, in: Juristenzeitung<br />

55 (2000), 165-216.<br />

14) Vgl. Das Statement R. Merkels beim Werkstattgespräch des Instituts für Theologie<br />

<strong>und</strong> Frieden am 26.6.2004 in Barsbüttel.<br />

15) Vgl. z.B. die Unterschriftenaktion von amnesty international „für eine Welt frei von<br />

Folter“ in der FAZ vom 17. Mai 2005, Nr. 112 S. 47.<br />

16) E. Albrecht: Der Staat – Idee <strong>und</strong> Wirklichkeit. Gr<strong>und</strong>züge einer Staatsphilosophie,<br />

1976.<br />

17) Vgl. J. P. Reemtsma: Zur Diskussion über die Re-Legitimierung der Folter (im Erscheinen);<br />

ders.: Folter im Rechtsstaat?, 2005.<br />

18) J. P. Reemtsma: Zur Diskussion über die Re-Legitimierung der Folter, 3.<br />

19) Ebd.<br />

20) N. Luhmann: Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen?, Heidelberger<br />

Universitätsreden, Bd. 4, 1993.<br />

21) J. P. Reemtsma: Folter im Rechsstaat?, 2005, 122.<br />

22) J. P. Reemtsma: Zur Diskussion über die Re-Legitimierung der Folter, 3.<br />

23) J. P. Reemtsma: Zur Diskussion über die Re-Legitimierung der Folter, 4.<br />

24) Ebd.<br />

25) Vgl. J. P. Reemtsma: Folter im Rechtsstaat?, 94.<br />

26) Vgl. M. Pawlik: Das zerbrochene Individuum, in: FAZ vom 13. Juni 2005 Nr.134, S.<br />

36.<br />

27) Ebd.<br />

28) So stellt er apodiktisch fest: „Es gibt keine materialen Normen, deren Geltung nicht in<br />

einem kasuistischen Disput in Frage gestellt werden könnte, <strong>und</strong> das ist der Gr<strong>und</strong>, warum<br />

moderne Ethiken sich auf formale Normen stützen.“ (Zur Diskussion über die Re-<br />

Legitimierung der Folter, 3). Angesichts der breiten traditionellen Diskussion zwischen<br />

deontologischen <strong>und</strong> teleologischen Theorieansätzen um die Deutung der sog. intrinsece<br />

mala muß aus moraltheologischer Perspektive nicht nur die Selbstverständlichkeit einer<br />

54


solchen Aussage, sondern auch das unbegründete Vertrauen in die Überzeugungskraft<br />

dieses Gr<strong>und</strong>dogmas der Diskursethik überraschen.<br />

29) J.P. Reemtsma: Zur Diskussion über die Re-Legitimierung der Folter, 3.<br />

30) W. Wolbert: Ausnahmsloses Verbot der Folter? Eine moraltheologische Sicht (in: G.<br />

Gehl: Folter – zulässiges Instrument im Strafrecht, 2005), 90.<br />

31) W. Wolbert: Das Verbot der Folter – eine neue deontologische Norm?, in: Theologie<br />

<strong>und</strong> Glaube 77 (1987), 128.<br />

32) Vgl. Vaticanum II: Gaudium et spes 27; Katechismus der katholischen Kirche: Nr.<br />

2297 <strong>und</strong> 2298.<br />

33) Vgl. Metaphysik der Sitten 1797, Werkausgabe Bd. VIII, hrsg. von W. Weischedel,<br />

1968, 453ff <strong>und</strong> 457f.<br />

34) Vgl. W.L. <strong>und</strong> P. E. Twining: Bentham on Torture, in: Northern Ireland Legal<br />

Quarterly 24 (1973), 305-356.<br />

35) Vgl. C. Beccaria: Über Verbrechen <strong>und</strong> Strafen. Nach der Ausgabe von 1766 übers.<br />

<strong>und</strong> hrsg. von W. Alff, 1968, 92f.<br />

36) Vgl. W. Wolbert: Ausnahmsloses Verbot der Folter? Eine moraltheologische Sicht,<br />

91.<br />

37) W. Wolbert: Das Verbot der Folter – eine neue deontologische Norm?, in: Theologie<br />

<strong>und</strong> Glaube 77 (1987), 129.<br />

38) Vgl. W. Wolbert: Ausnahmsloses Verbot der Folter? Eine moraltheologische Sicht,<br />

90.<br />

39) Ebd.<br />

40) E. Hilgendorf: Folter im Rechtsstaat?, 337.<br />

41) Vgl. dazu auch R. Spaemann: Gut <strong>und</strong> böse – relativ?, 1979, 12f.<br />

42) So zu Recht auch C. Roxin: Strafrecht. Allgemeiner Teil, Bd. 1, 1997 (3. Aufl.), 651.<br />

43) Vgl. dazu auch die Überlegungen von A. Gewirth zum ‚Prinzip der dazwischentretenden<br />

Handlung’in: ders.: Human Rights: Essays on Justification and Applications, 1982,<br />

229.<br />

44) Vgl. dazu E. Hilgendorf: Folter im Rechtsstaat?, 332.<br />

45) Vgl. dazu F. J. Lindner: Tragische Konflikte, in: FAZ vom 15.10.2004, 8.<br />

46) Einen naheliegenden Einwand gegen die unterschiedliche Bewertung von Folterandrohung<br />

<strong>und</strong> -vollzug formuliert J. P. Reemtsma: „Ganz unabhängig von der Frage, ob die<br />

Drohung nicht oft bereits Teil der Handlung sei: Mit Folter kann nur drohen, wem man<br />

auch abnimmt, daß er sie anwendet. Ein Gesetz, das Folterdrohung legalisierte, nicht aber<br />

die Folter selbst, wäre absurd. Es sei denn, man tolerierte eine öffentliche Unsicherheit,<br />

ob nicht, unter dem Deckmantel der Drohung, faktisch gefoltert würde. Das aber wäre<br />

dann die Lizenz zur Willkür <strong>und</strong> tatsächlich der beschworene Dammbruch.“ (Folter im<br />

Rechtsstaat, 121). Was Reemtsma <strong>hier</strong> kurzerhand für ‚absurd‘ erklärt, hat sich im Kontext<br />

der nuklearen Abschreckungspolitik immerhin jahrzehntelang <strong>als</strong> außerordentlich<br />

wirkungsvoll erwiesen. Nichts hindert anzunehmen, daß dieselbe Strategie auch auf dem<br />

Gebiet der Folterandrohung erfolgreich sein könnte. Dies gilt um so mehr, <strong>als</strong> die drohende<br />

Glaubwürdigkeitslücke infolge der <strong>hier</strong> angeregten Legalisierung bestimmter bislang<br />

tabuisierter Formen staatlicher Zwangsausübung gegenüber bestimmten Straftätern ohnehin<br />

viel geringer ist <strong>als</strong> auf dem Feld der nuklearen Abschreckung.<br />

Dr. Franz-Josef Bormann ist Privatdozent für Moraltheologie an der Theologischen<br />

Fakultät der Universität Freiburg.<br />

55


Bericht <strong>und</strong> Gespräch<br />

Heinrich Basilius Streithofen<br />

Streit um die Bibel<br />

Zum Rückzug der EKD aus der „Einheitsübersetzung“<br />

Der Rat der „Evangelischen Kirche in Deutschland“ (EKD) hat sich mit Brief an<br />

die katholische Bischofskonferenz aus dem nunmehr 35jährigen ökumenischen<br />

Projekt der „Einheitsübersetzung“ des Alten <strong>und</strong> Neuen Testaments zurückgezogen.<br />

Heike Schmoll nimmt das in der F.A.Z. zum Anlaß, um den Schwarzen<br />

Peter wieder einmal nach Rom zu schieben <strong>und</strong> gleich ihre Sicht der Ökumene<br />

hinterher: „Während die Zusammenarbeit über Jahre davon lebte, daß Protestanten<br />

Zugeständnisse machten, lassen sie sich nun nicht mehr das Gesetz des Handelns<br />

von Rom diktieren“ (vom 09.09.2005). Eine solche Bilanz stimmt traurig.<br />

Übersehen unsere protestantischen Fre<strong>und</strong>e, daß sie mit der Nichtanerkennung<br />

katholischer Ehen bei gemischtkonfessioneller Wiederheirat, der einseitigen<br />

Einführung von Schwulensegnung <strong>und</strong> Frauenordination nicht gerade ökumenische<br />

Leuchtraketen abschießen? Nun folgt noch der einseitige Rückzug aus der<br />

Einheitsübersetzung.<br />

Es war ein Rückzug auf Raten. Schon vor Jahren (2001) hatte die EKD – einsam<br />

– beschlossen, bei ökumenischen Anlässen nicht mehr die Einheitsübersetzung,<br />

sondern die Lutherbibel zu benutzen. Das war unhöflich, klang aber auch wuchtiger,<br />

<strong>als</strong> es war. Denn evangelische Pfarrer hatten schon vorher die Einheitsübersetzung<br />

nicht angefaßt. Ich persönlich habe noch nie eine katholische Trauung<br />

mit evangelischer Assistenz erlebt, bei der der evangelische Pfarrer die Einheitsübersetzung<br />

akzeptiert hätte. Selbst bei ökumenischen Bibelgesprächen<br />

verzichtete man in der Regel nicht auf den Luthertext. Nun kam der endgültige<br />

Schlußstrich: Nur noch Luther soll gelten. Katholiken können diesen Druck aufs<br />

Hühnerauge verschmerzen. Von einer „erheblichen Belastung der Ökumene“<br />

(Lehmann) kann nur reden, wer wenig Praxiserfahrung hat, denn, wie gesagt, der<br />

ökumenische Nutzen der Einheitsübersetzung war leider vor Ort gleich null.<br />

Die neue Rückzugsmentalität auf protestantischer Seite hängt sicher auch mit der<br />

richtigen Einsicht zusammen, daß die jahrzehntelang gepflegte „Ökumene des<br />

kleinsten gemeinsamen Nenners“ – euphemistisch <strong>als</strong> „Konsensökumene“ gepriesen<br />

– niemandem nützt. Untauglich ist auch eine rein äußerliche Anpassung.<br />

Evangelische Pfarrer, die die Osterkerze entdecken <strong>und</strong> sich eine Stola umlegen,<br />

meinen es gut, verschleiern aber ihren status confessionis. Plausibler ist da die<br />

56


neue Besinnung auf die Lutherbibel, zumal Luther nicht neutral übersetzt, sondern<br />

in den Bibeltext sein reformatorisches Bekenntnis hineingelegt hat. Das gibt<br />

umgekehrt der katholischen Seite die Möglichkeit, der eigenen Tradition wieder<br />

stärker Gehör zu verschaffen. Insofern ist die neu ausgerufene „Ökumene der<br />

Profile“ (Huber) für beide Seiten hilfreich. Um ein positives Beispiel zu geben:<br />

Der großartige Weltjugendtag in Köln, scheinbar ganz auf den Papst fokussiert,<br />

nutzt auch den evangelischen Gemeinden, weil Glaube <strong>und</strong> Kirche wieder Gesprächsthema<br />

sind.<br />

Zur neuen Ehrlichkeit gehört auch, darauf hinzuweisen, daß die „Einheitsübersetzung“<br />

des Alten <strong>und</strong> Neuen Testaments nicht deshalb „Einheitsübersetzung“<br />

hieß, weil sie ein evangelisch-katholisches Projekt gewesen wäre. Vielmehr<br />

handelte es sich um ein katholisches Unternehmen unter evangelischer Mitarbeit.<br />

Man wollte einen einheitlichen Bibeltext für Gottesdienst <strong>und</strong> Schule in allen<br />

deutschsprachigen Diözesen herstellen. Hinter der Beteiligung evangelischer<br />

Exegeten stand die Absicht seitens der katholischen Kirche, mit einem neuen<br />

Bibeltext nicht auf Jahrzehnte Fakten zu schaffen, ohne die evangelischen<br />

Fre<strong>und</strong>e aktiv daran beteiligt zu haben. Natürlich war damit die Hoffnung verb<strong>und</strong>en,<br />

daß diese Übersetzung nun auch vor Ort ökumenische Früchte trüge.<br />

Die Einheitsübersetzung wurde 1978 von den katholischen Bischöfen Deutschlands,<br />

Österreichs <strong>und</strong> der Schweiz approbiert, dann auch von der EKD gutgeheißen.<br />

Allerdings war die Einheitsübersetzung ein bloß empfohlener, keineswegs<br />

ein offizieller Bibeltext der EKD.<br />

Zur neuen Ehrlichkeit gehört auch die Einsicht, daß sich die Einheitsübersetzung<br />

aufs Ganze gesehen <strong>als</strong> ungenügend erwiesen hat. Sie enthält zu viele Fehler.<br />

Wollte man sie alle auflisten, würde das für unsere deutsche Exegetenzunft zie m-<br />

lich peinlich. Also sind seit geraumer Zeit wieder katholische <strong>und</strong> evangelische<br />

Exegeten mit einer Revision beschäftigt. Auch jetzt geht es um keine akademische<br />

Übung, um auf dem großen Bibelmarkt etwas Neues präsentieren zu können,<br />

sondern es geht um eine offizielle Übersetzung der katholischen Kirche für<br />

ihren Gottesdienst <strong>und</strong> Schulunterricht, die <strong>als</strong>o kirchlich approbiert werden<br />

muß. Nach den bisherigen Erfahrungen war klar, daß auch die revidierte Einheitsübersetzung<br />

keinen Eingang in den evangelischen oder ökumenischen Go t-<br />

tesdienst finden würde. Intendiert war <strong>als</strong>o wiederum nur die Beteiligung evangelischer<br />

Gelehrter <strong>als</strong> Ausdruck ökumenischer Fre<strong>und</strong>schaft.<br />

Zum Anlaß für den jüngsten evangelischen Rückzieher wurde die bereits seit<br />

vier Jahren bekannte römische Instruktion „Liturgiam authenticam“ (2001). Sie<br />

befaßt sich ausdrücklich mit Bibelübersetzungen für den katholischen Gottesdienst<br />

(Nr. 34-45). Das betraf unmittelbar auch die Einheitsübersetzung. Frau<br />

Schmoll meint aus den Bestimmungen der Instruktion folgern zu müssen: „die<br />

kirchliche Tradition <strong>und</strong> Deutung wird dem eigentlichen hebräischen <strong>und</strong> griechischen<br />

Urtext übergeordnet“. Vermutlich hat Frau Schmoll die Instruktion<br />

nicht gelesen. Dort steht nämlich gleich in Nr. 34 ausdrücklich, daß jede Übersetzung<br />

der Heiligen Schrift die Prinzipien einer „ges<strong>und</strong>en Exegese“ zugr<strong>und</strong>e<br />

legen muß (servatis principiis sanae exegesis atque exquisitae rationis litteratorum).<br />

Wie schon für die alte Einheitsübersetzung gilt selbstverständlich auch für<br />

