Paratexte in der englischen Erzählprosa des 18. Jahrhunderts

Paratexte in der englischen Erzählprosa des 18. Jahrhunderts Paratexte in der englischen Erzählprosa des 18. Jahrhunderts

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Kapitel 5 Auflösung der Konzepte des Paratexts: Laurence Sternes Tristram Shandy (1759–67) Laurence Sternes Tristram Shandy war bei Erscheinen eine literarische Sensation. Die weithin angestrebte konventionelle Perfektionierung der Gattung Roman wurde von dem offensichtlich von A Tale of a Tub beeinflußten Werk nicht nur satirisiert, sondern gänzlich hinterfragt. Der Roman weicht nicht nur von den Konventionen der fiktionalen Autobiographie, sondern v. a. auch von der traditionellen Verwendung des Paratexts ab und liefert dadurch ein sehr komplexes Beispiel für die Innovationsleistung dieses Werks in seiner Zeit. Die These, die Bernhard Fabian ganz allgemein für Tristram Shandy aufstellt, kann, wie sich zeigen wird, ganz besonders für den Paratext gelten: ” In reflektierter Wiederaufnahme der Literaturkonzeption des frühen 18. Jahrhunderts setzte Sterne seinen Tristram Shandy in eine ironische Relation zu Theorie und Technik des konventionellen Romans der Zeit.“ 1 Ironie heißt jetzt nicht mehr nur Satire der Form und Funktionen, sondern Auflösung der traditionellen Konzepte des Paratexts und der herkömmlichen Vorstellungen über seine Beziehung zum Text selbst. 5.1 Der Name des Autors Laurence Sternes Tristram Shandy wirft bereits in bezug auf die traditionell exakten Statusdefinitionen dieses Paratextes eine Reihe von Problemen auf, die diese eindeutige Charakterisierung erheblich aufweichen. So ist der peritextuelle Ort des Autorennames hier keineswegs festgelegt, er ist, wie anderswo nur im Epitext, äußerst diffus. Es schwärmen gleich mehrere Namen zu verschiedenen Zeiten der Publikationsgeschichte in den gesamten Peritext und sogar in den Text selbst hinein. Zwar erschienen alle neun Bücher von Tristram Shandy anonym (vgl. das Origi- 1 In [25] Bernhard Fabian: ” Sterne · Tristram Shandy“. In: Franz K. Stanzel (Hg.), Der englische Roman: Vom Mittelalter zur Moderne, 2 Bde. Düsseldorf: A. Bagel, 1969, Bd. 1, S. 232–269, hier S. 235. 77

