Paratexte in der englischen Erzählprosa des 18. Jahrhunderts

Paratexte in der englischen Erzählprosa des 18. Jahrhunderts Paratexte in der englischen Erzählprosa des 18. Jahrhunderts

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KAPITEL 5 TRISTRAM SHANDY (1759–67) 5.7 DIE ANMERKUNGEN die Entstehung des Werks (vgl. Vorwortfunktionen) beinhalten. Gerade die Einbeziehung von fiktivem und authentischem (fremdsprachlichem) Quellenmaterial, das formal in der (pseudo–)extratextuell vorgeformten Gestalt integriert wird, macht die Textualität, die Schriftlichkeit des Mediums 50 als Basis der erzählerischen Autorität besonders bewußt und steigert gleichzeitig die Parodie auf gelehrte Schriften. 51 Offenbar gibt es in Tristram Shandy zumindest zwei verschiedene Arten von Fußnoten. Elizabeth M. Wendell 52 unterscheidet sogar drei verschiedene Arten von Anmerkungen, die sie als ” direkte Kommunikation“ zwischen implizitem Autor und dem jeweiligen Rollenleser auffaßt. Die Fußnoten haben also die Funktion, ” den Einbruch von Werkexternem literarisch vorgeformtem Literaturgut in den Vermittlungsvorgang einzubringen“ 53 . Die Fußnoten unterscheiden sich wieder durch den Bezug auf verschiedene Erzählinstanzen. Es ist zu unterscheiden zwischen: 1. Fußnoten, die keinen namentlichen Bezug auf eine Erzählinstanz besitzen, also offensichtlich vom Autor/Akteur Tristram stammen und daher fiktiv auktorial/aktorial sind, d. h. unmittelbarer Ausdruck einer Beziehung zwischen Autorinstanz (Erzähler und Kommentator) und dem Leser: z. B. I, xx “Vide Deventer. . . ” (S. 49), Band IV Anmerkung zu “SLAWKENBERGII / Fabella.” (S. 196) oder Zitatanmerkungen wie in V, xxviii (S. 309). 2. Fußnoten, die von einer dem Leser vorgeschalteten, anonymen Rezeptionsinstanz stammen: in Kapitel II, xix (S. 119) wird der Autor/Erzähler mit “the author” tituliert und es werden zweimal eigentlich absurde Fehler berichtigt. 54 Die Fußnoten führen hier nach Elizabeth M. Wendell einen ” gestaltenden impliziten Leser“ (eher aber wohl einen differenzierbaren zweiten Erzähler auf einer Metaebene) ein, der eine Identifikation mit einem mehrwissenden, außerdiegetischen ” Herausgeber“ (allographe Anmerkung) fördert und sowohl vom Erzähler als auch vom Autor differenziert werden muß. Der Leser wird in die Perspektive dieses Rezipienten gedrängt. Gleichzeitig schränken diese Kommentare, für die Tristram also nicht verantwortlich ist, jedoch seine, als retrospektiver Ich–Erzähler zur Schau gestellte Allwissenheit ein (Hinweis auf einen unreliable narrator). Der Leser soll sich mit diesem rezeptiven Verfasser mock serious use of learned footnotes is a favourite device, and even, at times, an anonymous editor makes his appearance, calling attention to the errors of Tristram”. In [53] Stedmond, S. 18f. 50 Vgl. [13] Benstock, S. 208. 51 Vgl. auch Abschnitt 5.8 (S. 97). 52 Vgl. für den folgenden Abriß auch [55] Wendell, S. 61–67. 53 In [55] Wendell, S. 61. 54 Genette verweist darauf, daß in Tristram Shandy der reale Autor Laurence Sterne den Erzähler Tristram Shandy korrigieren würde (vgl. [28] Genette, S. 320). Dies stellt aber lediglich eine Möglichkeit aus ahistorischer Perspektive dar, wenn, nach Genette, also Sterne sozusagen als Herausgeber“ des Manuskripts von Tristram Shandy des unterschobenen Autors Tristram Shandy ” fungiert. Vor dem Hintergrund der Polyphonität des Romans und der Poly(pseud)onymität der Autorinstanz ist die kategorische Trennung in fiktiv aktoriale Anmerkungen Tristrams, etwa die über seinen Vater (vgl. Anm. zu Kapitel V, xii [S. 295] oder VIII, xxvi [S. 467]) und solche, die als fiktiv auktorial/aktorial bezeichnet wurden, Genette jedoch eindeutig Sterne zuweist (vgl. [28] Genette, S. 326), aus differenzierter Sicht nicht zweifelsfrei möglich. 95