57


die Revision der biblische Urtext <strong>als</strong> Gr<strong>und</strong>lage, was denn sonst (Vaticanum II,<br />

„Dei Verbum“ 22)!<br />

Es gibt aber keine reine Exegese, sondern jede Übersetzung steht in einem Kontext,<br />

wird für einen bestimmten Zweck <strong>und</strong> ein bestimmtes Publikum angefertigt.<br />

Darauf gilt es Rücksicht zu nehmen. Denn die Bibel ist für die Menschen da <strong>und</strong><br />

nicht für die Exegeten. In „Liturgiam authenticam“ heißt es deshalb: „Unter<br />

Wahrung der Erfordernisse einer ges<strong>und</strong>en Exegese soll alle Sorgfalt darauf<br />

verwendet werden, den Wortlaut von Bibelstellen beizubehalten, die man allgemein<br />

in der Katechese <strong>und</strong> in Gebeten, in denen die Volksfrömmigkeit zum<br />

Ausdruck kommt, gebraucht“ (Nr. 40). Erstens wird <strong>hier</strong> klar der Primat des<br />

Urtextes ausgesprochen. Zweitens ist das Anliegen völlig berechtigt, daß etwa<br />

das „Vaterunser“ nicht in ständig neuen Formulierungen kursieren, sondern<br />

möglichst in der eingebürgerten Form erhalten bleiben soll. Auch bei den Psalmen<br />

ist eine Rücksicht auf den Gebetsgebrauch des Volkes höchst sinnvoll.<br />

Ein legitimes pastorales Anliegen ist es ferner, daß eine Bibelübersetzung nicht<br />

ohne Not einen Text oder Stil übernimmt, die <strong>als</strong> unkatholisch empf<strong>und</strong>en werden<br />

(Nr. 40). Hier geht es zum Beispiel darum, exegetisch korrekte Übersetzungen<br />

nicht aus ökumenischer Rücksicht preiszugeben. Zum Beispiel heißt der<br />

Urtext von Mt 16,18: „Du bist Petrus <strong>und</strong> auf diesen Felsen will ich meine Kirche<br />

bauen“, während Luther aus durchsichtigen Gründen das griechische Wort<br />

„Kirche“ (ekklesia) durch „Gemeinde“ ersetzt. Aber ist etwa die (Pfarr-) Gemeinde<br />

auf den Felsen Petri gebaut? Gibt es denn auf der Welt nur eine (Pfarr-)<br />

Gemeinde? Oder ist es nicht doch die eine, universale Kirche Jesu Christi, die<br />

auf den Felsen des Petrus gegründet ist? Also hat Christus eben doch die sichtbare<br />

Kirche gegründet.<br />

Ferner geht es der Instruktion um christologisch bedeutsame Stellen des Alten<br />

Testaments, die entsprechend der kirchlichen Auslegungstradition übersetzt<br />

werden sollen – natürlich unter Anwendung einer sachgerechten Exegese (Nr.<br />

41). Das ist ökumenisch wenig problematisch. Denn natürlich steht auch die<br />

protestantische Theologie in der liturgischen <strong>und</strong> patristischen Auslegungstradition<br />

der katholischen Kirche vor Luther. Daher findet auch die evangelische<br />

Theologie im Alten Testament Christusprophetien. Um ein Beispiel zu geben:<br />

Jes 7,14 wird in der Lutherbibel <strong>und</strong> in der Einheitsübersetzung zurecht übertragen:<br />

„Siehe, eine Jungfrau ist schwanger <strong>und</strong> wird einen Sohn gebären, den wird<br />

sie nennen Immanuel“. Es wäre textlich unnötig <strong>und</strong> kirchlich absurd, statt von<br />

„Jungfrau“ von der „jungen Frau“ zu reden. Ein anderes Beispiel: Phil 2,6 wird<br />

sowohl von der Einheitsübersetzung wie von Luther f<strong>als</strong>ch übersetzt, denn Christus<br />

„war“ nicht in göttlicher Gestalt, um sich dann seiner Gottheit zu entäußern,<br />

sondern „in Gottesgestalt seiend (<strong>und</strong> bleibend!) entäußerte er sich“. Hier entspricht<br />

gerade der griechische Text der kirchlichen Lehrtradition, während die<br />

genannten Übersetzungen geradezu häretisch sind.<br />

Man könnte noch mehr in die Details gehen. Aufs Ganze gesehen wage ich zu<br />

behaupten, daß die römische Instruktion hilft, die Bibel textgerechter zu übersetzen.<br />

Sie legt jedenfalls der Einheitsübersetzung keine unüberwindlichen ökumenischen<br />

Stolpersteine in den Weg. Im Konfliktsfall ließen sich Lösungen finden.<br />

58


Auch daß die Instruktion mehrfach auf die Vulgata <strong>als</strong> Bezugspunkt neuer Bibelübersetzungen<br />

hinweist, bedeutet keine Zurückstellung des Urtextes. Die<br />

Vulgata ist die lateinische Bibelübersetzung des Hieronymus, die sich im Laufe<br />

des Mittelalters durchgesetzt <strong>und</strong> in der katholischen Liturgie <strong>und</strong> Theologie<br />

größte Bedeutung erlangt hat. Aber die Ausgangslage auf katholischer wie evangelischer<br />

Seite ist gar nicht so unterschiedlich, wie Frau Schmoll suggeriert. Die<br />

Vulgata steht genauso wenig über dem biblischen Urtext wie die Lutherbibel.<br />

Grob gesagt, benutzt die katholische Kirche seit 500 Jahren (vom Konzil von<br />

Trient bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil) die Vulgata <strong>als</strong> allein verbindliche<br />

Bibelübersetzung, die Evangelischen den Luthertext. Weder war die Vulgata<br />

die erste lateinische Übersetzung der Heiligen Schrift noch die Lutherbibel die<br />

erste deutsche. Die Lutherbibel ist nur eine Übersetzung unter vielen <strong>und</strong> <strong>als</strong><br />

solche nicht gr<strong>und</strong>sätzlich besser oder schlechter <strong>als</strong> die Vulgata. Sprachlich sind<br />

sie beide überholt. In den Ohren eines heutigen Jugendlichen klingt der Luthertext<br />

genauso schrill wie Schillers „Räuber“ oder Goethes „Faust“. Luther hätte<br />

sicher auch nicht gewollt, daß seine Bibel nun für alle Ewigkeit der Standardtext<br />

bleiben sollte. Würde man dies mehr beherzigen, könnte man viel f<strong>als</strong>ches Pathos<br />

aus der gegenwärtigen Diskussion herausnehmen.<br />

Es ist doch völlig klar, daß jede Neuübersetzung der Heiligen Schrift die früheren<br />

Übersetzungen berücksichtigen muß, ferner die Kirchentradition. Die nachbiblische<br />

Tradition ist kein Ballast, den man abwerfen müßte, sondern eine ungeheure<br />

Bereicherung, denn sie ist ja Wirkungsgeschichte der Bibel! Die Tradition<br />

ist unschätzbares Geisteskapital, das unsere Wahrnehmung erweitert <strong>und</strong> der<br />

Wahrheit des Evangeliums näher bringt. So wie die Lutherbibel in Bach’sche<br />

Oratorien eingegangen ist <strong>und</strong> diese nun nicht mehr aus der Bibelinterpretation<br />

wegzudenken sind, so hat die katholische Tradition aus der Vulgata Bilder <strong>und</strong><br />

Vorstellungen geschöpft, die so prägend wurden, daß sie für eine Neuübersetzung<br />

zu berücksichtigen sind. Selbstverständlich verlangt <strong>als</strong>o die römische<br />

Instruktion, daß eine Revision der Einheitsübersetzung dieses reiche Erbe berücksichtigt,<br />

wo irgend der Urtext es zuläßt (Nr. 41).<br />

Aber gehen wir der Sache auf den Gr<strong>und</strong>. Hinter dem ökumenischen Anspruch<br />

einer Einheitsübersetzung stand <strong>und</strong> steht wohl bei manchen das Mißverständnis,<br />

es könne so etwas wie eine objektive, richtige Bibelübersetzung geben. Wenn<br />

man nur, ohne rechts <strong>und</strong> links zu schauen, allein von philologischer Warte aus,<br />

an den Urtext heranginge, müßte eine Übersetzung herauskommen, die ganz von<br />

selbst sowohl Katholiken wie Evangelische befriedigen müßte. Die kirchliche<br />

Approbation sei dann reine Formsache. Eine solche Meinung verdankt sich letztlich<br />

dem protestantischen Prinzip des „Sola Scriptura“ (allein die Schrift). De m-<br />

nach ist die Schrift die alleinige Richtschnur für den Christen. In anderen Worten:<br />

Die Bibel erklärt sich selbst. So gesehen kann die Auslegungstradition der<br />

Kirche nur <strong>als</strong> nachgeordnet angesehen werden, ohne Nutzen für eine Erklärung<br />

oder Übersetzung der Bibel. Schlimmer noch: die Geschichte der Kirche stellt<br />

sich störend zwischen Bibel <strong>und</strong> Leser.<br />

In der kirchenkritischen Zeit der 68er Jahre war eine solche Position populär. Es<br />

war die Zeit, <strong>als</strong> die historisch-kritische Exegese große Anerkennung fand. Im<br />

59


Trend der Zeit verhieß sie eine wissenschaftlich objektive, von jeder äußeren<br />

Autorität freie Bibelinterpretation. So wurde die historisch-kritische Exegese auf<br />

evangelischer wie katholischer Seite zum Steigbügelhalter einer antikirchlichen<br />

Theologie, weil sie 2000 Jahre Kirchengeschichte überspringen konnte, um nur<br />

den reinen Schrifttext gelten zu lassen <strong>und</strong> zur Norm zu erheben. Man brauchte<br />

nun nicht mehr die Kirche, um Christ zu sein, denn die Bibel genügte, gleich ob<br />

im Urtext oder in der Übersetzung. Man mußte nur den Bibeltext historischkritisch<br />

untersuchen, <strong>und</strong> schon kam man ganz von selbst zur allein sinnvollen<br />

Übersetzung.<br />

Heute wissen wir, daß dies eine Illusion war. Denn es gibt keine objektive, endgültige<br />

Übersetzung (vgl. J. Ratzinger, Schriftauslegung im Widerstreit, Freiburg<br />

1989, 15-44). Wer strenggenommen nur den biblischen Urtext zum Maß seines<br />

Handelns machen will, muß die islamische Lösung wählen, nämlich nur noch<br />

den Urtext lesen <strong>und</strong> auf jede Übersetzung verzichten, so wie für Moslems nur<br />

der arabische Koran geradezu <strong>als</strong> inkarniertes Gotteswort Gültigkeit hat. Damit<br />

wäre allerdings das Gotteswort im Urtext erstarrt, zwischen zwei Buchdeckeln<br />

weggeschlossen <strong>und</strong> für immer unerreichbar. Wenn man dies jedoch nicht will,<br />

muß man sich zur Erkenntnis durchringen, daß die Bibel immer wieder übersetzt<br />

werden muß <strong>und</strong> überhaupt nur in dieser fortlaufenden, prinzipiell nie zu Ende<br />

kommenden Auslegungs- <strong>und</strong> Übersetzungstradition existiert. In diese Auslegungstradition<br />

gehört die Vulgata genauso wie die Lutherübersetzung hinein.<br />

Daneben gibt es noch tausend andere Übersetzungen.<br />

Aber welche Übersetzung ist richtig? Die Katholiken halten die Vulgata, die<br />

Lutheraner ihren Luthertext für richtiger. Also kommt die Kirche <strong>als</strong> Entscheidungsinstanz<br />

ins Spiel, <strong>und</strong> zwar ausdrücklich auch bei Protestanten. Die protestantische<br />

Maxime „Sola Scriptura“ ist recht besehen ein hohler Anspruch, weil<br />

es die Schrift im Glashaus gar nicht gibt, sondern immer nur in der Hand der<br />

Katholiken, der Lutheraner, der Zwinglianer u.s.w. Bibel ist <strong>als</strong>o nicht Bibel. Die<br />

Schrift erklärt sich gerade nicht selbst. Sie ist sogar völlig hilflos den Interpreten<br />

ausgeliefert. Frau Schmoll sagt es selbst: „Sprachunterschiede führen zu erheblichen<br />

Sinndifferenzen“. Die Zersplitterung der Evangelischen in alle möglichen<br />

Gruppierungen <strong>und</strong> Gemeinschaften geht ja gerade auf ihre unterschiedlichen<br />

Auslegungen der Schrift zurück. Es ist <strong>als</strong>o jede einzelne kirchliche Gemeinschaft,<br />

die mit mehr oder weniger Verbindlichkeit ihren Schrifttext festlegt.<br />

Das „Sola-Scriptura“ ist mithin eine Chimäre, ein theologischer Zaubertrick, mit<br />

der sich die EKD einredet, sie würde sich aus der Schriftinterpretation heraushalten.<br />

Das tut sie gerade nicht, wie man bei ihrer Verordnung der Lutherbibel <strong>und</strong><br />

ihrer Ablehnung der Einheitsübersetzung sieht, die sie autoritativ <strong>als</strong> „Kirche“<br />

vorgenommen hat. Evangelische Exegeten, die an der Revision mitarbeiten wollten,<br />

dürfen dies nun nicht mehr tun. Die „Kirche“ steht <strong>als</strong>o auch auf evangelischer<br />

Seite über der Schrift. Frau Schmoll drückt es so aus: „Die Bibel bleibt die<br />

Gr<strong>und</strong>lage beider Kirchen, ihre Auslegung <strong>und</strong> ihre Bedeutung für Lehre <strong>und</strong><br />

Amts- <strong>und</strong> Kirchenverständnis entzweien sie.“ Noch ehrlicher wäre es, wenn sie<br />

ihre wirkliche Alternative formulieren würde: daß sie nämlich nicht die Lehrau-<br />

60


torität der katholischen Kirche über den Bibeltext anerkennen will, sondern nur<br />

die Lehrautorität der „Evangelischen Kirche in Deutschland“.<br />

Es gibt keine lupenreine, sozusagen objektive Übersetzung der Bibel in direktem<br />

Zugriff auf den Urtext. Man kann nicht die Bibel so übersetzen, <strong>als</strong> hätte es die<br />

Vulgata <strong>und</strong> den Luthertext nie gegeben oder <strong>als</strong> würde es die Kirche nicht geben.<br />

Im Kern geht es doch darum, daß eine neue deutsche Übersetzung nach<br />

heutigem Wissenschaftsniveau den Urtext zur Gr<strong>und</strong>lage macht, aber selbstverständlich<br />

bereits vorliegende Übersetzungen zu Hilfe nimmt. Wieso soll <strong>als</strong>o die<br />

katholische Kirche nicht die Vulgata <strong>als</strong> Referenzpunkt ihrer theologischen <strong>und</strong><br />

spirituellen Tradition zu Rate ziehen? Hieronymus hat immerhin anhand des<br />

hebräischen <strong>und</strong> griechischen Urtextes des Alten <strong>und</strong> Neuen Testaments seine<br />

