Paratexte in der englischen Erzählprosa des 18. Jahrhunderts

Paratexte in der englischen Erzählprosa des 18. Jahrhunderts Paratexte in der englischen Erzählprosa des 18. Jahrhunderts

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KAPITEL 4 A TALE OF A TUB (1704/10) 4.6 DIE ANMERKUNGEN selbst zu wenden. Er disqualifiziert sich und seine wissenschaftliche Arbeit, weil sich die angestrengte philologische Interpretationsarbeit ausgerechnet auf ein Grub– street–Produkt eines unterschobenen, offensichtlich verrückten hack–writer konzentriert, wobei seine Ergebnisse als belanglos abqualifiziert werden. Sein Namenszug unter den Anmerkungen läßt den Anmerkenden dabei als jemanden erscheinen, der sich selbst ebenso wichtig oder wichtiger als seine Arbeit nimmt. Analog zur punitive satire wird den moderns über die Anmerkungen die Möglichkeit zur Verteidigung gegeben, indem sie die Leistungsfähigkeit ihrer philologischen Arbeit demonstrieren, die Demonstration wird dann aber wieder in ihren Fehlschlägen betont und dadurch die moderns umso mehr verurteilt. Dieser Apparat wird dann, nach der satirischen Intention, sogar zur Kanonisierung des Grub–street–Werks mißbraucht. Der Metatext der allographen Anmerkungen ist zu diesem Zweck weitgehend textimmanent“, Gegenstand der allographen Fußnoten ist der Text, bisweilen der ” Autor, aber fast nie der Leser 70 . Mit Hilfe dieser Anmerkungen konstituiert der hack seinen Text jetzt neu auf einer textuell verlässlicheren Basis. Er fungiert also als Editor, denn [d]ie Hervorbringung eines allographen Anmerkungsapparates ” ist, mitsamt der Erstellung des Textes, die eigentliche Definition der Herausgeberfunktion“ 71 . Der hack selbst wird folglich, in seiner Funktion ganz nach der Satireabsicht so wie Bentley oder Wotton, zum fiktiv–auktorialen Herausgeber einer quasi–kritischen Edition seines eigenen Texts mit einem für das 18. Jh. typischen, aus Kommentar und Wertung zusammengesetzten allographen Anmerkungsapparat anderer gelehrter Instanzen. 72 Dafür spricht auch die alle Varianten“ bewahrende additive Anhäufung von Paratexten in den einzelnen Auflagen des nach dem Maßstab ” der moderns inzwischen geradezu klassischen Texts. Dazu paßt auch die ständige Beleuchtung der entstehungsgeschichtlichen Dimension des Werks in den verschiedenen Paratextformen. Freilich wird dadurch die klare Trennung von Anmerkungen und Text unmöglich, der Paratext wird zu einem unentbehrlichen Bastandteil des satirischen Gesamtwerks, die Grenzen zum Text selbst verwischen sich. 73 Der Rückgriff auf traditionelle Formen des Paratexts stellt also ein riesiges Poten- 70 Shari Benstock benennt den entscheidenden Unterschied zwischen fiktionalen und allographen (kritischen) Fußnoten wie hier: “In critical texts, they [footnotes, Anm. d. Verf.] really address no one; if they are directed anywhere, they are directed toward the text (the text frequently appears to be in dialogue with itself), and while the comments extend the boundaries of the text [. . . ], they rarely—if ever—invite the reader to participate directly in the critical act.” In [13] Benstock, S. 206. 71 In [28] Genette, S. 321. 72 Vgl. Claude Rawson: “Swift also impishly took over the explanatory matter in Wotton’s attack, printing it in the notes to his own text, turning the Tale into an edition of itself, in the guise of a classical text cum notis variorum [. . . ]. Wotton is thus absorbed into the chain of pedantry, as a laboured drudge heavily engaged in explaining the obvious. But he is simultaneously enlisted as an aid to understanding a work he was more concerned to attack than to explain, outwitted by having his aggression read as exegetically helpful, and pilloried afresh by mock–editorial amiability every time his name appears gratefully at the end of a note.” In [44] Claude Rawson: “Introduction”. In: Claude Rawson (Hg.), Jonathan Swift. A Collection of Critical essays. Band 10 der Reihe New Century Views. Englewood Cliffs: Prentice Hall, 1995, S. 1–15, hier S. 6. 73 Vgl. auch [28] Genette, S. 323. 75

KAPITEL 4 A TALE OF A TUB (1704/10) 4.6 DIE ANMERKUNGEN tial für die beabsichtigte Parodie der Produktionen der moderns dar, die gezielt zu diesem Zweck modelliert werden. Die meisten Paratexte sind daher als unentbehrliche funktionalisierte Gestaltungsmittel der Satire allerdings auch jeglicher wirklichen paratextuellen Rezeptionssteuerung, wie sie Tom Jones in allen Einzelheiten ermöglicht hat, enthoben. Dadurch schlägt Swift aber schon die radikale Abkehr von den traditionellen Konzepten desselben vor, die er selbst allerdings, großteils beschränkt auf die Satire des Existenten, nur andeutet und nicht konsequent verwirklicht. Diese letzte Steigerung in der Verwendung paratextueller Elemente blieb dann Laurence Sternes Tristram Shandy vorbehalten, dessen Diskussion nun die Untersuchung abrunden soll. 76