KAPITEL 5 TRISTRAM SHANDY (1759–67) 5.1 DER NAME DES AUTORS naltitelblatt von Band I der Londoner Erstausgabe [Abbildung 5.1 {S. 81}]) und das Werk gibt auch keine explizite Auskunft (im 18. Jh. z. B. das editor’s preface) über seine Herkunft oder Authentizität (es fehlen also etwa Hinweise wie bei Robinson Crusoe “Written by Himself” etc.), doch benutzt Sterne, wie schon Swift, eine Art Pseudonym, die Autorenunterschiebung. Der reale Autor Sterne schreibt das Werk dem fiktiven Autor/Autobiographen und Ich–Erzähler “Tristram Shandy” zu, der als “Gentleman” apostrophiert wird, was durch die Angabe seiner sozialen Stellung bereits die Qualität (Relevanz und Wahrheit) und den Unterhaltungswert der Geschichte dokumentieren soll. Die Zuschreibungsfiktion stattet den unterschobenen Autor “Tristram Shandy” auch wieder mit allen traditionellen Autorenfunktionen aus. Dies hat auch Auswirkungen auf die Konzeption des Romans, Tristrams Schreibstil der conversation (vgl. Kapitel II, xi [S. 87]) führt zu einer vielschichtigen Verknüpfung mit seinen verschiedenen ” Adressaten“, wobei das Kommunizieren der Partner gleichwertig neben das Kommunizierte tritt 2 : ” Mehrstimmigkeit heißt daher, daß Tristrams Rede sich als unentwegter Dialog entfaltet, in dem sich der Erzähler mit den Figuren, mit dem Autor sowie mit dem Leser unterhält, weshalb das Schreiben nie ein Erzählen wird“ 3 . Der Leser faßt ein Pseudonym im Prinzip aber immer wie einen Autorennamen auf, da er dessen Echtheit gemeinhin weder nachweisen noch widerlegen kann. Natürlich erwartet er aber von einem komischen Pseudonym wie “Tristram Shandy” auch einen komischen Text. Um so mehr als Sternes Autorschaft bald nach der Erstausgabe 1759 bekannt war: seine Pseudonymität, also das Fehlen eines individuellen Besitzanspruchs auf das Werk, führte bekanntermaßen zu einer Reihe von Plagiaten, so daß Sterne ab der dritten Lieferung (Bände V und VI) dazu überging, die Einzelexemplare der Auflagen handschriftlich zu signieren (Autorschaft in Form der Signatur als einzigem autographen Teil des Buchs 4 ), ohne aber seine Autorschaft jemals gedruckt auf der Titelseite bekanntzugeben (er zeichnete lediglich die Zueignung der Bände V und VI mit “Laur. Sterne”). Paradoxerweise war Sterne und/oder der Autor Tristram Shandy in London also bereits berühmt, bevor ihn irgend jemand kannte, literarischer Ruhm und Pseudonymität gingen somit Hand in Hand. Freilich hat Sternes Entscheidung für die sog. Autorenunterschiebung Gründe, die tiefer liegen als etwa der Schutz vor den Opfern seiner Angriffe oder der Rücksicht auf sein Priesteramt, zumal ja die Identität des Autors in aller Munde war. Der reale Autor bettet sich damit und v. a. durch die Erzählsituation eines Ich– Erzählers selbst als Figur in seine fiktive Welt ein, er tritt in Kontakt und wird von außen in Verbindung gebracht mit den Figuren seiner subjektiven Spielwelt und ihren Besonderheiten, besonders weil Sterne in London auch in der Öffentlichkeit 2 Vgl. [38] Peter Michelsen: Laurence Sterne und der deutsche Roman des achtzehnten Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1962, S. 17. 3 In [31] Wolfgang Iser: Laurence Sternes ≫Tristram Shandy≪: Inszenierte Subjektivität. München: Fink, 1987, S. 80. 4 Die Analogie zur auktorialen handschriftlichen Widmung eines Einzelexemplars ist hier augenfällig (vgl. [28] Genette, S. 134). Interessanterweise genießt heute wiederum ein unsigniertes, d. h. von Sterne übersehenes, Exemplar dieser Auflagen besonderen Stellenwert. 78

KAPITEL 5 TRISTRAM SHANDY (1759–67)<br />

5.1 DER NAME DES AUTORS<br />

naltitelblatt von Band I <strong>der</strong> Londoner Erstausgabe [Abbildung 5.1 {S. 81}]) und<br />

das Werk gibt auch ke<strong>in</strong>e explizite Auskunft (im <strong>18.</strong> Jh. z. B. das editor’s preface)<br />

über se<strong>in</strong>e Herkunft o<strong>der</strong> Authentizität (es fehlen also etwa H<strong>in</strong>weise wie bei Rob<strong>in</strong>son<br />

Crusoe “Written by Himself” etc.), doch benutzt Sterne, wie schon Swift,<br />

e<strong>in</strong>e Art Pseudonym, die Autorenunterschiebung. Der reale Autor Sterne schreibt<br />

das Werk dem fiktiven Autor/Autobiographen und Ich–Erzähler “Tristram Shandy”<br />

zu, <strong>der</strong> als “Gentleman” apostrophiert wird, was durch die Angabe se<strong>in</strong>er sozialen<br />

Stellung bereits die Qualität (Relevanz und Wahrheit) und den Unterhaltungswert<br />

<strong>der</strong> Geschichte dokumentieren soll. Die Zuschreibungsfiktion stattet den unterschobenen<br />

Autor “Tristram Shandy” auch wie<strong>der</strong> mit allen traditionellen Autorenfunktionen<br />

aus. Dies hat auch Auswirkungen auf die Konzeption <strong>des</strong> Romans, Tristrams<br />

Schreibstil <strong>der</strong> conversation (vgl. Kapitel II, xi [S. 87]) führt zu e<strong>in</strong>er vielschichtigen<br />