Übersetzung angefertigt. Dabei hat er für das Alte Testament auch alle verfügbaren<br />

griechischen Übersetzungen berücksichtigt (Hexapla). Er beherrschte Hebräisch<br />

<strong>und</strong> Griechisch. Die Vulgata steht <strong>als</strong>o auf festem wissenschaftlichem Boden.<br />

Nun haben unsere evangelischen Fre<strong>und</strong>e kalte Füße bekommen. Dramatisch ist<br />

ihr Rückzug nicht, enttäuschend ist er schon. Hätte man einfach gesagt, die Einheitsübersetzung<br />

sei zu schlecht, um sie benutzen zu können, hätte das jeder<br />

akzeptiert. Es wäre aber auch ein Gr<strong>und</strong> mehr gewesen, bei der geplanten Revision<br />

mitzumachen. So sieht die Absage nach Kneifen aus. Es ist in der Geschichte<br />

ökumenischer Zusammenarbeit m. W. das erste Mal, daß eine Kommission<br />

von einer der beiden Seiten aufgekündigt wurde.<br />

Man versteht nicht warum. 1978 war es der EKD guten Gewissens möglich, an<br />

der Einheitsübersetzung mitzuarbeiten <strong>und</strong> sie gutzuheißen, ohne sie zu ihrem<br />

offiziellen Bibeltext zu machen, was auch niemand verlangt hatte. Was hat sich<br />

denn geändert, daß dies nun nicht mehr möglich sein sollte? Dam<strong>als</strong> hat die<br />

deutsche, schweizerische <strong>und</strong> österreichische Bischofskonferenz den Text approbiert.<br />

Reagiert die EKD jetzt so allergisch, weil für die revidierte Fassung der<br />

Papst die approbierende Instanz sein wird (Nr. 80)? Überrascht es unsere evangelischen<br />

Fre<strong>und</strong>e, daß wir einen Papst <strong>als</strong> oberstes Lehramt haben? Könnte das<br />

nicht auch Vorteile haben? War es nicht gerade der Papst, der sich seinerzeit für<br />

die Rechtfertigungserklärung eingesetzt hat, <strong>als</strong> die Positionen festgefahren waren?<br />

Traut man ihm nach der Begegnung in Köln keinen ökumenischen Willen<br />

zu? Wenn aber in Zukunft der Papst substantielle Änderungen am Text verlangen<br />

sollte, dann sicher nur in Einzelfällen. Schon in der vorliegenden Einheitsübersetzung<br />

wurden Problemfälle in den Fußnoten angezeigt.<br />

Enttäuschend ist die jetzt eingetretene Situation auch deshalb, weil es gerade die<br />

Leistung einer Revision der Einheitsübersetzung hätte sein können, Sprachformen<br />

zu finden, die sowohl dem katholischen wie dem evangelischen Anliegen<br />

gerecht würden. Die Einheitsübersetzung selbst war bereits ein Schritt auf diesem<br />

Weg. Es hat in letzter Zeit eine Reihe neuer Konsenserklärungen zwischen<br />

der katholischen Kirche <strong>und</strong> der EKD <strong>und</strong> dem VELKD gegeben. Was hätte<br />

näher gelegen, auf dem Hintergr<strong>und</strong> solcher Annäherungsbewegungen, die ja<br />

immer auch auf der Relecture der Heiligen Schrift beruht haben, nun eine theologisch<br />

<strong>und</strong> sachlich gereifte Fassung der Einheitsübersetzung vorzulegen?<br />

61


Geradezu grotesk mutet es an, wenn Frau Schmoll meint: „Bei einer Revision der<br />

Einheitsübersetzung mitzuarbeiten wäre für die evangelische Seite einer Selbstaufgabe<br />

gleichgekommen.“ Die Maßlosigkeit einer solchen Formulierung wird<br />

deutlich, wenn man einen weiteren Satz aus derselben Feder daneben stellt, wonach<br />

der Urtext selbst Richtschnur für das evangelische Bibelverständnis sei.<br />

Wenn das ernstgemeint ist, dann kann es im Letzten doch nicht so dramatisch<br />

sein, welche Übersetzung man benutzt, wenn sie nur zuverlässig ist. Im Zweifelsfall<br />

gilt eben nicht die Übersetzung, <strong>und</strong> sei sie auch von Rom approbiert,<br />

sondern der Urtext. Jeder gute Prediger bereitet sich sowieso mit dem Urtext auf<br />

seine Predigt vor.<br />

Evangelische Christen <strong>und</strong> vor allem Lutheraner akzeptieren praktisch nur den<br />

Luthertext, der zu einer Art heiligem Text wird. Eine solche Überhöhung einer<br />

bloßen Übersetzung gibt es in der katholischen Kirche nicht. Praktisch jede Generation<br />

wächst mit einem anderen Schrifttext auf. Das vermittelt Gelassenheit.<br />

Man weiß schließlich, daß auch die revidierte Einheitsübersetzung nicht die<br />

letzte Bibelübersetzung sein wird. Hingegen fixieren sich die Protestanten seit<br />

Jahrh<strong>und</strong>erten auf den Luthertext. Sicher, er ist großartig <strong>und</strong> stilbildend. Aber es<br />

besteht die Gefahr, die Lutherbibel <strong>als</strong> quasi heiligen Text in alle Ewigkeit festzuschreiben.<br />

Dann kommt man wie Frau Schmoll gar dahin, die Reformation<br />

durch die Einheitsübersetzung gefährdet zu sehen. Wir raten Mäßigung, <strong>und</strong> vor<br />

allem: mehr ökumenischen Geist. Oder übersetzt man d ie „Ökumene der Profile“<br />

(Huber) mit „Profilierung um jeden Preis“?<br />

Dr. Heinrich Basilius Streithofen OP ist Vorsitzender des „Instituts für Gesellschaftswissenschaften<br />

Walberberg“ in Bonn.<br />

62


Harald Bergsdorf<br />

(Selbst-)Entmachtung der Wähler<br />

Zum Abstieg der Groß- <strong>und</strong> Aufstieg der Kleinparteien<br />

Ambivalenz kennzeichnet zum Jahreswechsel die politische Stimmung in<br />

Deutschland. Einerseits erwärmt sich eine Mehrheit der Deutschen an der politischen<br />

Harmonie, die momentan in Deutschland offenbar weithin herrscht – politische<br />

Auseinandersetzungen erfreuen sich ja <strong>hier</strong>zulande traditionell keiner<br />

besonderen Beliebtheit. Andererseits erwartet die Mehrheit keine durchgreifende<br />

Besserung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland <strong>und</strong> damit auch der Situation<br />

auf dem Arbeitsmarkt. Um so mehr dürften CDU/CSU <strong>und</strong> SPD nach ihren<br />

desaströsen Wahlergebnissen bei der B<strong>und</strong>estagswahl vorerst heilfroh bleiben,<br />

überhaupt wieder den Regierungschef zu stellen bzw. wider Erwarten in der<br />

Regierung zu bleiben. Das ist der Kitt der Koalition – wenigstens vorläufig.<br />

CDU/CSU <strong>und</strong> SPD schrumpften bei der B<strong>und</strong>estagswahl 2005 auf einen gemeinsamen<br />

Zweitstimmenanteil von r<strong>und</strong> 70% (1972: 90%). Seit 1953 erreichten<br />

beide Volksparteien – zusammengerechnet – kein schlechteres Resultat (1949:<br />

60,2%). Heute präsentieren sich Union <strong>und</strong> SPD jeweils beinahe <strong>als</strong> Drittelparteien.<br />

Sie bilden nun eine Allianz der Absteiger. Beide agieren jetzt <strong>als</strong> geschwächte<br />

Giganten. Damit erodiert die Fähigkeit beider Formationen, wie üblich<br />

mit einem kle inen Partner eine kleine, kompakte Koalition zu bilden. Zweierbündnisse<br />

alten Typs werden unwahrscheinlicher – schon 1994 <strong>und</strong> 1998 halfen<br />

Überhangmandate, knapp eine kleine Koalition zu konstruieren.<br />

Die SPD errang mit 34,3 Zweitstimmen ihr zweitschlechtestes Ergebnis seit<br />

1961 – noch schlechter lediglich: Lafontaines Wahlergebnis <strong>als</strong> Kanzlerkandidat<br />

1990. Mit den herben Stimmenverlusten bei den jüngsten Landtagswahlen summiert<br />

sich das SPD-Ergebnis der B<strong>und</strong>estagswahl 2005 zu einer desaströsen<br />

Bilanz von Gerhard Schröder <strong>und</strong> Franz Müntefering. Nie bekam ein (amtierender)<br />

Kanzler ein schlechteres Wahlergebnis. Nur ein zentrales Problem für die<br />

SPD: Grün-rote „Erfolge“ stoßen eher bei gut bzw. besser verdienenden Wählern<br />

der GRÜNEN auf positive Resonanz, weniger bei „kleinen Leuten“, schon gar<br />

nicht bei „Prolet-Ariern“, die mitunter stark auch zur NPD <strong>und</strong> DVU neigen;<br />

grün-rote „Erfolge“ wie der Doppelpaß, das Zuwanderungsgesetz, die „Homo -<br />

ehe“, der Atomausstieg, das Dosenpfand, die sogenannte Ökosteuer <strong>und</strong> der<br />

anvisierte EU-Beitritt der Türkei.<br />

Die Unionsparteien verloren ebenfalls erheblich. Sie bekamen unter besseren<br />

Bedingungen <strong>als</strong> 2002 ein schlechteres Wahlergebnis. CDU/CSU liegen jetzt bei<br />

schwachen 35,2% der Zweitstimmen, auch wenn sie nun, anders <strong>als</strong> 2002, die<br />

stärkste Fraktion bilden <strong>und</strong> die Kanzlerin stellen. Das Wahlergebnis der Union<br />

hat viele Ursachen – unter anderem mißlang es bekanntlich, vor der Wahl eloquente,<br />

charismatische Schwergewichte wie Horst Seehofer <strong>und</strong> Friedrich Merz<br />

63


in Merkels Mannschaft einzubinden; damit verengte die Union ihre Programmatik;<br />

damit fehlten im Wahlkampf in der ersten Reihe zwei Sympathieträger, die<br />

es verstehen, im Medienzeitalter programmatische Prioritäten zu personalisieren.<br />

Gerade auch die Mehrwertsteuerpläne der Union ließen sowohl soziale <strong>als</strong> auch<br />

wirtschaftliche Sensibilität vermissen.<br />

Überdurchschnittlich verlor die Union sowohl bei Mittelständlern <strong>als</strong> auch bei<br />

„kleinen Leuten“ – es bleibt eine Binsenweisheit: Ohne starke Unterstützung<br />

„kleiner Leute“ kann keine Volkspartei wirklich erfolgreich sein. Allerdings<br />

„schockierte“ das Wahlergebnis die Union stärker <strong>als</strong> die SPD. Denn die Sozialdemokraten<br />

mußten zuletzt bereits auf Landesebene serienmäßige Niederlagen<br />

hinnehmen. Gerhard Schröder gerierte sich am Wahlabend gar <strong>als</strong> Wahlsieger<br />

unter dem Motto „Es hätte schlimmer kommen können“: Professionelle Beobachter<br />

diagnostizierten deshalb lustvolle Realitätsferne bei Schröder.<br />

Im Unterschied zu CDU/CSU <strong>und</strong> SPD gehört die Linkspartei/PDS, wie sie<br />

heute heißt, mit der FDP zwar nicht zu den Siegern, aber den Gewinnern: Die<br />

Wahl zum Deutschen B<strong>und</strong>estag 2005 bedeutete einen großen Triumph für die<br />

Partei. Nie war sie im b<strong>und</strong>esdeutschen Parlament stärker vertreten <strong>als</strong> jetzt.<br />

Keine andere relevante Partei erzielte am 18. September 2005 einen ähnlichen<br />

Erfolg. Erstm<strong>als</strong> mit je einem west- <strong>und</strong> ostdeutschen Spitzenkandidaten (dem<br />

rotbraunen Oskar Lafontaine <strong>und</strong> Gregor Gysi) angetreten, meisterte die PDS<br />

nun b<strong>und</strong>esweit die 5%-Hürde – anders <strong>als</strong> bei der B<strong>und</strong>estagswahl 2002. Sie<br />

gewann im Vergleich zu 2002 über 2,2 Millionen Stimmen, fast 1,5 Millionen<br />

davon im Westen; gesamtdeutsch errang sie summa summarum gut 4 Millionen<br />

Zweitstimmen.<br />

Gegenüber der letzten B<strong>und</strong>estagswahl 2002 konnte die PDS ihren Zweitstimmenanteil<br />

mehr <strong>als</strong> verdoppeln (8,7 % statt 4,0 %). Wie keine andere Partei erhöhte<br />

sie ihren Mandatsanteil – nun insgesamt 54 Mandatsträger, darunter drei<br />

direkt gewählte Abgeordnete. Mit ihrem Zweitstimmenresultat übertraf die PDS<br />

im Ranking der Parteien auf B<strong>und</strong>esebene sowohl die CSU (2002: Platz 3 unter<br />

allen Parteien; heute Platz sechs) <strong>als</strong> auch die Grünen (2002: Platz 4, heute Platz<br />

5). Die PDS operiert nun gesamtdeutsch – hinter SPD, CDU <strong>und</strong> FDP – <strong>als</strong> viertstärkste<br />

Partei. Allerdings verfehlte sie damit ihr Wahlziel, zur dritten Kraft<br />

aufzusteigen <strong>und</strong> die FDP zu übertreffen.<br />

Immerhin ein Viertel der Ostdeutschen stimmte für die Linkspartei/PDS mit<br />

ihren medienwirksamen Spitzenkandidaten – Gysi ist allein bei „Christiansen“<br />

bislang 19 Mal aufgetreten; eine Medienkarriere zum Nutzen wahrscheinlich<br />

sowohl der PDS <strong>als</strong> auch des Fernsehens. Im Osten Deutschlands liegt die PDS<br />

fast gleichauf mit der CDU <strong>und</strong> nur knapp hinter der SPD. Viele ehemalige<br />

Wähler von SPD <strong>und</strong> Grünen haben mit ihren Stimmen für die PDS, Gysi <strong>und</strong><br />

Lafontaine geholfen, eine linke Regierung zu verhindern. Weil die PDS locker<br />

über 5% kam, erhöhte sich aber auch die Latte für die absolute Mehrheit, an der<br />

CDU/CSU <strong>und</strong> FDP scheiterten.<br />

Auf B<strong>und</strong>esebene gibt es in Deutschland nun eine linke, inhaltlich mehr oder<br />

minder kohärente Mehrheit, bislang allerdings nur rechnerisch. Denn bis dato<br />