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selbst zu wenden. Er disqualifiziert sich und se<strong>in</strong>e wissenschaftliche Arbeit, weil<br />

sich die angestrengte philologische Interpretationsarbeit ausgerechnet auf e<strong>in</strong> Grub–<br />

street–Produkt e<strong>in</strong>es unterschobenen, offensichtlich verrückten hack–writer konzentriert,<br />

wobei se<strong>in</strong>e Ergebnisse als belanglos abqualifiziert werden. Se<strong>in</strong> Namenszug<br />

unter den Anmerkungen läßt den Anmerkenden dabei als jemanden ersche<strong>in</strong>en, <strong>der</strong><br />

sich selbst ebenso wichtig o<strong>der</strong> wichtiger als se<strong>in</strong>e Arbeit nimmt. Analog zur punitive<br />

satire wird den mo<strong>der</strong>ns über die Anmerkungen die Möglichkeit zur Verteidigung<br />

gegeben, <strong>in</strong>dem sie die Leistungsfähigkeit ihrer philologischen Arbeit demonstrieren,<br />

die Demonstration wird dann aber wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> ihren Fehlschlägen betont und dadurch<br />

die mo<strong>der</strong>ns umso mehr verurteilt. Dieser Apparat wird dann, nach <strong>der</strong> satirischen<br />

Intention, sogar zur Kanonisierung <strong>des</strong> Grub–street–Werks mißbraucht.<br />

Der Metatext <strong>der</strong> allographen Anmerkungen ist zu diesem Zweck weitgehend<br />

textimmanent“, Gegenstand <strong>der</strong> allographen Fußnoten ist <strong>der</strong> Text, bisweilen <strong>der</strong><br />

”<br />

Autor, aber fast nie <strong>der</strong> Leser 70 . Mit Hilfe dieser Anmerkungen konstituiert <strong>der</strong><br />

hack se<strong>in</strong>en Text jetzt neu auf e<strong>in</strong>er textuell verlässlicheren Basis. Er fungiert also<br />

als Editor, denn [d]ie Hervorbr<strong>in</strong>gung e<strong>in</strong>es allographen Anmerkungsapparates<br />

”<br />

ist, mitsamt <strong>der</strong> Erstellung <strong>des</strong> Textes, die eigentliche Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> Herausgeberfunktion“<br />

71 . Der hack selbst wird folglich, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Funktion ganz nach <strong>der</strong> Satireabsicht<br />

so wie Bentley o<strong>der</strong> Wotton, zum fiktiv–auktorialen Herausgeber e<strong>in</strong>er<br />

quasi–kritischen Edition se<strong>in</strong>es eigenen Texts mit e<strong>in</strong>em für das <strong>18.</strong> Jh. typischen, aus<br />

Kommentar und Wertung zusammengesetzten allographen Anmerkungsapparat an<strong>der</strong>er<br />

gelehrter Instanzen. 72 Dafür spricht auch die alle Varianten“ bewahrende additive<br />

Anhäufung von <strong>Paratexte</strong>n <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Auflagen <strong>des</strong> nach dem Maßstab<br />

”<br />

<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ns <strong>in</strong>zwischen geradezu klassischen Texts. Dazu paßt auch die ständige<br />

Beleuchtung <strong>der</strong> entstehungsgeschichtlichen Dimension <strong>des</strong> Werks <strong>in</strong> den verschiedenen<br />

Paratextformen. Freilich wird dadurch die klare Trennung von Anmerkungen<br />

und Text unmöglich, <strong>der</strong> Paratext wird zu e<strong>in</strong>em unentbehrlichen Bastandteil <strong>des</strong><br />

satirischen Gesamtwerks, die Grenzen zum Text selbst verwischen sich. 73<br />

Der Rückgriff auf traditionelle Formen <strong>des</strong> Paratexts stellt also e<strong>in</strong> riesiges Poten-<br />

70 Shari Benstock benennt den entscheidenden Unterschied zwischen fiktionalen und allographen<br />

(kritischen) Fußnoten wie hier: “In critical texts, they [footnotes, Anm. d. Verf.] really address no<br />

one; if they are directed anywhere, they are directed toward the text (the text frequently appears<br />

to be <strong>in</strong> dialogue with itself), and while the comments extend the boundaries of the text [. . . ],<br />

they rarely—if ever—<strong>in</strong>vite the rea<strong>der</strong> to participate directly <strong>in</strong> the critical act.” In [13] Benstock,<br />

S. 206.<br />

71 In [28] Genette, S. 321.<br />

72 Vgl. Claude Rawson: “Swift also impishly took over the explanatory matter <strong>in</strong> Wotton’s attack,<br />

pr<strong>in</strong>t<strong>in</strong>g it <strong>in</strong> the notes to his own text, turn<strong>in</strong>g the Tale <strong>in</strong>to an edition of itself, <strong>in</strong> the guise of a<br />

classical text cum notis variorum [. . . ]. Wotton is thus absorbed <strong>in</strong>to the cha<strong>in</strong> of pedantry, as a<br />

laboured drudge heavily engaged <strong>in</strong> expla<strong>in</strong><strong>in</strong>g the obvious. But he is simultaneously enlisted as an<br />

aid to un<strong>der</strong>stand<strong>in</strong>g a work he was more concerned to attack than to expla<strong>in</strong>, outwitted by hav<strong>in</strong>g<br />

his aggression read as exegetically helpful, and pilloried afresh by mock–editorial amiability every<br />

time his name appears gratefully at the end of a note.” In [44] Claude Rawson: “Introduction”.<br />

In: Claude Rawson (Hg.), Jonathan Swift. A Collection of Critical essays. Band 10 <strong>der</strong> Reihe New<br />

Century Views. Englewood Cliffs: Prentice Hall, 1995, S. 1–15, hier S. 6.<br />

73 Vgl. auch [28] Genette, S. 323.<br />

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