Katharina Hacker - KLG
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Romans „Eine Art Liebe“ (2003). Das Handlungsgerüst entstammt einem autobiografischen Essay<br />
Saul Friedländers. Friedländer ist <strong>Hacker</strong>s Buch auch gewidmet.<br />
Der Jerusalemer Anwalt Moshe Fein hat eine Geschichte zu vergeben, die Geschichte seines<br />
Freunds Jean, die auch seine eigene Lebensgeschichte ist. Die deutsche Studentin Sophie, die eine<br />
Zeit lang in Tel Aviv lebt, soll sie aufschreiben. Der Roman ist die Geschichte des<br />
Schreibprozesses, von Sophie erzählt, und gleichzeitig die Geschichte einer vorsichtigen, zarten und<br />
platonischen Beziehung zwischen der jungen deutschen Frau und dem alternden Juden: eben „eine<br />
Art Liebe“.<br />
Die Eltern Moshes waren 1938 aus Berlin nach Frankreich geflohen und hatten ihren damals<br />
achtjährigen Sohn in einem katholischen Internat in Sicherheit gebracht, einer christlichen Taufe<br />
zugestimmt und sich verpflichtet, ihn katholisch erziehen zu lassen. Dann hatten sie versucht, die<br />
Schweizer Grenze zu erreichen, waren aber von schweizerischen Grenzbeamten abgefangen und an<br />
die Gestapo ausgeliefert worden. Sie kehrten nie zurück. Der Sohn, zurückgelassen im Internat,<br />
findet dort einen Freund, Jean, Sohn eines Vichy-Kollaborateurs. Die beiden verlassenen Jungen<br />
freunden sich an, und Jean schenkt Moshe seinen Namen: Jean-Marie.<br />
Als der Krieg zu Ende ist, geht Jean in ein Trappistenkloster, aber Jean-Marie findet zu einer<br />
jüdischen Identität, die er früher nie kannte, und wandert als Zionist nach Israel aus. Die<br />
lebenslange Beziehung der beiden Männer wird von einem Verrat überschattet: Jean hatte damals<br />
seinem Vater den wahren Namen des Freundes genannt und fühlt sich schuldig, damit die<br />
Auslieferung der Eltern verursacht zu haben. Als alternder Mann verliert er seinen Glauben an Gott,<br />
verlässt das Kloster und wird schließlich in einem Berliner Nachtclub tot aufgefunden.<br />
Dies ist nicht Sophies Geschichte, sie kann die Gefühle und Empfindungen, die diese dramatische<br />
Freundschaftsgeschichte ausgelöst hat, nur nachzuempfinden versuchen. Immer wieder setzt sie neu<br />
an, gestützt auf Gesprächsfetzen, auf Zettel, die Moshe ihr schreibt oder zusteckt, die lange in ihrer<br />
Wohnung liegen bleiben, ehe sie sie nutzt. Gleichzeitig lebt sie ihr eigenes Leben, verfällt dem<br />
Zauber Jerusalems und Tel Avivs, hat eine Liebesaffäre mit einem hübschen, aber nie ganz<br />
durchschaubaren jungen Israeli, kehrt schließlich nach Berlin zurück, zu Sebastian, ihrer großen<br />
Liebe, zu ihrem „eigentlichen Leben“. Sie erkennt, dass Moshe Recht gehabt hatte: Für sie war der<br />
Aufenthalt in Israel nur ein Zwischenspiel, auch wenn sie gehofft hatte, sich endgültig dort<br />
einzurichten. Für Moshe aber ist das Zwischenspiel schließlich zu seinem Leben geworden, die<br />
Erinnerung zerfließt ihm in den Händen: „Um uns, die wir nicht unterscheiden können zwischen<br />
Hauptstück und Zwischenspiel, tauchen wie zum Spott Leute auf, als wären sie Erinnerungen, und<br />
die Erinnerungen tauchen auf, als wären sie Menschen. Vielleicht gibt es Zusammenhänge,<br />
vielleicht auch nur Täuschungen, vielleicht wachen wir mit leeren Händen auf.“<br />
Davon, wie dieses Chaos, dieses zerstörte Leben, diese zerstörten Beziehungen zu einer Geschichte<br />
werden können, handelt der Roman. Wie kann man schreiben über eine fremde Erinnerung?<br />
„Moshe wollte“, sagt Sophie, „dass ich erfinde, was er nicht wusste; dass ich erfinde, woran er sich<br />
erinnerte.“ Am Ende ist sich Sophie nicht sicher, ob es ihr gelungen ist. „‚Es ist nicht, was du dir<br />
vorgestellt hast‘, sage ich Moshe und gebe ihm das Manuskript, ‚nicht einmal, was ich mir<br />
vorgestellt habe.‘ ‚Ich habe mir nichts vorgestellt‘, antwortete Moshe, ‚es ist deine Geschichte, ich<br />
habe sie dir geschenkt.‘“<br />
Die bedrohte Gegenwart ist gleichzeitig immer präsent. Es ist die Zeit des Golfkriegs. Jerusalem<br />
bietet nicht nur Zauber, seine eigene melancholische Schönheit, man muss auch die Gespräche<br />
unterbrechen und sich mit Gasmasken ins verdunkelte Schlafzimmer setzen, „die Gesichter mit den<br />
schwarzen Rüsseln gegen die weiße Wand gekehrt“. Und in Tel Aviv gehen Bomben hoch, im<br />
Radio werden die Namen der Toten durchgegeben, und Orthodoxe sammeln Blut und menschliche<br />
Fleischstücke von der Straße auf. Aber so wie Moshe die tödliche Bedrohung des<br />
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