64


äußert die PDS, auf B<strong>und</strong>esebene keine Koalition mit wem auch immer eingehen<br />

zu wollen. Umgekehrt erklären die anderen Fraktionen bzw. Parteien im B<strong>und</strong>estag<br />

zumindest bislang, unter keinen Umständen mit der PDS zu koalieren oder<br />

sich von ihr „dulden“ zu lassen. So erschwert die starke Präsenz der PDS im<br />

B<strong>und</strong>estag die Mehrheitsbildung nach altem Muster. Die PDS agiert insofern –<br />

zumindest indirekt – in einer Schlüsselposition, <strong>als</strong> Zünglein an der Waage.<br />

Umgekehrt könnte die SPD (erneut) eine Koalition mit der PDS <strong>als</strong> Vollendung<br />

der inneren Einheit <strong>und</strong>/oder europäische Normalisierung präsentieren. Im Unterschied<br />

zur Union rangiert die SPD im Zentrum der Parteienlandschaft: Die<br />

Sozialdemokraten verfügen durch ihre politische Flexibilität (wenigstens auf<br />

Länderebene) über mehr Koalitionsoptionen <strong>als</strong> jede andere Partei <strong>und</strong> insofern<br />

in der Großen Koalition auch über mehr Druckmittel. Die SPD ist in der Fünf-<br />

Parteien-Landschaft mit (allen) vier Parteien koalitionsfähig (CDU/CSU, FDP,<br />

GRÜNE <strong>und</strong> PDS), die Union nur mit zwei (SPD <strong>und</strong> FDP). Ein enormer Vorteil<br />

der SPD gegenüber der Union in Zeiten schrumpfender Volksparteien – auch<br />

wenn die SPD derzeit stärker schrumpft <strong>als</strong> CDU/CSU.<br />

Die Schwächung der Großparteien <strong>und</strong> Stärkung der kleinen Formationen diversifizieren<br />

die Parteienlandschaft; die parteipolitischen Kräfteverhältnisse werden<br />

unübersichtlicher <strong>und</strong> unberechenbarer. Damit wächst der postelektorale Einfluß<br />

jener Parteien, die nach der Wahl an der Regierungsbildung mitwirken – <strong>und</strong><br />

schrumpft der Einfluß der Wähler bei der Wahl. Die Wähler können weniger <strong>als</strong><br />

früher an der Wahlurne einer bestimmten Konstellation den Weg ebnen; sie<br />

können nun vor Wahlen schlechter abschätzen, was die Gewählten mit ihren<br />

Stimmen nach der Wahl wohl anstellen werden.<br />

Abgesehen vom Sonderfall „Große Koalition“, praktizierten die Parteien in der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik ja jahrzehntelang im Wechsel zwei stabile Koalitionsmodelle,<br />

die schwarz-gelbe oder sozial-liberale Konstellation. Hinzugekommen sind inzwischen<br />

weitere Koalitionspraktiken, etwa die „Ampel“ oder Verbindungen von<br />

SPD, PDS (<strong>und</strong> GRÜNEN). Mehr noch: Da einzelne Parteien die Distanz zueinander<br />

verringern (wollen), könnte die Unübersichtlichkeit <strong>und</strong> Komplexität der<br />

Parteienlandschaft dann weiter wachsen, wenn es etwa zu Schwarz-Grün oder<br />

gar einer „Jamaika-Koalition“ käme. Weil aber heterogene Dreierbündnisse wie<br />

die „Ampel“ bereits auf Landesebene notorisch geringe Effizienz <strong>und</strong> Stabilität<br />

bewiesen, steigt die Wahrscheinlichkeit Großer Koalitionen. Sie könnten damit<br />

von Sonder- zu Regelfällen mutieren, was kleine Parteien zusätzlich stärken<br />

könnte – ein Teufelskreis.<br />

Von der aktuellen Großkoalition unter Kanzlerin Merkel könnte die FDP besonders<br />

profitieren. Jahrzehnte agierte die liberale (Dauerregierungs-)Partei faktisch<br />

<strong>als</strong> die Kanzler-Macherin in der B<strong>und</strong>esrepublik, die rechnerisch (<strong>und</strong> programmatisch)<br />

mit beiden Volksparteien koalieren konnte <strong>und</strong> damit realiter bestimmte,<br />

wer ins Kanzleramt einzog. Nach der jüngsten B<strong>und</strong>estagswahl widerstand<br />

die FDP rotgrünen Annäherungsversuchen (Westerwelle monierte gar politisches<br />

Stalking). Jetzt nutzt die FDP offenbar die Chance, in der Opposition ihr Umfaller-Image<br />

abzulegen, das sie vor allem bei eher unpolitischen Bürgern „genießt“.<br />

Sie könnte nun, inzwischen sogar drei Mal hinter einander in der Opposition<br />

65


gelandet, <strong>als</strong> „Hüterin der reinen Lehre“ jene verstärkt gewinnen, die Reformen<br />

vermissen bzw. denen die Reformen der Großen Koalition, der „Sozialdemokraten<br />

aller Parteien“, zu langsam gehen. Möglicherweise verwirklicht die FDP<br />

dann doch noch – unter veränderten Bedingungen – ihr Projekt 18, das Westerwelle<br />

<strong>und</strong> Jürgen Möllemann 2002 mit ihrer antiisraelischen, proarabischen<br />

Kampagne verwirklichen wollten; eine hinterlistige Kampagne, die zeigte, was<br />

der liberalen FDP fehlt: Ein klarer Kompaß.<br />

Zwar muß die FDP nun, obwohl inzwischen zur stärksten Oppositionspartei<br />

avanciert, schwer rudern, um im Schatten der beiden Volksparteien noch Aufmerksamkeit<br />

zu finden. Doch muß sie in schwierigen Zeiten jetzt auf B<strong>und</strong>esebene<br />

auch keine Kompromisse <strong>als</strong> Regierungspartei eingehen <strong>und</strong> vertreten;<br />

Kompromisse, die das liberale Profil verwässern könnten. Parteichef Westerwelle,<br />

der ehemalige FDP-Kanzlerkandidat, dürfte gut beraten gewesen sein, bald<br />

auch den FDP-Fraktionsvorsitz im B<strong>und</strong>estag zu übernehmen. Damit will der<br />

smarte Westerwelle, der nach dem Tod Möllemanns innerparteilich eine lange<br />

Schwächeperiode <strong>als</strong> Vorsitzender glücklich überlebte, politische Härte beweisen<br />

<strong>und</strong> die Kräfte der ehemaligen Spaßpartei bündeln, wie es Merkel 2002 in der<br />

Union tat.<br />

Die PDS, zweitstärkste Oppositionspartei, könnte von wachsenden Problemen<br />

profitieren. Sie verfolgt weiter ihr Dominokalkül; sie will nach der Landtagswahl<br />

in diesem Jahr in Sachsen-Anhalt mit der SPD wieder eine Regierung bilden –<br />

ein Vorgang, der die Große Koalition Merkels wohl belasten würde. Die GRÜ-<br />

NEN wiederum haben in der B<strong>und</strong>esregierung viel eigene Programmatik durchgesetzt.<br />

Nun hadern sie mit ihrem Schicksal: Nachdem viele SPD-<br />

Wahlniederlagen die GRÜNEN mit in den Abgr<strong>und</strong> gerissen hatten, gibt es ja<br />

wegen der schwachen SPD in Deutschland keine rotgrüne Koalition mehr; die<br />

GRÜNEN waren auf B<strong>und</strong>esebene in der rotgrünen Regierung zwar das stabile<br />

Element, sind jedoch – wie keine Partei zuvor in der b<strong>und</strong>esdeutschen Geschichte<br />

– aus allen Regierungen geflogen.<br />

Für die GRÜNEN böte nun eine „Jamaika“-Koalition große Vorteile: Sie gewönnen<br />

mit der Union vor allem einen weiteren Koalitionskandidaten, der sie<br />

vielleicht eher wieder in Regierungen bringen könnte <strong>als</strong> die SPD. Allerdings<br />

dürfte es vorerst schwer bleiben, der Basis der Union ein Bündnis mit „Ökostalinisten“<br />

näherzubringen – <strong>und</strong> umgekehrt. Rechtsextreme Parteien dürften es<br />

vorerst noch schwerer haben: Die NPD beschäftigt sich derzeit vor allem mit<br />

sich selbst <strong>und</strong> hat deshalb derzeit Probleme, schlecht integrierte Deutsche zu<br />

sammeln; die REP werden, wie es jetzt aussieht, in ihrer badenwürttembergischen<br />

Mini-Hochburg in diesem Jahr bei der Landtagswahl erneut<br />

klar scheitern, unter anderem weil die Landesregierung Oettinger nun einen Test<br />

zur Diskussion stellt, mit dem sie die Verfassungstreue von Einbürgerungswilligen<br />

prüfen will.<br />

Schwierig dürfte das Fahrwasser für die Koalition gerade dann werden, wenn<br />

eine der beiden Volksparteien aus Landtagswahlen deutlich besser bzw. weniger<br />

schlecht rauskommt <strong>als</strong> die andere. Dann wird sich wohl zeigen, ob die Große<br />

Koalition mehr ist <strong>als</strong> ein Schaulaufen für die nächste B<strong>und</strong>estagswahl, mehr<br />

66


zusammenhält <strong>als</strong> die jeweils heimliche Sehnsucht bzw. Suche nach einem kleinen<br />

Partner – wie die Große Koalition zwischen 1966 <strong>und</strong> 1969. Denn mit kleinen<br />

Partnern kann eine Volkspartei ja üblicherweise mehr eigenes Programm<br />

<strong>und</strong> Personal durchsetzen <strong>als</strong> mit einem großen Pendant.<br />

Problematisch wird die Lage der Großen Koalition wohl, wenn sich auf dem<br />

Arbeitsmarkt keine Aufhellung oder gar eine Verschlechterung einstellt. Deshalb<br />

handelt die Große Koalition klug, keine übergroßen Erwartungen zu wecken.<br />

Auch wenn es richtungweisende Maßnahmen gibt wie niedrigere Beiträge zur<br />

Arbeitslosenversicherung, längere Lebensarbeitszeit <strong>und</strong> den gelockerten Kündigungsschutz:<br />

Tatsächlich provozieren Koalitionsvertrag, Regierungserklärung<br />

<strong>und</strong> weitere Äußerungen der Beteiligten, insbesondere über die höhere Mehrwertsteuer,<br />

die Frage, wie sich mit per saldo wachsenden Belastungen das Investitionsklima<br />

nachhaltig verbessern läßt. Schon jetzt läßt sich ein koalitionsinterner<br />

Wettbewerb, etwa in der Familienpolitik, beobachten nach dem Motto: Wer<br />

bietet mehr Zuckerbrot <strong>und</strong> weniger Zumutungen? Auch die Union will (<strong>und</strong><br />

muß) offenbar ein bißchen SPD sein. Offenk<strong>und</strong>ig bewahrheitet sich ein Satz:<br />

Wirksame Reformen sind nicht durchsetzbar, durchsetzbare Reformen nicht<br />

wirksam. Immerhin hängen regierende Spitzenpolitiker inzwischen den Koalitionsvertrag<br />

tiefer. Ein Stimmungsaufschwung durch die Fußball-Weltmeisterschaft,<br />

zumal durch eine für Deutschland erfolgreiche, dürfte kaum reichen.<br />

Dr. Harald Bergsdorf ist Politikwissenschaftler <strong>und</strong> lebt in Bonn.<br />

DIE NEUE ORDNUNG<br />

Einbanddecken<br />

für den 59. Jahrgang 2005<br />

für 15,- € zu bestellen bei:<br />

Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg<br />

Simrockstraße 19 53113 Bonn<br />

67


Stefan Hartmann<br />

Neubelebung des Thomismus<br />

Ein Literaturbericht zu David Berger<br />

Der junge Kölner Theologe David Berger, bezeichnenderweise Jahrgang 1968,<br />

hat durch sein wissenschaftliches <strong>und</strong> publizistisches Wirken seit einigen Jahren<br />

zunehmend Aufmerksamkeit, Akzeptanz <strong>und</strong> auch Widerspruch gef<strong>und</strong>en. Leitstern<br />

seiner Veröffentlichungen ist der große <strong>und</strong> allgeme ine Kirchenlehrer<br />

Thomas von Aquin (1224-1274), dessen Werk <strong>und</strong> Nachwirkung sich Berger<br />

auch seit fünf Jahren <strong>als</strong> Herausgeber des internationalen thomistischen Jahrbuches<br />

„Doctor Angelicus“ (Bonn) widmet. In der Reihe „Zeugen des Glaubens“<br />

des Sankt Ulrich Verlags Augsburg erschien 2002 seine gut lesbare <strong>und</strong> von<br />

mehreren Rezensenten empfohlene knappe werkbiographische Einführung<br />

„Thomas von Aquin begegnen“. Seit 2002 ist Berger auch Mitglied der Päpstlichen<br />

Akademie des hl. Thomas von Aquin (Vatikan) <strong>und</strong> Vizepräsident der<br />

Deutschen Thomas-Gesellschaft.<br />

Die gelehrten Abhandlungen Bergers bleiben nicht im Elfenbeinturm der Wissenschaften,<br />

sondern greifen in aktuelle Diskussionen um die Reform von Kirche<br />

<strong>und</strong> Theologie ein. In diesem Sinne hat der immer noch <strong>als</strong> Religionslehrer an<br />

einem Kölner Gymnasium tätige Theologe seit 2003 auch die Herausgeberschaft<br />

der von Wilhelm Schamoni begründeten katholischen Monatsschrift „Theologisches“<br />

übernommen <strong>und</strong> bürgt für die Seriosität der dort geführten, oft harten<br />

Auseinandersetzungen. Im „Rahner-Jahr“ 2004 fand die von ihm herausgegebene<br />

Aufsatzsammlung „Karl Rahner: Kritische Annäherungen“ (Siegburg 2004)<br />

kontroverse Beachtung <strong>und</strong> ließ den Rahner-Schüler Herbert Vorgrimler polemisch<br />

von Bergers „apokalyptischer Sekte“ sprechen.<br />

Die inzwischen vorliegenden Veröffentlichungen Bergers (manche verwechseln<br />

ihn immer noch mit dem ebenfalls gegen den Mainstream argumentierenden<br />

Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger) sind jedoch durch ihre kenntnisreiche<br />

F<strong>und</strong>ierung ein immer wichtiger werdender Kontrapunkt zum allgemeinen<br />

Trend des auch innertheologischen Relativismus <strong>und</strong> weit mehr <strong>als</strong> eine – wie<br />

die Kritiker unterstellen – Ressentiment-geladene Anti-Rahner-Polemik. Nach<br />

der <strong>als</strong> jahresbeste Arbeit ausgezeichneten Promotion 1998 an der Universität<br />

Dortm<strong>und</strong> (bei Thomas Ruster) wurde Berger im Mai 2005 an der theologischen<br />