KAPITEL 5 TRISTRAM SHANDY (1759–67) 5.7 DIE ANMERKUNGEN der Fußnote, der sogar Einblick in das Erzählerbewußtsein hat, identifizieren und jenseits der Erzählung Sinn konstituieren. 55 Die Fußnote erhält somit die paratextuelle Funktion, das Rezeptionsverhalten des postulierten Rollenlesers zu steuern. Weitere Beispiele hierfür sind Kapitel V, xxvi (S. 306), VIII, xxviii (S. 468) und IX, xxvi (S. 528). Das dritte Beispiel von Elizabeth M. Wendell ist die Anmerkung zum Brief in Kapitel I, xx (S. 48), das den Übergang von Text zu Paratext und wieder zurück verdeutlicht: der Text wird in einer Anmerkung erläutert, die wiederum im Text des Briefs fortgesetzt wird. Dieser Fall wurde unter Punkt 1 als vom Autor/Erzähler stammende Fußnote eingeordnet und stellt ein besonders interessantes Beispiel für die Schwelle dar, die Anmerkungen zwischen Text und Rand des Texts konstituieren und die hier gleichzeitig, zumal viele Fußnoten selbst wieder äußerst digressiv sind, wieder verwischt wird. Bei der oben erwähnten Anmerkung (S. 49) handelt es sich um eine nachträgliche, defensive Anmerkung, die wegen verschiedener Angriffe, der zitierte Text sei frei erfunden o. ä., eingefügt wurde. Später nimmt der Autor auf diesen Fall Bezug. So verweist vermutlich erneut die fiktive Herausgeberinstanz in einer originalen Anmerkung (bei Veröffentlichung der Bände III und IV) zu der “EXCOMMUNICATIO.” (nach Kapitel III, x) explizit auf die Authentizität des zitierten Dokuments: As the genuineness of the consultation of the Sorbonne upon the question of baptism, was doubted by some, and denied by others,—’twas thought proper to print the original of this excommunication; for the copy of which Mr. Shandy returns thanks to the chapter clerk of the dean and chapter of Rochester. [S. 136] 56 Auch bei diesen Paratexten herrscht also erneut Verwirrung über den Adressanten und somit ein Rezeptionserschwernis, das Genettes Paratext–Konzept gerade verkehrt. Die Fußnote dient v. a. der Parodie auf gelehrte Schriften, der Satire und Schaffung von Ironie, indem die Form der Fußnote selbst zwar erhalten bleibt (und so den Leser irreführt), ihre Funktion als traditionell autoritätserzeugender, marginaler und auxiliarer Paratext aber spielerisch infragegestellt wird. Sie dienen weniger der Sinnkonstitution in Form wirklicher Rezeptionshilfen in den genannten Passagen, die aber durchaus, wie schon bei Swift, der Erklärung bedürften, sondern machen den transitorischen Schwellenbereich“ zwischen Text und Paratext als eine hier ” unbestimmte Zone“ der Transaktion zwischen beiden besonders deutlich. ” 55 Vgl. Shari Benstock: “The footnotes thus remind the reader of the narrative boundaries of the fiction by setting up new boundaries that include the the first–person narrator (aware of his relationship with the reader [footnotes of type 1, Anmerkungen d. Verf.]) and a commentator (writer of the notes and aware of his relationship with the reader), who corrects the narrator and the author while collaborating with both [footnotes of type 2].” In [13] Benstock, S. 207. 56 Vgl. auch Band IV, Anm. zu “SLAWKENBERGII / Fabella.” (S. 204). 96

KAPITEL 5 TRISTRAM SHANDY (1759–67)<br />

5.7 DIE ANMERKUNGEN<br />

<strong>der</strong> Fußnote, <strong>der</strong> sogar E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> das Erzählerbewußtse<strong>in</strong> hat, identifizieren<br />

und jenseits <strong>der</strong> Erzählung S<strong>in</strong>n konstituieren. 55 Die Fußnote erhält somit die<br />

paratextuelle Funktion, das Rezeptionsverhalten <strong>des</strong> postulierten Rollenlesers<br />

zu steuern. Weitere Beispiele hierfür s<strong>in</strong>d Kapitel V, xxvi (S. 306), VIII,<br />

xxviii (S. 468) und IX, xxvi (S. 528).<br />

Das dritte Beispiel von Elizabeth M. Wendell ist die Anmerkung zum Brief <strong>in</strong> Kapitel<br />