Verknüpfung mit se<strong>in</strong>en verschiedenen ”<br />

Adressaten“, wobei das Kommunizieren<br />

<strong>der</strong> Partner gleichwertig neben das Kommunizierte tritt 2 : ”<br />

Mehrstimmigkeit heißt<br />

daher, daß Tristrams Rede sich als unentwegter Dialog entfaltet, <strong>in</strong> dem sich <strong>der</strong><br />

Erzähler mit den Figuren, mit dem Autor sowie mit dem Leser unterhält, weshalb<br />

das Schreiben nie e<strong>in</strong> Erzählen wird“ 3 .<br />

Der Leser faßt e<strong>in</strong> Pseudonym im Pr<strong>in</strong>zip aber immer wie e<strong>in</strong>en Autorennamen<br />

auf, da er <strong>des</strong>sen Echtheit geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> we<strong>der</strong> nachweisen noch wi<strong>der</strong>legen kann.<br />

Natürlich erwartet er aber von e<strong>in</strong>em komischen Pseudonym wie “Tristram Shandy”<br />

auch e<strong>in</strong>en komischen Text. Um so mehr als Sternes Autorschaft bald nach <strong>der</strong><br />

Erstausgabe 1759 bekannt war: se<strong>in</strong>e Pseudonymität, also das Fehlen e<strong>in</strong>es <strong>in</strong>dividuellen<br />

Besitzanspruchs auf das Werk, führte bekanntermaßen zu e<strong>in</strong>er Reihe von<br />

Plagiaten, so daß Sterne ab <strong>der</strong> dritten Lieferung (Bände V und VI) dazu überg<strong>in</strong>g,<br />

die E<strong>in</strong>zelexemplare <strong>der</strong> Auflagen handschriftlich zu signieren (Autorschaft <strong>in</strong> Form<br />

<strong>der</strong> Signatur als e<strong>in</strong>zigem autographen Teil <strong>des</strong> Buchs 4 ), ohne aber se<strong>in</strong>e Autorschaft<br />

jemals gedruckt auf <strong>der</strong> Titelseite bekanntzugeben (er zeichnete lediglich die<br />

Zueignung <strong>der</strong> Bände V und VI mit “Laur. Sterne”). Paradoxerweise war Sterne<br />

und/o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Autor Tristram Shandy <strong>in</strong> London also bereits berühmt, bevor ihn<br />

irgend jemand kannte, literarischer Ruhm und Pseudonymität g<strong>in</strong>gen somit Hand<br />

<strong>in</strong> Hand.<br />

Freilich hat Sternes Entscheidung für die sog. Autorenunterschiebung Gründe,<br />

die tiefer liegen als etwa <strong>der</strong> Schutz vor den Opfern se<strong>in</strong>er Angriffe o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Rücksicht<br />

auf se<strong>in</strong> Priesteramt, zumal ja die Identität <strong>des</strong> Autors <strong>in</strong> aller Munde war.<br />

Der reale Autor bettet sich damit und v. a. durch die Erzählsituation e<strong>in</strong>es Ich–<br />

Erzählers selbst als Figur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e fiktive Welt e<strong>in</strong>, er tritt <strong>in</strong> Kontakt und wird<br />

von außen <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung gebracht mit den Figuren se<strong>in</strong>er subjektiven Spielwelt und<br />

ihren Beson<strong>der</strong>heiten, beson<strong>der</strong>s weil Sterne <strong>in</strong> London auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit<br />

2 Vgl. [38] Peter Michelsen: Laurence Sterne und <strong>der</strong> deutsche Roman <strong>des</strong> achtzehnten Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

Gött<strong>in</strong>gen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1962, S. 17.<br />

3 In [31] Wolfgang Iser: Laurence Sternes ≫Tristram Shandy≪: Inszenierte Subjektivität.<br />

München: F<strong>in</strong>k, 1987, S. 80.<br />

4 Die Analogie zur auktorialen handschriftlichen Widmung e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>zelexemplars ist hier augenfällig<br />

(vgl. [28] Genette, S. 134). Interessanterweise genießt heute wie<strong>der</strong>um e<strong>in</strong> unsigniertes,<br />

d. h. von Sterne übersehenes, Exemplar dieser Auflagen beson<strong>der</strong>en Stellenwert.<br />

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