Fakultät der Katholischen Universität Lublin mit Leo Cardinal Scheffczyk <strong>als</strong><br />

Promotor inzwischen habilitiert.<br />

Die aktuelle Lage von Kirche <strong>und</strong> Glaube, die Unkenntnis <strong>und</strong> Verworrenheit in<br />

Fragen der Liturgie, der Pastoral <strong>und</strong> der Weitergabe des Glaubens in Schule <strong>und</strong><br />

Universität, machen es plausibel, wie Berger wieder neu am hl. Thomas <strong>und</strong> dem<br />

überw<strong>und</strong>en geglaubten Thomismus anzuknüpfen. Das Aufdrängen irreführender<br />

Philosophien, esoterischer Modetrends <strong>und</strong> psychologisch-soziologischer Para-<br />

68


digmen des pastoralen Utilitarismus, sowie die pragmatistische Versuchung der<br />

modernen, von Karl Rahner, Hans Küng oder Leonardo Boff ausgehenden<br />

„nachkonziliaren“ Theologie lassen einen sachlichen, mehr systematischen <strong>und</strong><br />

der objektiven Lehre der Kirche verb<strong>und</strong>enen Ansatz wieder unbedingt erforderlich<br />

werden. Die Vernunft des Denkens wurde vielfach durch emotionale Tendenzen<br />

zugedeckt. Ohne irgendeinem Rationalismus das Wort zu reden hat auch<br />

Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Fides et ratio“ (1998) dies festgestellt<br />

<strong>und</strong> bedeutsame Warnungen ausgesprochen. Zu dieser überfälligen Kurskorrektur<br />

gibt es aber in der Tradition der Kirche, wie sogar das II. Vaticanum<br />

ausdrücklich festgehalten hat, keinen verläßlicheren Bezugspunkt <strong>als</strong> die Lehre<br />

des Aquinaten. Alt bekannt ist das Wort, daß Thomas „unter allen Heiligen der<br />

Gelehrteste <strong>und</strong> unter allen Gelehrten der He iligste“ sei.<br />

Durchaus wird seine Aktualität wahrgenommen, sogar von Jürgen Habermas.<br />

Im Buchhandel erhältlich sind die anerkannten Werkbiographien von Otto<br />

Herrmann Pesch (Thomas von Aquin. Grenze <strong>und</strong> Größe mittelalterlicher Theologie,<br />

Mainz 1988) <strong>und</strong> Jean-Pierre Torrell (Magister Thomas. Leben <strong>und</strong> Werk<br />

des Thomas von Aquin, Freiburg i. Br. 1995). Sie werden nun ergänzt durch die<br />

vervollständigte Neuauflage der genial-klassischen Portraitzeichnung von Gilbert<br />

Keith Chesterton (Thomas von Aquin – Franz von Assisi, Bonn 2003). Aktuelle<br />

Hinführungen <strong>und</strong> Interpretationen zum Hauptwerk der „Summa theologiae“<br />

veröffentlichten jüngst unser Autor David Berger (Darmstadt 2004) <strong>und</strong> <strong>als</strong><br />

Herausgeber Andreas Speer (Berlin/New York 2005). Der von Joseph Maréchal,<br />

Karl Rahner („Geist in Welt“) <strong>und</strong> Johann B. Metz („Christliche Anthropozentrik“)<br />

ausgehende „Transzendentalthomismus“, der Thomas mit dem<br />

deutschen Idealismus versöhnen wollte, ist inzwischen überholt <strong>und</strong> wird kaum<br />

noch fortgesetzt.<br />

Phänomenologische <strong>und</strong> dialogische Denkformen haben dieser erzwungenen<br />

Modernisierung <strong>und</strong> Umdeutung den Rang abgelaufen, auch wenn neuerdings<br />

aus Berlin einige Dominikaner eine Neuanknüpfung beim sich der „nouvelle<br />

théologie“ anschließenden bedeutenden Thomas-Interpreten Marie-Dominique<br />

Chenu versuchen <strong>und</strong> ein entsprechendes Institut gegründet haben. Eine Gesamtausgabe<br />

der Thomas sehr verb<strong>und</strong>enen Werke Josef Piepers konnte ebenfalls<br />

jüngst abgeschlossen werden. Eigenständige <strong>und</strong> fruchtbare Nebenlinien bilden<br />

die bemerkenswerten Thomas-Rezeptionen des pallottinischen Mariologen Heinrich<br />

M. Köster („Die Magd des Herrn“), des Freiburger Pädagogen Gustav Siewerth<br />

(„Das Schicksal der Metaphysik von Thomas zu He idegger“) <strong>und</strong> des<br />

Regensburger Philosophen Ferdinand Ulrich („Homo Abyssus“). Die beiden<br />

letzteren standen in enger Verbindung mit Hans Urs von Balthasar, der den<br />

Charismatik-Ko mmentar für die „Deutsche Thomas-Ausgabe“ verfaßte. Doch<br />

war insgesamt die Zeit reif für einen Neuansatz, der den „stummen Ochsen“<br />

(Chestertons erster Titel für sein Thomas-Buch) wieder zu Sprache <strong>und</strong> Einfluß<br />

bringen sollte. Dies scheint David Bergers Sendung <strong>und</strong> Auftrag zu sein.<br />

Schon die lateinische Widmung seiner Doktorarbeit an den bekannten Dominikanertheologen<br />

(<strong>und</strong> Hauptgegner der „nouvelle théologie“) Réginald Garrigou-<br />

Lagrange (1877-1964) zeigt die Richtung an. Als Religionslehrer will sich Ber-<br />

69


ger unter dem Arbeitstitel „Natur <strong>und</strong> Gnade in systematischer Theologie <strong>und</strong><br />

Religionspädagogik von der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bis zur Gegenwart“ (Regensburg<br />

1998) gegen die Irrungen der modernen Glaubensweitergabe wenden<br />

<strong>und</strong> sieht deren Ursache im andauernden Gnadenstreit zwischen „Molinisten“<br />

<strong>und</strong> „Thomisten“. Der Semimodernismus des Bonner F<strong>und</strong>amentaltheologen<br />

Arnold Rademacher, die Innsbrucker Verkündigungstheologie (Kerygmatik) <strong>und</strong><br />

die an die (von Henri de Lubac durchaus orthodox interpretierte) Gnadenlehre<br />

der „nouvelle théologie“ anknüpfende Anthropozentrik Karl Rahners führten<br />

laut der Darstellung Bergers schließlich zu den religionspädagogischen Thesen<br />

von Hubertus Halbfas, die sich kaum noch von der Korrelationsdidaktik Paul<br />

Tillichs unterscheiden <strong>und</strong> zur Auflösung einer an eine Offenbarung <strong>und</strong> Übernatürlichkeit<br />

Gottes orientierten Glaubenslehre führten.<br />

Berger schildert auch den Eingang dieser Sichtweisen in den Würzburger Synodenbeschluß<br />

zum Religionsunterricht. Gegen diese Auswirkungen des jesuitis ch<br />

geprägten „Molinis mus“, der die Gnade zu einer Forderung der Natur zu machen<br />

droht, möchte Berger den dominikanischen „Thomismus“ setzen, dessen Ur-<br />

Leitmotiv er mit Garrigou-Lagrange so formuliert: „Alle Geschöpfe, zusammengesetzt<br />

aus Akt <strong>und</strong> Potenz, sind vollständig <strong>und</strong> schlechthin von ihrem<br />

Schöpfer abhängig, während umgekehrt Gott, <strong>als</strong> reiner Akt, in keinerlei Abhängigkeitsverhältnis<br />

zu seiner Schöpfung steht“. Dies ist das Prinzip des „Thomismus<br />

strenger Observanz“, den Berger <strong>als</strong> die Urintention des hl. Thomas selbst<br />

ausgeben möchte <strong>und</strong> dem er seine zweite größere Veröffentlichung widmet:<br />

„Thomismus. Große Leitmotive der thomistischen Synthese <strong>und</strong> ihre Aktualität<br />

für die Gegenwart“ (Köln 2001). Hier wird mit lebendigen geschichtlichen Bezügen<br />

eine Ge samtschau des Lehrgebäudes des Thomismus geboten wie es sie<br />

seit Gallus Mansers Standardwerk „Das Wesen des Thomismus“ (Fribourg<br />

³1949) nicht mehr gegeben hat.<br />

Zwei kleinere, auf liturgische <strong>und</strong> dogmatische Fragen bezogene Schriften Bergers<br />

ergänzen dieses Gr<strong>und</strong>lagenwerk: „Thomas von Aquin <strong>und</strong> die Liturgie“<br />

(Köln 2000) <strong>und</strong> „Was ist ein Sakrament? Der hl. Thomas von Aquin <strong>und</strong> die<br />

Sakramente im allgemeinen“ (Siegburg 2004). Auch für die katholische <strong>und</strong><br />

allgemeine Soziallehre wird bei Thomas sicher Wegweisung ergehen, die für die<br />

heutige Zeit hilfreich sein kann. Dies näher <strong>und</strong> für aktuelle ethische Herausforderungen<br />

darzulegen wäre ein Desiderat.<br />

Zum fünfzigjährigen Jubiläum der Enzyklika „Humani Generis“ Papst Pius XII.<br />

gab Berger (mit einem Vorwort von Leo Card. Scheffczyk) eine Sammlung mit<br />

Texten von Walter Hoeres, Anselm Günthör <strong>und</strong> Rudolf Michael Schmitz heraus<br />

(Köln 2000). Er selbst verfaßte darin einen theologiehistorischen Beitrag über<br />

die verschiedenen Modernismu skrisen des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts in Deuts chland <strong>und</strong><br />

Frankreich. Seine diesbezügliche Kompetenz ist auch ausgewiesen durch einen<br />

Aufsatz über „F<strong>und</strong>amentaltheologisches Denken zwischen 1870 <strong>und</strong> 1960“ in<br />

dem vom bekannten Münsteraner Kirchengeschichtler Hubert Wolf herausgegebenen<br />

Band „Antimodernis mus <strong>und</strong> Modernismus in der katholischen Kirche.<br />

Beiträge zum theologiegeschichtlichen Vorfeld des II. Vatikanums“ (Paderborn<br />

1998). „Die Neue Ordnung“ publizierte entsprechend Bergers kenntnisreichen<br />

70


<strong>und</strong> Alberigo-kritischen Artikel „Wider die Veteranen-Sentimentalität. Zur Frage<br />

der Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils“ (Jahrgang 58, 2004, 108-<br />

120).<br />

Als letzte beim Verlag „nova & vetera“ nach seiner Habilitation erschienene<br />

Arbeit ist nun noch die wiederum vor allem historische Arbeit „In der Schule des<br />

hl. Thomas von Aquin. Studien zur Geschichte des Thomis mus“ (Bonn 2005) zu<br />

erwähnen. Hier beweist Berger durch seinen liebevollen <strong>und</strong> stupenden Fleiß<br />

gegenüber den einzelnen Vertretern <strong>und</strong> Institutionen (Päpstliche Thomasakademie;<br />

Zeitschrift „Divus Thomas“) des Thomismus, daß es ihm aufrichtig um<br />

die erkannte Sache, nicht bloß um Meinung, Polemik oder gar Ideologie geht.<br />

Alle echten Fre<strong>und</strong>e des „engelgleichen Lehrers“ bekommen seine Aufmerksamkeit<br />

<strong>und</strong> Wertschätzung, während die Vertreter der „nouvelle théologie“, vor<br />

allem Karl Rahner, wenig Gn ade finden. Aber nach der jahrzehntelangen, oft<br />

arroganten Abqualifizierung des „Schulthomis mus“ ist es mehr <strong>als</strong> nur ein Gebot<br />

der Gerechtigkeit, daß dessen Leistungen von Berger wieder in ein gutes <strong>und</strong><br />

positives Licht gestellt werden.<br />

Die Dominikaner Norbert del Prado <strong>und</strong> Réginald Garrigou-Lagrange werden<br />

in eigenen Studien behandelt, ebenso der Paderborner Dogmatiker Johannes<br />

Brinktrine <strong>und</strong> der Freiburger Philosoph Bernhard Lak ebrink , der wie Berger<br />

durch die Er kenntnis der zeitlosen Aktualität der Metaphysik frei <strong>und</strong> unabhängig<br />

blieb gegenüber dem „Beifall der St<strong>und</strong>e <strong>und</strong> all derer die philosophisch in<br />

den Tag hineinlebten“ (Seite 383). Der Band enthält ein thomistisches Literaturverzeichnis<br />

<strong>und</strong> eine Bibliographie der über 200 Veröffentlichungen des Autors.<br />

Thomismus ist für David Berger kein museales Phänomen, sondern hat gerade<br />

heute eine ganz einzigartige Aktualität: „Zeigt er uns doch den hl. Thomas inmitten<br />

der aufgewühlten Wogen der ‚Diktatur des Relativismu s’ (Papst Benedikt<br />

XVI.) <strong>als</strong> jenen Leuchtturm, der uns den Weg zur Wahrheit weist“ (Klappentext).<br />

Vieles deutet darauf hin, daß für eine Neubelebung des Thomismus die<br />

St<strong>und</strong>e geschlagen hat. Das bisherige Werk Bergers bietet dafür entscheidende<br />

Anstöße.<br />

Lic. theol. Stefan Hartmann wirkt <strong>als</strong> Pfarrer <strong>und</strong> Publizist in Oberhaid.<br />