I, xx (S. 48), das den Übergang von Text zu Paratext und wie<strong>der</strong> zurück<br />

verdeutlicht: <strong>der</strong> Text wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Anmerkung erläutert, die wie<strong>der</strong>um im Text <strong>des</strong><br />

Briefs fortgesetzt wird. Dieser Fall wurde unter Punkt 1 als vom Autor/Erzähler<br />

stammende Fußnote e<strong>in</strong>geordnet und stellt e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong>teressantes Beispiel für<br />

die Schwelle dar, die Anmerkungen zwischen Text und Rand <strong>des</strong> Texts konstituieren<br />

und die hier gleichzeitig, zumal viele Fußnoten selbst wie<strong>der</strong> äußerst digressiv s<strong>in</strong>d,<br />

wie<strong>der</strong> verwischt wird.<br />

Bei <strong>der</strong> oben erwähnten Anmerkung (S. 49) handelt es sich um e<strong>in</strong>e nachträgliche,<br />

defensive Anmerkung, die wegen verschiedener Angriffe, <strong>der</strong> zitierte Text sei frei<br />

erfunden o. ä., e<strong>in</strong>gefügt wurde. Später nimmt <strong>der</strong> Autor auf diesen Fall Bezug. So<br />

verweist vermutlich erneut die fiktive Herausgeber<strong>in</strong>stanz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er orig<strong>in</strong>alen Anmerkung<br />

(bei Veröffentlichung <strong>der</strong> Bände III und IV) zu <strong>der</strong> “EXCOMMUNICATIO.”<br />

(nach Kapitel III, x) explizit auf die Authentizität <strong>des</strong> zitierten Dokuments:<br />

As the genu<strong>in</strong>eness of the consultation of the Sorbonne upon the question of<br />

baptism, was doubted by some, and denied by others,—’twas thought proper<br />

to pr<strong>in</strong>t the orig<strong>in</strong>al of this excommunication; for the copy of which Mr. Shandy<br />

returns thanks to the chapter clerk of the dean and chapter of Rochester.<br />

[S. 136] 56<br />

Auch bei diesen <strong>Paratexte</strong>n herrscht also erneut Verwirrung über den Adressanten<br />

und somit e<strong>in</strong> Rezeptionserschwernis, das Genettes Paratext–Konzept gerade<br />

verkehrt. Die Fußnote dient v. a. <strong>der</strong> Parodie auf gelehrte Schriften, <strong>der</strong> Satire und<br />

Schaffung von Ironie, <strong>in</strong>dem die Form <strong>der</strong> Fußnote selbst zwar erhalten bleibt (und so<br />

den Leser irreführt), ihre Funktion als traditionell autoritätserzeugen<strong>der</strong>, marg<strong>in</strong>aler<br />

und auxiliarer Paratext aber spielerisch <strong>in</strong>fragegestellt wird. Sie dienen weniger <strong>der</strong><br />

S<strong>in</strong>nkonstitution <strong>in</strong> Form wirklicher Rezeptionshilfen <strong>in</strong> den genannten Passagen,<br />

die aber durchaus, wie schon bei Swift, <strong>der</strong> Erklärung bedürften, son<strong>der</strong>n machen<br />

den transitorischen Schwellenbereich“ zwischen Text und Paratext als e<strong>in</strong>e hier<br />

”<br />

unbestimmte Zone“ <strong>der</strong> Transaktion zwischen beiden beson<strong>der</strong>s deutlich.<br />

”<br />

55 Vgl. Shari Benstock: “The footnotes thus rem<strong>in</strong>d the rea<strong>der</strong> of the narrative boundaries of<br />

the fiction by sett<strong>in</strong>g up new boundaries that <strong>in</strong>clude the the first–person narrator (aware of<br />

his relationship with the rea<strong>der</strong> [footnotes of type 1, Anmerkungen d. Verf.]) and a commentator<br />

(writer of the notes and aware of his relationship with the rea<strong>der</strong>), who corrects the narrator and<br />

the author while collaborat<strong>in</strong>g with both [footnotes of type 2].” In [13] Benstock, S. 207.<br />

56 Vgl. auch Band IV, Anm. zu “SLAWKENBERGII / Fabella.” (S. 204).<br />

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