28.12.2013 Aufrufe

Paratexte in der englischen Erzählprosa des 18. Jahrhunderts

Paratexte in der englischen Erzählprosa des 18. Jahrhunderts

Paratexte in der englischen Erzählprosa des 18. Jahrhunderts

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

KAPITEL 5 TRISTRAM SHANDY (1759–67)<br />

5.3 DAS TITELBLATT<br />

la <strong>des</strong> stoischen Philosophen Epiktet, <strong>der</strong> im Kontext dieser Stelle for<strong>der</strong>t, daß die<br />

Menschen ihre Verwun<strong>der</strong>ung und ihren Ärger über D<strong>in</strong>ge als Resultat ihrer vorgefaßten<br />

Me<strong>in</strong>ungen (Dogmen), nicht an<strong>der</strong>en zur Last legen sollten, hier also dem<br />

Autor, son<strong>der</strong>n bei sich selbst suchen und verantworten müssen. Das Motto be<strong>in</strong>haltet<br />

somit bereits e<strong>in</strong>en wichtigen verschlüsselten erklärenden Kommentar zum Titel<br />

(rationale Vorbereitung), <strong>des</strong>sen Bedeutung sich jedoch erst nach <strong>der</strong> Lektüre <strong>des</strong><br />

Texts erschließt.<br />

Begreift man das Motto als H<strong>in</strong>weis darauf, daß nicht e<strong>in</strong>e Autobiographie wie<br />

Tristram Shandy die Menschen beunruhigen sollte, son<strong>der</strong>n daß sich die Leser durch<br />

ihre vorgefaßten Me<strong>in</strong>ungen über die Beschaffenheit e<strong>in</strong>er Autobiographie selbst <strong>in</strong><br />

Schwierigkeiten bei <strong>der</strong> Rezeption br<strong>in</strong>gen, betrachtet man also das Motto als Anhaltspunkt<br />

für das durch den Text explizierte Verständnis e<strong>in</strong>er Autobiographie und<br />

bereits als Teil <strong>der</strong> “Op<strong>in</strong>ions” von Tristram Shandy, so sche<strong>in</strong>t die Hauptfunktion<br />

dieses ”<br />

Motto–Effekts“ zu se<strong>in</strong>, den Verbund aus Titel, Motto und Text gegen die<br />

erwarteten Kritiker dieses ungewöhnlichen Konzepts e<strong>in</strong>er allumfassenden Autobiographie<br />

zu verteidigen. 18 E<strong>in</strong>erseits dient <strong>der</strong> zitierte Autor Epiktet als <strong>in</strong>direkter<br />

ästhetischer und moralischer Bürge für den so spezifizierten Titel und Text, an<strong>der</strong>erseits<br />

reiht sich <strong>der</strong> Zitierende als Adressant gleichzeitig <strong>in</strong> die ”<br />

Ahnenreihe“ <strong>der</strong><br />

gelehrten Autoritäten e<strong>in</strong>, die e<strong>in</strong>e wichtige Rolle im Text spielen werden.<br />

Dabei übernimmt das Motto auch hier also bereits e<strong>in</strong>e wichtige B<strong>in</strong>defunktion<br />

für Titelapparat und Text: zum e<strong>in</strong>en wird <strong>der</strong> (aus retrospektiver Sicht) Schlüsselbegriff<br />

<strong>des</strong> Titels (“Op<strong>in</strong>ions”) für den nachfolgenden Text erschlossen, zum an<strong>der</strong>en<br />

übernimmt das Motto e<strong>in</strong>e wichtige Vorwortfunktion ( ”<br />

funktionale Nähe“), <strong>in</strong>dem<br />

es auf die zu erwartende ungewöhnliche Form <strong>der</strong> Autobiographie vorausweist. 19<br />

Tristrams Autobiographie–Konzeption e<strong>in</strong>er, se<strong>in</strong>er Spielwelt angepaßten Subjektivität<br />

ist dabei letztendlich nur das Resultat se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>sicht, daß e<strong>in</strong>e objektive,<br />

die Darstellung <strong>des</strong> Dargestellten <strong>in</strong> den H<strong>in</strong>tergrund drängende Konzeption, die<br />

vortäuscht, es gäbe das Romangeschehen auch quasi unabhängig vom Erzähler, nicht<br />

se<strong>in</strong>er Erfahrung entspricht: ”<br />

Grund e<strong>in</strong>er solchen Haltung ist Tristrams E<strong>in</strong>sicht,<br />

daß wir das Leben nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er medialen Brechung haben können und das heißt<br />

– wie schon <strong>in</strong> Titel und Motto <strong>des</strong> Romans angedeutet – <strong>in</strong> “the op<strong>in</strong>ions which<br />

floated <strong>in</strong> the bra<strong>in</strong>s of other people [concern<strong>in</strong>g it]” [S. 20]“ 20<br />

18 Vgl. Rothe: ”<br />

Es gibt aber auch Titel, auf <strong>der</strong>en Kommentierungsbedürftigkeit überhaupt erst<br />

das Motto aufmerksam macht. The Life and Op<strong>in</strong>ions of Tristram Shandy, Gentleman von Sterne<br />

ist so e<strong>in</strong>er. An diejenigen <strong>des</strong> Schelmenromans anknüpfend, weckt er recht präzise Erwartungen.<br />

Erst durch das Epiktet–Zitat wird man [. . . ] e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en belehrt: ≪Nicht die Handlungen verwirren<br />

die Menschen, son<strong>der</strong>n die Me<strong>in</strong>ungen darüber≫. Während im Titel Op<strong>in</strong>ions erst an zweiter<br />

Stelle steht, legt das Motto nahe, daß gerade von ihnen die zu erwartenden Probleme ausgehen<br />

und nicht von den zugrundeliegenden Fakten. Damit gibt das Motto ausnahmsweise Auskunft<br />

auch über die Erzählsituation: mehrere Me<strong>in</strong>ungen werden aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stoßen, die Perspektive <strong>des</strong><br />

Titelhelden dürfte brüchig, das Ende könnte offen se<strong>in</strong>.“ In [48] Rothe, S. 362.<br />

19 E<strong>in</strong>e ähnliche qualitative Interpretation liefert auch die Bildunterschrift ”<br />

Splendide Mendax“<br />

unter dem verme<strong>in</strong>tlichen Porträt Gullivers gegenüber <strong>der</strong> Titelseite von Gulliver’s Travels <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Gesamtausgabe von Swifts Werken von 1735.<br />

20 In [31] Iser, S. 141.<br />

84

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!