71


Besprechungen<br />

Frieden<br />

Sammelbände, deren Beiträge auf städtischen<br />

Festakten oder Tagungen außerhalb<br />

des geschlossenen Wissenschaftsmilieus<br />

basieren, mag man gemeinhin<br />

eher <strong>als</strong> etwas „zusammengewürfelt“<br />

<strong>und</strong> „intentionskonform“ vermuten –<br />

<strong>und</strong> damit <strong>als</strong> intellektuell nicht sonderlich<br />

weiterführend. Der Stadt Goch ist es<br />

gelungen, beides zu vermeiden, <strong>als</strong> sie<br />

nach der Heiligsprechung von Arnold<br />

Janssen im Oktober 2003 einen Festakt<br />

<strong>und</strong> ein Symposium anläßlich der ers t-<br />

maligen Verleihung ihres „Arnold-<br />

Janssen-Preises“ konzipierte. Mit grossem<br />

Geschick hat der Stadtverwaltungsdirektor<br />

Georg Kaster <strong>als</strong> Spiritus Rector<br />

der Veranstaltungen <strong>und</strong> Herausgeber<br />

des <strong>hier</strong> anzuzeigenden Buches<br />

Thema <strong>und</strong> Teilnehmer zusammengestellt<br />

<strong>und</strong> durch einen stets erkennbaren<br />

Roten Faden miteinander verwoben.<br />

Georg Kaster (Hg.): Frieden – Utopie<br />

einer globalen Gesellschaft? Butzon &<br />

Bercker, Kevelaer 2004, 158 S.<br />

Das Gedenken an den Heiligen aus<br />

Goch sollte nicht für eine salbungsvolle<br />

Retrospektive oder vordergründige<br />

Imagepflege der niederrheinischen<br />

Kleinstadt instrumentalisiert werden,<br />

sondern im Sinne des Ordensgründers<br />

der „Steyler Missionare“ wert- <strong>und</strong><br />

zukunftsorientiert ausgerichtet sein. So<br />

wurde der Preis der Gemeinschaft Sant‘<br />

Egidio verliehen, deren über 40.000<br />

Mitglieder in mehr <strong>als</strong> 60 Ländern auf<br />

vier Kontinenten neben der Evangelis a-<br />

tion politisch wertvolle Beiträge für<br />

Frieden <strong>und</strong> Versöhnung leisten. Der<br />

lokale bzw. provinzielle Bezugsrahmen<br />

der Gedenkveranstaltungen war somit<br />

von vornherein gesprengt <strong>und</strong> ein Brückenschlag<br />

zwischen Spiritualität <strong>und</strong><br />

Weltverantwortung, Kirche <strong>und</strong> Staat<br />

geleistet. Daß eine Stadtregierung heutzutage<br />

ein zunächst nur geistliches Ereignis<br />

so konsequent, einfühlsam <strong>und</strong><br />

nachhaltig aufgreift, ist eigentlich nur<br />

<strong>als</strong> Verdienst der „richtigen Person(en)<br />

am richtigen Platz“ erklärbar.<br />

Im ersten Band der „Internationalen<br />

Gocher Gespräche“ zeigen Autoren<br />

unterschiedlichster Funktion <strong>und</strong> Couleur<br />

Herausforderungen <strong>und</strong> Maßnahmen<br />

des Friedens in der globalen Gesellschaft<br />

auf: Politiker <strong>und</strong> Priester,<br />

Journalisten <strong>und</strong> Militärs, Wissenschaftler<br />

<strong>und</strong> Verwaltungsbeamte. Zu den<br />

spannendsten Passagen gehört die Diskussion<br />

des katholischen Sozialethikers<br />

Manfred Spieker, der die unpopuläre<br />

Lehre vom „gerechten Krieg“ <strong>als</strong> „unersetzlich“<br />

verteidigt, mit den Journalisten<br />

Ulrich Harbecke (WDR) <strong>und</strong> Andreas<br />

Zumach, „taz“-Korrespondent in Berlin<br />

<strong>und</strong> ehemaliger Mitarbeiter der Aktion<br />

Sühnezeichen/Friedensdienst (ASF)<br />

sowie der Sicherheitspolitischen Kommission<br />

beim Parteivorstand der SPD.<br />

Er unterscheidet fünf Gründe dafür,<br />

warum „der Frieden noch nicht ausgebrochen<br />

ist“ <strong>und</strong> seit dem Ende des<br />

Kalten Krieges weltweit 58 Konflikte in<br />

46 Regionen mit Waffengewalt ausgetragen<br />

wurden: Zunächst, entsprechend<br />

Jes 32,17, durch einen Mangel an Gerechtigkeit<br />

– übrigens auch im Bereich<br />

der Kommunikationsmittel: „In<br />

Deutschland gibt es inzwischen zwei<br />

Telefone pro Kopf. In Afrika kommen<br />

auf ein Telefon 200 Menschen. Bei<br />

Internet- <strong>und</strong> E-Mail-Nutzern klafft<br />

diese Schere noch sehr viel weiter auseinander.“<br />

Zweitens durch unzureichende Reaktionen<br />

der demokratischen Staaten auf<br />

Krisen, Konflikte <strong>und</strong> Kriege weltweit<br />

<strong>und</strong> drittens durch ihren selektiven Umgang<br />

mit dem Menschenrechtsthema,<br />

72


etwa „das skandalöse Schweigen des<br />

Westens“ im Fall Tschetschenien. Viertens<br />

strahle insbesondere der Konfliktherd<br />

Nahost weit über die eigene Region<br />

hinaus <strong>und</strong> schließlich erscheine die<br />

Energieversorgung <strong>als</strong> „die singulär<br />

kriegsträchtigste oder konfliktträchtigste<br />

Frage der nächsten 30 Jahre“.<br />

General a.D. Philippe Morillon, ehemaliger<br />

Kommandant der UN-Streitkräfte<br />

in Bosnien <strong>und</strong> Mitglied des Europäischen<br />

Parlaments, fordert angesichts<br />

„neuer Formen des Totalitarismus“ <strong>und</strong><br />

internationalen Terrorismus eine „Ve r-<br />

stärkung der militäris chen Kapazität <strong>und</strong><br />

Schlagkraft“ der EU-Staaten. Gegen<br />

Zumachs Abschreckungs- <strong>und</strong> Rüstungs-skeptische<br />

Einwände beruft sich<br />

der französische Militärexperte auf die<br />

Lehre der Kirche, wonach „die Anwe n-<br />

dung von Gewalt unter bestimmten<br />

Umständen ein geringeres Übel darstellt,<br />

das toleriert werden kann, wenn durch<br />

sie ein politisches Ziel erreicht wird, das<br />

sich durch kein anderes Mittel erreichen<br />

läßt, <strong>und</strong> wenn der Gebrauch der Gewalt<br />

aussetzt, sobald dieses Ziel erreicht<br />

wurde. Ich halte das für sehr weise.“<br />

Zu den „großen Einmischungen der<br />

Katholischen Soziallehre im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert“<br />

zählt Manfred Spieker innerhalb<br />

seines Themas „Frieden, Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> Freiheit“ auch die „Wertorientierungen<br />

in den westlichen Demokratien“.<br />

Folglich weitet er den Blick auf<br />

die Verantwortung für Lebensschutz <strong>und</strong><br />

Familienförderung aus.<br />

Gegen Harbeckes <strong>und</strong>ifferenzierte Rede<br />

von den Religionen <strong>als</strong> „Durchlauferhitzer,<br />

Anwalt <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>beter von Gewaltaktionen“<br />

betont der Osnabrücker<br />

Sozialethiker den Unterschied zwischen<br />

islamistischen Selbstmordattentätern<br />

<strong>und</strong> christlichen Märtyrern <strong>und</strong> auf das<br />

Gebot der Feindesliebe, das der Islam so<br />

nicht kenne.<br />

Selbst der launigen Charakterskizze<br />

Arnold Janssens fehlt der friedensethische<br />

Bezug nicht, da Augustinus Heinrich<br />

Graf Henckel von Donnersmarck in<br />

Goch alles andere <strong>als</strong> eine harmonisierende<br />

Hagiographie ablieferte: Der<br />

Heilige sei „nicht völlig frei von gewissen<br />

schwierigen Seiten“ <strong>und</strong> beispielsweise<br />

„stur wie ein Büffel“ gewesen.<br />

Man solle nicht verdrängen, „was uns<br />

vielleicht an seiner Heiligkeit stört“,<br />

sondern auf etwas in ihm achten, „das<br />

ihn im richtigen Moment erkennen ließ,<br />

daß eine Korrektur vielleicht angezeigt<br />

war. Soweit ich das aus dem Material,<br />

das mir vorliegt, ersehen kann, ist dafür<br />

im Wesentlichen seine große Frömmigkeit<br />

verantwortlich gewesen. Er hat nie<br />

aufgehört, auf das zu hören, was Gott<br />

ihm gesagt hat.“<br />

Auch die Kirche, die man „eher <strong>als</strong><br />

kratziges Bußhemd denn <strong>als</strong> glänzendes<br />

Kleid empfinden“ könne, idealisierte der<br />

Prämonstratenserpater <strong>und</strong> Geschäftsführer<br />

einer Düsseldorfer Beratungsfirma<br />

nicht <strong>als</strong> ein Biotop des Friedens: Er<br />

kenne „manch einen Kirchenkritiker<br />

unserer Tage, dem ich gerne empfehlen<br />

würde: Schlag mal nach beim heiligen<br />

Arnold Janssen, wie sie dem mitgespielt<br />

haben <strong>und</strong> wie er dennoch ein treuer<br />

Sohn der Kirche geblieben ist, aus innerer<br />

Überzeugung.“<br />

Zum Schluß überraschte der langjährige<br />

Essener Domprediger den Bürgermeister<br />

<strong>und</strong> seine Gemeinde mit der Aufford e-<br />

rung: „Wie wäre es denn, wenn Ihr<br />

damit anfangen wolltet, endlich etwas<br />

heiliger zu werden?!“<br />

Andreas Püttmann<br />

Politische Theologie<br />

Bereits seit 1994 betreut Barbara<br />

Nichtweiß die Herausgabe Ausgewählter<br />

Schriften Erik Petersons (1890-1960),<br />

die im Würzburger Echter-Verlag er-<br />

73


scheinen. Ursprünglich auf zwölf Bände<br />

konzipiert, ist der Editionsplan mittlerweile<br />

auf vierzehn Bände angelegt, von<br />

denen inzwischen fünf vorliegen.<br />

Erik Peterson: Offenbarung des Johannes<br />

<strong>und</strong> politisch-theologische<br />

Texte. Hrsg. von Barbara Nichtweiß<br />

<strong>und</strong> Werner Löser. Ausgewählte<br />

Schriften, Band IV, Würzburg (Ec h-<br />

ter) 2004.<br />

Hans Urs v. Balthasar hat Peterson, der<br />

sich 1930 zur Katholischen Kirche bekehrte,<br />

einmal einen Schutzgott der<br />

guten Theologie genannt. Damit würdigte<br />

er etwas pathetisch einen Theologen<br />

von Rang, der auch heute, im Widerstreit<br />

divergierender Strömungen in der<br />

Gegenwartstheologie, ein verläßlicher<br />

Orientierungspunkt solider Theologie in<br />

<strong>und</strong> mit der Kirche bleibt. Sein Profil hat<br />

sich Peterson vor allem <strong>als</strong> Exeget <strong>und</strong><br />

Patrologe erworben, in Auseinandersetzung<br />

mit Carl Schmitt, aber auch in<br />

originellen Beiträgen zur Politischen<br />

Theologie gefestigt. Dieses thematische<br />

Segment seines Werkes war schon in<br />

Band I (Würzburg 1994) der Schriften<br />

spürbar geworden, in dem Text Christus<br />

<strong>als</strong> Imperator etwa, in dem, ausgehend<br />

vom Christusbild der Geheimen Offenbarung,<br />

die in ihrem Ausblick auf die<br />

heilsgeschichtliche Vollendung für<br />

Peterson zeitlebens eine Schlüsselstellung<br />

in der Erschließung der Heiligen<br />

Schrift <strong>als</strong> ganzer besaß, ein Kontrast-<br />

Entwurf zum Kaiserkult des Römischen<br />

Imperiums vorliegt.<br />

Peterson weist diese Interpretation dort<br />

im Spiegel altchristlicher Auslegung<br />

nach. Sie ist für ihn der Pfad zur politischen<br />

Relevanz des Christusglaubens,<br />

die sich im Martyrer zu existentieller<br />

Brisanz verdichtet.<br />

Auch dies war schon in Band I mit dem<br />

Aufsatz Zeuge der Wahrheit angeklungen,<br />

gleichfalls in der Studie über den<br />

Monotheismus, in der dieser gerade <strong>als</strong><br />

politisches Problem ventiliert wird.<br />

Fragt man nach dem Ursprung des politischen<br />

Interesses bei Peterson, so ist<br />

auf die theologische Deutung zu verweisen,<br />

die er dem Begriff der Öffentlichkeit<br />

beimißt, dem er sich über ein liturgischkultisches<br />

Konzept annähert.<br />

Der Zugang, den Peterson zur Politik <strong>als</strong><br />

theologischer Größe findet, <strong>und</strong> der in<br />

seinen Schriften verstreut immer wieder<br />

zur Geltung kommt, ist sehr viels eitig<br />

<strong>und</strong> inhaltlich zentral. Sein ständiger<br />

Bezugspunkt dabei ist das finale Buch<br />

des Neuen Testamentes. Somit ist es<br />

stimmig, wenn politisch-theologische<br />

Texte nicht in einem eigenen Band<br />

versammelt sind, sondern gebündelt der<br />

fragmentarischen Auslegung der Offenbarung<br />

des Johannes folgen, die soeben<br />

<strong>als</strong> Band IV (Würzburg 2004) der Ausgewählten<br />

Schriften herausgegeben<br />

wurde. Darin werden nicht nur bereits<br />

vorher bekannte Texte neu zugänglich,<br />

der Großteil wird <strong>hier</strong> erstmalig aus dem<br />

Nachlaß ediert, wodurch bereits Vertrautes<br />

in teilweise neuem Licht erscheint<br />

<strong>und</strong> somit aufgefrischt interessant wird.<br />

Ein Vortrag beispielsweise, den die<br />

Herausgeber auf 1934 datieren, behandelt<br />

Christus <strong>als</strong> König <strong>und</strong> kann <strong>als</strong><br />

Vorstudie zu Petersons Beschäftigung<br />

mit dem Imperatorentitel <strong>als</strong> Christusqualifikation<br />

(1936) gelesen werden.<br />

Die Schwierigkeiten (Manuskripte in<br />

verschiedenen Fassungen, Ergänzungen,<br />

Streichungen etc.) der Edition werden<br />

dem Leser von Werner Löser SJ, der für<br />

Band IV <strong>als</strong> Mitherausgeber fungiert, in<br />

einer Einleitung nahegebracht, Barbara<br />

Nichtweiß selbst leistet eine thematische<br />

Verortung im Kontext des Gesamtwerkes.<br />

Wertvoll ist sicher auch, daß die Auslegung<br />

des Johannesevangeliums – auch<br />

sie ist unvollendet geblieben – ebenfalls<br />

bereits erschienen is t (Band III, Würz-<br />

74


urg 2003); der prophetische Seher der<br />

Apokalyse war schließlich von Peterson<br />

konstant mit dem Evangelisten identifiziert<br />

worden. Das Johannesevangelium<br />

in der Auslegung Petersons erscheint in<br />

der Werkedition zusammen mit Kanonstudien,<br />

die die normative Kraft des<br />

neutestamentlichen Kanons für die Exegese<br />

akzentuieren, was sicher ein nicht<br />

zu unterschätzender Balancebeitrag<br />

gegenüber dem Einfluß der historischkritischen<br />

Methode ist.<br />

Die Wertung <strong>und</strong> die heilsgeschichtliche<br />

Funktion, die Peterson dem Judentum<br />

zuordnet, ist markant <strong>und</strong> teilweise<br />

Ansatzpunkt für kritische Distanzierung<br />

von seiner Gedankenwelt geworden. In<br />

ihrer Eigenwilligkeit haben seine diesbezüglichen<br />

Darlegungen Ecken <strong>und</strong><br />

Kanten, an denen Leser Anstoß nehmen,<br />

die aber auch Anstoß geben können zur<br />

vertieften Reflexion: Peterson hat sein<br />

Konzept einer politischen Theologie<br />

gerade im aktuellen Kontext nation<strong>als</strong> o-<br />

zialistischen Antis emitismus entwickelt,<br />

jedoch nicht im naiven Anschluß an<br />

diesen, sondern <strong>als</strong> Antwort auf eine<br />

zeitgenössische Herausforderung. So<br />

sind seine Gedanken zweifelsohne zeitbedingt,<br />

verlieren sich aber nicht an den<br />

Zeitgeist, sondern waren wirklich zeitgemäß.<br />

Daß eine heutige Lektüre trotzdem<br />

provokant ist, sollte nicht abschrecken,<br />

vielmehr anregen. Im Blick auf Petersons<br />

Umgang mit der Geheimen Offenbarung,<br />

von dem aus der Konvertit <strong>und</strong><br />

eigenständige Laientheologe theologisch<br />

verantwortete Aussagen zum Weltauftrag<br />

des Christen formuliert, konnte <strong>hier</strong><br />

teilweise ein Schlaglicht auf die restlichen<br />

Bände der Ausgewählten Schriften<br />

geworfen werden.<br />

Karl Kardinal Lehmann, der die Neuausgabe<br />

wohlwollend fördert <strong>und</strong> interessiert<br />

begleitet, bescheinigt Peterson<br />

in seinem Geleitwort zu Band III „großen<br />

theologischen Scharfsinn [,] [...]<br />

genial formulierte Aphorismen, die man<br />

heute noch mit Genuß liest“ (op.cit.,<br />

XIII): Es lohnt sich <strong>als</strong>o, ihn neu zu<br />

entdecken, <strong>und</strong> so ist die Neuausgabe<br />

seiner Schriften im Miteinander der<br />

Konfessionen zusätzlich eine ökumenische<br />

Einladung, dem Theologen, den die<br />

evangelische Christenheit nach seiner<br />

Konversion oft marginalisiert <strong>und</strong> ignoriert<br />

hat, wieder unverkrampft zu begegnen.<br />

Auch in der katholischen Kirche<br />

war er jedoch stets Außenseiter geblieben,<br />

<strong>und</strong> deshalb darf man seiner Theologie<br />

genauso innerhalb der Catholica<br />

eine Renaissance wünschen, in der noch<br />

viele Reichtümer zu entdecken sind, die<br />

wegen einer einstigen Skepsis gegenüber<br />

dem ehemaligen Protestanten bislang<br />

noch nicht voll ausgeschöpft wurden.<br />

Bedenkt man dieses diachrone<br />

Potential, kann man auch in etwa die<br />

Bedeutung des großangelegten Projektes<br />

einer neuerlichen Werkedition ermessen.<br />

Christoph Matthias Hagen<br />

Ökonomie <strong>und</strong> Politik<br />

Festschriften haben oft mit dem bisweilen<br />

zutreffenden Vorurteil zu kämpfen,<br />

ein Sammelbecken für allenfalls zweitklassige<br />

Beiträge zu sein, die zuvor an<br />

renommierteren Stellen nicht zum Zuge<br />

kamen.<br />

Wilhelm Hankel, Karl Albrecht<br />

Schachtschneider, Joachim Starbatty<br />

(Hrsg.): Der Ökonom <strong>als</strong> Politiker.<br />

Europa, Geld <strong>und</strong> die soziale Frage.<br />

Festschrift für Wilhelm Nölling, Lucius<br />

& Lucius Stuttgart 2004, 660 S.<br />

Einige der in diesem Band systematisch<br />

stringent nach Themen sortierten Artikel<br />

müssen sich wohl auch diesen Vorwurf<br />

gefallen lassen, wie etwa die allgemein<br />

gehaltenen Schlagworte von Henning<br />

Voscherau zur Föderalismus-Debatte,<br />

75


die allseits bekannten Thesen von Norbert<br />

Blüm zum Sozi<strong>als</strong>taat – ohne eine<br />

Klärung des Begriffs sozialer Gerechtigkeit,<br />

das in sich widersprüchliche<br />

‚Sowohl-<strong>als</strong> -auch’ von Wolfgang Clement<br />

zwischen grünsozialer Loyalität<br />

<strong>und</strong> ökonomischer Vernunft, das von<br />

Björn Engholm hingeworfene Potpourri<br />

aus Weltethos <strong>und</strong> einer wie auch immer<br />

damit zu vereinbarenden kulturellen<br />

Identität, die Allgemeinplätze von Heide<br />

Simonis zur Europäischen Union ohne<br />

irgendeine politische Botschaft von<br />

Belang oder die offensichtlich kontrafaktischen<br />

Beschwörungsformeln von<br />

Hans Eichel zum vermeintlichen deutschen<br />

Konsolidierungskurs. Dennoch<br />

stößt der Leser neben solcher Red<strong>und</strong>anz<br />

<strong>und</strong> neben den angenehm herzlichen<br />

Grußadressen an den Jubilar auf<br />

hochkarätige Beiträge vor allem zur<br />

europäischen Währungsunion <strong>und</strong> zum<br />

laufenden Einigungsprozeß, durch die<br />

eine entsprechend selektierte Lektüre<br />

des Bandes auch für den fachinteressierten<br />

Leser zum Gewinn wird.<br />

Herauszuheben ist dazu etwa der Beitrag<br />

von Klaus von Dohnanyi zu den Ereignissen<br />

im Jahr 1968 <strong>und</strong> ihren Folgen<br />

für die deutsche Bildungslandschaft. Die<br />

vermeintlich nur in diesen Revolten<br />

errungene Emanzipation von autoritären<br />

Bevorm<strong>und</strong>ungen jeder Art wird <strong>hier</strong> <strong>als</strong><br />

Mythos entlarvt. Ja mehr noch, von<br />

Dohnanyi macht vor allem die grünen<br />

Schwärmereien <strong>und</strong> die Folgen der so<br />

genannten antiautoritären Erziehung für<br />

den Niedergang des deutschen Hochschulwesens<br />

<strong>und</strong> insgesamt für die Bildungskrise<br />

verantwortlich.<br />

Mit den Utopien eines Weltsozi<strong>als</strong>taats<br />

räumt Angelika Emmerich-Fritsche –<br />

systematisch begründet <strong>und</strong> an Praxisfeldern<br />

belegt – unverhohlen auf. Auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage eines kantischen Objektivismus<br />

trennt sie sauber zwischen negativen<br />

Abwehrrechten <strong>und</strong> sozialen Anspruchsrechten,<br />

um von da aus die Implementierbarkeit<br />

positiver Freiheit (in<br />

Gestalt sozi<strong>als</strong>taatlich garantierter Ansprüche)<br />

an kulturell gewachsene Pfadabhängigkeiten<br />

zu binden. Zwar wird<br />

die Vorzugswürdigkeit ihrer Argumentation<br />

etwa gegenüber einem naturrechtlichen<br />

Objektivismus nicht deutlich,<br />

dennoch ist die vorgeschlagene Bindung<br />

solidarischer Rechtspflichten an einen<br />

objektiven Begriff der Menschenwürde<br />

ein innovativer Diskussionsbeitrag auch<br />

für die offene Legitimationsfrage des<br />

Sozi<strong>als</strong>taats.<br />

Den facettenreichen „Mißbrauch des<br />

Sachverstandes im Dienste der Parteip o-<br />

litik“ (172) zeigt Hans-Hermann Hartwich<br />

am Beispiel der sogenannten<br />

‚Hartz-Kommission’ vor der letzten<br />

B<strong>und</strong>estagswahl auf. Die schon intuitiv<br />

richtige Vermutung, daß Sachargumente<br />

oft dem tagespolitischen Kalkül untergeordnet<br />

werden, findet <strong>hier</strong> eine systematische<br />

<strong>und</strong> deshalb jeden Demokraten<br />

um so mehr beunruhigende Bestätigung.<br />

Immerhin Anstöße zu einer verbesserten<br />

Wettbewerbsfähigkeit Europas legen<br />

Rolf Hasse <strong>und</strong> Marek Mora in dem<br />

einzigen englischsprachigen Beitrag vor,<br />

wenn diese auch recht plakativ aneinandergereiht<br />

sind. Interessant, wenn auch<br />

nicht neu, ist <strong>hier</strong> der Vorschlag, daß die<br />

Effizienz durch eine verstärkte Motivation<br />

zur Eigenverantwortung erhöht<br />

werden sollte. Damit werden offenbar<br />

die in der Konzeption sozialer Marktwirtschaft<br />

bereits betonten Tugenden<br />

mit ihrer ökonomischen Relevanz ins<br />

Gedächtnis gerufen. Eine mit dem Dynamit<br />

juristischer Schärfe gezündetes<br />

Feuerwerk gegen die Legitimität des<br />

Konventsentwurfs einer ‚Verfassung für<br />

Europa’ brennt Karl Albrecht Schachtschneider<br />

ab. Solange nicht ein europäisches<br />

Volk existiert – <strong>und</strong> davon sind<br />

wir weit entfernt – kann danach zumindest<br />

aus Sicht der b<strong>und</strong>esdeutschen<br />

76


Gr<strong>und</strong>gesetzes eine von selbstrefere n-<br />

tiellen politischen Eliten entworfene<br />

europäische Verfassung nicht bindend<br />

sein: „Der Verfassungsvertrag verstärkt<br />

den Staatscharakter der Union, freilich<br />

verfassungswidrig, weil ein Verfassungsvertrag,<br />

den die Staatsorgane der<br />

Völker … schließen, kein Volk konstituieren<br />

kann“ (303). Ohne eine nationale<br />

Identität verstärkt sich vielmehr die<br />

Distanz der Obrigkeit zu den Untertanen,<br />

<strong>und</strong> die von den Befürwo rtern des<br />

Entwurfs propagierte Bürgernähe ist<br />

eine Lüge. Unklar bleibt allerdings<br />

noch, wie die <strong>als</strong> Alternative vorg e-<br />

schlagene ‚kleine Einheit Rousseaus’<br />

(322) legitim in die Tat umgesetzt werden<br />

könnte.<br />

Joachim Starbatty erinnert mit seinen<br />

Anmerkungen zur Geburtsst<strong>und</strong>e der<br />

EZB nachdrücklich an die bis heute<br />

gebliebene Gefahr einer politisch verlockenden<br />

Instrumentalisierung der Stabilitätspolitik<br />

nach französischem Vorbild.<br />

Offenbar entspricht die Komposition<br />

dieser Fes tschrift der Biographie Nöllings<br />

<strong>als</strong> ein gewagter, aber gelungener<br />

Grenzgang von charakterstarkem Sachverstand<br />

im Dickicht der alltäglichen<br />

Politpragmatik. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong><br />

lohnt sich selbst ein Blick in die wissenschaftlich<br />

red<strong>und</strong>anten Teile, denn er<br />

öffnet die Augen für die unser Land<br />

maßgeblich in Mitleidenschaft ziehende<br />

Diskrepanz zwischen juristischem oder<br />

ökonomischen Sachverstand einerseits<br />

<strong>und</strong> politischem Kalkül andererseits.<br />

Wilhelm Nölling selbst ist dabei, um es<br />

mit J. Starbatty zu sagen, offenbar den<br />

Weg von Thomas Beckett (535) gegangen,<br />

ohne aber glücklicherweise wie<br />

dieser das Martyrium erleiden zu müssen.<br />

So sollte dieser Band im Ga nzen die<br />

Augen <strong>öffnen</strong> für die Aktualität des<br />

Vorbildes persönlicher Integrität <strong>und</strong><br />

Fachkompetenz allen parteitaktischen<br />

Versuchungen zum Trotz. Die von Nölling<br />

<strong>und</strong> von diesem Sammelband ausgehende<br />

Provokation bringt deshalb<br />

Hans-Ulrich Klose mit Blick auf den<br />

Jubilar auf den Punkt: „Er meinte es<br />

ernst“ (5).<br />

Elmar Nass<br />

Staat<br />

Ist mit unserem Staat noch ‚Staat zu<br />

machen‘? Die Frage steht in der Tat<br />

angesichts der unterschiedlichen <strong>und</strong><br />

widersprüchlichen Anfragen, die an den<br />

Staat gestellt werden, im Raum. Die<br />

einen fordern den schlanken Staat, die<br />

anderen beklagen seine Schwäche. Die<br />

Entscheidung <strong>hier</strong>über ist keineswegs<br />

nur für einen Staatstheoretiker interessant,<br />

sondern insofern mit ihr gr<strong>und</strong>legende<br />

Weichenstellungen für das<br />

Selbstverständnis unserer Gesellschaft<br />

insgesamt vorgenommen werden, ist die<br />

Problematik für unser gesamtes Gemeinwesen<br />

von entscheidender Bedeutung.<br />

Ein konstruktiver Diskussionsbeitrag<br />

<strong>hier</strong>zu, der Wege zur Lösung der<br />

Problematik weist, liegt vor mit:<br />

Paul Kirchhof: Der Staat – eine Erneuerungsaufgabe<br />

(Herder Spektrum,<br />

Bd. 5555), Herder: Freiburg i.Br./<br />

Basel/Wien 2005. 124 S.<br />

Der Autor, Direktor des Instituts für<br />

Finanz- <strong>und</strong> Steuerrecht an der Univers i-<br />

tät Heidelberg <strong>und</strong> B<strong>und</strong>esverfassungsrichter<br />

a. D., zeigt auf, daß es keine<br />

Alternative zum Staat gibt <strong>und</strong> verbindet<br />

damit zugleich richtungsweisende Lösungsansätze<br />

für folgende Bereiche:<br />

Erneuerung des demokratischen Staates<br />

auf der Basis der Freiheitsrechte der<br />

Bürger, Wertorientierung für den weltanschaulich<br />

neutralen Staat aus der<br />

Gesellschaft, Maßstäbe für den modernen<br />

Finanzstaat, Chancen eines europa<strong>und</strong><br />

weltoffenen Staates.<br />

77


Da ein Staat nicht ohne die Menschen zu<br />

denken ist, die ihn letztlich mit Leben<br />

erfüllen, zieht sich konsequenterweise<br />

die entscheidende Fragestellung nach<br />

der Zuordnung von Einzelnem <strong>und</strong><br />

Gesellschaft wie ein roter Faden durch<br />

wichtige Teile des Buches. Ausgangspunkt<br />

bildet dabei die der Verfassung<br />

zugr<strong>und</strong>eliegende Menschenwürde, aus<br />

der die Freiheitsrechte des Individuums<br />

resultieren. Sie sind wesentlicher Inhalt<br />

der Staatsverfassung.<br />

Doch auf dieser Gr<strong>und</strong>lage allein kann<br />

kein Gemeinwesen bestehen, da Gemeinwohl<br />

sich nicht nach dem Motto<br />

verwirklicht: ‚Wenn jeder an sich denkt,<br />

ist an alle gedacht.‘ Daher macht Verf.<br />

sehr deutlich, wie wichtig es für das<br />

Überleben eines Staates ist, daß seine<br />

Bürger ihre Freiheitsrechte auch wahrnehmen<br />

<strong>und</strong> so aus freien Stücken Bindungen<br />

eingehen. Würden beispielsweise<br />

die Menschen nicht von ihrem Recht<br />

zur Familie Gebrauch machen <strong>und</strong> auf<br />

diese Weise Verantwortung für Partner<br />

<strong>und</strong> Kinder übernehmen, könnte keine<br />

Gesellschaft überleben. „Das Freiheitsrecht<br />

gewährt <strong>hier</strong> nicht Freiheit vom<br />

Staat oder vom Einfluß anderer, sondern<br />

Freiheit durch andere, es ereignet sich<br />

nur in der Verantwortlichkeit oder rechtlichen<br />

Ve rpflichtungen Dritter.“ (S. 17)<br />

Bereits an diesem Punkt deutet sich an,<br />

daß der Staat von Voraussetzungen lebt,<br />

die er selbst nicht garantieren kann: Er<br />

ist auf die Freiheitsbereitschaft <strong>und</strong><br />

Demokratiewilligkeit seiner Bürger, die<br />

sich in Familie, Vereinen, Verbänden<br />

usw. engagieren, angewiesen, ohne dies<br />

erzwingen zu können, weil dies gegen<br />

die verfassungsmäßig garantierte Freiheit<br />

<strong>und</strong> die staatliche Neutralität in<br />

weltanschaulichen Fragen verstieße.<br />

Doch das kann nicht heißen, daß der<br />

Staat sich nicht um diese Voraussetzungen<br />

seiner selbst zu kümmern bräuchte.<br />

Vielmehr muß er – wie Verf. sehr eingängig<br />

herausarbeitet – Sorge dafür<br />

tragen, daß ein ethische F<strong>und</strong>ament<br />

wachsen <strong>und</strong> sich festigen kann. Insofern<br />

<strong>hier</strong> den Religionen <strong>und</strong> den Kirchen<br />

eine maßgebliche Rolle zukommt,<br />

muß der Staat auch sie im Blick haben,<br />

denn Religion ist „freiheitserheblich“ (S.<br />

39).<br />

Indem der Staat der Religion <strong>und</strong> den<br />

Kirchen Freiheitsräume zur Entfaltung<br />

in der Gesellschaft sichert, ohne <strong>hier</strong><br />

selbst Inhalte vorzugeben, erweist er<br />

sich <strong>als</strong> Garant seiner Freiheitsvoraussetzungen.<br />

Doch über den nationalen<br />

Rahmen hinaus sind diese Überlegungen<br />

auch im größeren, europäischen Kontext<br />

relevant, wie die Diskussion um den<br />

Gottesbezug in der Präambel der Europäischen<br />

Verfassung deutlich macht.<br />

Identität findet Europa <strong>als</strong> freiheitliche<br />

Gemeinschaft nur, wenn der christliche<br />

Gedanke der Menschenwürde nicht <strong>als</strong><br />

Sondergut ohne Mehrheitsfähigkeit<br />

deklariert wird.<br />

Der Staat ist Rechtsstaat. Erst durch die<br />

Einbettung in die Rechtsgemeinschaft<br />

<strong>und</strong> den Schutz durch die Staatsorgane<br />

werden die vorstaatlichen Freiheitsrechte<br />

des Individuums auch verbindlich <strong>und</strong><br />

einklagbar. Doch das allein trägt keine<br />

Gesellschaft, da liberale Freiheitsrechte<br />

noch keine Teilhabe garantieren. So hat<br />

der Mensch auch „Anspruch darauf,<br />

nicht existentiell <strong>und</strong> kulturell zu verhungern“<br />

(S. 71). So muß neben den<br />

Rechtsstaat, der den Menschen in seiner<br />

Freiheit sieht, der Sozi<strong>als</strong>taat treten, der<br />

auch die Hilfsbedürftigen nicht übersieht.<br />

Geld spielt <strong>hier</strong> eine entscheidende<br />

Rolle: Es ist nicht nur die ökonomische<br />

Basis individueller Freiheit, sondern<br />

auch das wichtigste Handlungsmittel des<br />

Staates. Dieses Handlungsmittel gewinnt<br />

der Staat durch Steuern, wobei allerdings<br />

unbedingt zu beachten ist, daß<br />

nicht blindlings die bloße Leistungsfähigkeit<br />

besteuert wird, sondern deren<br />

78


Zuwachs, den der Staat erst durch die<br />

von ihm geordnete <strong>und</strong> garantierte<br />

Rechts - <strong>und</strong> Marktgemeinschaft ermö g-<br />

licht. Wer von Letzteren profitiert, hat<br />

durch seine Steuern zu deren Erhalt<br />

beizutragen. Als ausgewiesener Steuerexperte<br />

warnt Kirchhof davor, Steuern<br />

<strong>als</strong> politisches Lenkungsinstrument zu<br />

mißbrauchen, das nur dazu führt, Kapitelströme<br />

fehlzulenken <strong>und</strong> damit die<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Steuern schwächt.<br />

Die Relevanz der Überlegungen Kirchhofs<br />

sind mehr <strong>als</strong> evident. Sein Buch<br />

zeichnet zudem aus, daß es in nachahmenswert<br />

prägnanter Weise zugleich die<br />

Problematik darlegt <strong>und</strong> Lösungsansätze<br />

aufweist. Der gut lesbare Band bietet<br />

dem Leser hilfreiche Orientierungen in<br />

einer komplexen Fragestellung, indem<br />

Verf. zu den einzelnen Problemfeldern<br />

zunächst die Gr<strong>und</strong>lagen darlegt, um<br />

darauf aufbauend aufzuzeigen, worin die<br />

im Titel angesprochene „Erneuerungsaufgabe“<br />

des Staates besteht. Kurzum:<br />

eine Pflichtlektüre für jeden interessierten<br />

Bürger – für den Sozialethiker zumal.<br />

Alexander Saberschinsky<br />

Wirtschaftsethik<br />

Das vorliegende Buch enthält eine Reihe<br />

einschlägiger Publikationen aus dem<br />

langjährigen Wirken des Finanz- <strong>und</strong><br />

Währungspolitikers Wolfgang Schmitz,<br />

dessen besonderes Interesse den Fragen<br />

der Wirtschaftsethik <strong>und</strong> besonders der<br />

Ordnungsethik gehört.<br />

Wolfgang Schmitz, Wirtschaftsethik<br />

<strong>als</strong> Ordnungsethik – In ihrem Anspruch<br />

an Sozial -, Konjunktur- <strong>und</strong><br />

Währungspolitik, hrsg. von J. Hanns<br />

Pichler <strong>und</strong> Stefan W. Schmitz, Berlin<br />

(Duncker <strong>und</strong> Humblot) 2004, 301 S.<br />

Unter dem Einfluß von Johannes Messner<br />

geht Schmitz dabei von den existentiellen<br />

Zwecken des Menschen aus:<br />

Dieser könne seine Lebensaufgaben nur<br />

in einer Gesellschaft verwirklichen, die<br />

durch eine funktionsfähige Wirtschafts -<br />

<strong>und</strong> Sozialordnung gekennzeichnet ist.<br />

In diesem Sinn weist die Ordnungsethik<br />

jene Wege, die für die maßgebenden<br />

Institutionen wie Regierung, Parlament,<br />

Notenbank, Parteien <strong>und</strong> Verbände sich<br />

aus ethischer, ökonomischer <strong>und</strong> politischer<br />

Einsicht <strong>und</strong> Sachkenntnis erg e-<br />

ben. Am Beispiel der sozialen Gerechtigkeit,<br />

in den Fragen der sozialen Funktion<br />

des Wettbewerbs, in der Familienpolitik,<br />

der Konjunktur- <strong>und</strong> Budgetpolitik<br />

<strong>und</strong> im besonderen im Bereich der<br />

Währungspolitik konfrontiert Schmitz<br />

die ethischen Herausforderungen mit<br />

den gegebenen ökonomischen <strong>und</strong> sozialen<br />

Fakten. Die Währungsethik (über<br />

die Schmitz auch an den Universitäten<br />

Wien <strong>und</strong> Innsbruck gelehrt hat) ist für<br />

ihn eine tragende Säule der Wirtschaftsethik<br />

. Besondere Kenntnisse <strong>und</strong> Erfahrungen<br />

weist Schmitz in der internationalen<br />

Währungspolitik auf.<br />

Für die Währungspolitik <strong>und</strong> Währungsethik<br />

hat Schmitz neue Akzente gesetzt<br />

<strong>und</strong> sich auch im internationalen Bereich<br />

vielfach betätigt. Der Autor analysiert<br />

auch die Währungspolitik einzelner<br />

Staaten: So stellt er am Beispiel<br />

Deutschlands dessen deutliche Unabhängigkeit<br />

der Notenbank <strong>und</strong> das<br />

Staatsfinanzierungsverbot heraus. Aus<br />

seiner großen Erfahrung <strong>und</strong> seiner<br />

umfassenden Kenntnisse in der Währungspolitik<br />

<strong>und</strong> Währungsethik sind die<br />

Beiträge des Autors zur rechtlichen <strong>und</strong><br />

zur verfassungsrechtlichen Absicherung<br />

der Währung von besonderer Bedeutung<br />

<strong>und</strong> Aktualität. Aus währungsethischer<br />

Sicht nimmt die Frage der Stabilität des<br />

Geldwertes bei Schmitz einen hervorragenden<br />

Rang ein. Das Buch zeigt die<br />

Früchte einer vierzigjährigen wissenschaftlichen<br />

Arbeit (wobei nur ein kleiner<br />

Teil der Publikationen des Autors<br />

79


erücksichtigt werden konnte), <strong>und</strong> ist<br />

auch ein Beispiel für die Bedeutung des<br />

Zusammenhanges von Theorie <strong>und</strong><br />

Praxis: Der ehemalige österreichische<br />

Finanzminister <strong>und</strong> Notenbankpräsident<br />

Wolfgang Schmitz hat in einem vielseitigen<br />

Leben es immer verstanden, Theorie<br />

<strong>und</strong> Praxis <strong>als</strong> Einheit zu sehen. So<br />

gewinnen seine Erkenntnisse einen<br />

besonderen Wert.<br />

Alfred Klose<br />

Familienunternehmen<br />

Von der Familie Thyssen geht bis heute<br />

besondere Faszination aus. Der unternehmerischen<br />

Erfolgsgeschichte <strong>und</strong><br />

einem vorbildlichen sozialen Engagement<br />

stehen tragische Biographien mit<br />

schwerer Krankheit, krisengeschütteltem<br />

Familienleben sowie politischem Versagen<br />

gegenüber. Stephan Wegener, Urenkel<br />

von Joseph Thyssen, hat es unternommen,<br />

die 1991 veröffentlichte<br />

Werks - <strong>und</strong> Firmengeschichte von Lutz<br />

Hatzfeld <strong>und</strong> Horst A. Wessel: „Thyssen<br />

& Co. Geschichte einer Familie <strong>und</strong><br />

ihrer Unternehmung“ durch eine neuere<br />

Darstellung mit fast gleichlautendem<br />

Untertitel fortzuschreiben.<br />

Stephan Wegener (Hrsg.): August<br />

<strong>und</strong> Joseph Thyssen. Die Familie <strong>und</strong><br />

ihre Unternehmen, Essen 2004, 320 S.<br />

Dabei werden neue Dokumente <strong>und</strong><br />

Forschungsbef<strong>und</strong>e verarbeitet <strong>und</strong><br />

zugleich eine Akzentverlagerung zur<br />

Familiengeschichte hin vorgenommen,<br />

wie es schon der personalisierte Titel<br />

zum Ausdruck bringt. Wegener, in der<br />

Freiburger Bergsträsser-Schule promovierter<br />

Politologe <strong>und</strong> Soziologe, O-<br />

berndörfer-Assistent <strong>und</strong> Mitarbeiter<br />

des Internationalen Instituts der Konrad-<br />

Adenauer-Stiftung (bis 1984), trägt denn<br />

auch den umfangreichsten Teil zu dem<br />

von ihm herausgegebenen Sammelband<br />

bei. Souverän führt sein Beitrag schriftliche<br />

Hinterlassenschaften <strong>und</strong> mündliche<br />

Überlieferungen zu einem anschaulichen<br />

Bild zusammen, wobei es trotz<br />

familiärer Nähe nie an wissenschaftlicher<br />

Distanz mangelt. Ein eigenes Kapitel<br />

behandelt die sozialen <strong>und</strong> kirchlichen<br />

Aktivitäten der Thyssens <strong>als</strong> „rheinisch-katholische<br />

Familie, die zu ihrem<br />

Glauben <strong>und</strong> ihrer Kirche stand“ (150).<br />

Politisch hellsichtig schrieb Jula Thyssen<br />

am 1. August 1933 an ihren geistlichen<br />

Begleiter Abt Ildefonds Herwegen:<br />

„Wird nicht durch die Förd erung der<br />

neuen Bewegung auch ganz Unchristliches<br />

unterstützt, z. B. in der Verfolgung<br />

oder Lieblosigkeit in der Judenfrage, -<br />

oder etwa durch Befehl der Blutrache<br />

bei der SS (...) Ich fürchte, die Religion<br />

soll <strong>hier</strong> Dienerin werden, nicht Gott<br />

dienen, sondern dem Staat“ (157). Der<br />

„politische Wirrkopf“ (H. Brüning) Fritz<br />

Thyssen hingegen mußte seine späte<br />

Einsicht in den Charakter des NS-<br />

Regimes durch einen Leidensweg teuer<br />

bezahlen. Sein offener, in der Auslandspresse<br />

veröffentlichter Protestbrief an<br />

Göring gegen der Anzettelung des Krieges<br />

verdient <strong>als</strong> singuläres Ve rhalten<br />

dennoch höchste Anerkennung.<br />

Manfred Rasch schildert in straffer <strong>und</strong><br />

allgemeinverständlicher Form die Geschichte<br />

der Konzernunternehmungen<br />

seit dem Tode von August Thyssen<br />

(1926). Einleitend leuchten der Historiker<br />

<strong>und</strong> Leiter des Stadtarchivs Mülheim,<br />

Dr. Kurt Ortmanns, <strong>und</strong> Horst<br />

Wessel, Leiter des Mannesmann-Archivs<br />

<strong>und</strong> Professor an der Universität Düsseldorf,<br />

den sozialgeschichtlichen Hintergr<strong>und</strong><br />

der zweiten Hälfte des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts aus. Zahlreiche Fotos <strong>und</strong><br />

Abbildungen, ein übersichtlicher Familienstammbaum<br />

<strong>und</strong> ein umfangreiches<br />

Personenregister dienen der Lesbarkeit<br />

auch für den Nichtfachmann.<br />

Andreas Püttmann<br />

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