LudewiG
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Wolfgang<br />
Bernschein<br />
Ludewig<br />
Merkwürdige Geschichten<br />
aus Vorpommern
Ludewig – Merkwürdige Geschichten aus Vorpommern
Ludewig<br />
Merkwürdige Geschichten aus Vorpommern<br />
Wolfgang Bernschein<br />
Die<br />
illustre<br />
Reihe
Copyright Wolbern 2013<br />
Berlin/Potsdam<br />
www.wolbern.de<br />
www.facebok.com/wolbern<br />
1. Auflage<br />
Illustrationen und Coverlayout: Heike Wadewitz<br />
Satz: Michael Bernschein<br />
Druck: Medialis<br />
ISBN 978-3-9811128-4-9
Besonders für jene,<br />
die noch den Geruch von Dampfkartoffeln,<br />
Sprotten und Linoleum in der Nase haben.
Inhaltsverzeichnis<br />
1. Ein Retter von Greifswald<br />
2. Ludewig<br />
3. Die jungen Jahre<br />
4. Der Leuchtturmwärter<br />
5. Mann nach Feier im Konsum unter Sternen<br />
6. Polackenhochzeit<br />
7. Baikonur<br />
8. Grand mit Vieren<br />
9. Die Würde der Schwiegermutter<br />
10. Vom Fischer und der Zeit<br />
11. Hunger<br />
12. Maria<br />
9<br />
20<br />
29<br />
48<br />
60<br />
74<br />
91<br />
104<br />
115<br />
127<br />
133<br />
137<br />
7
Ein Retter von Greifswald<br />
Es ist ein Tag im April, die Luft ist klar und scharf. Zaghafte Reverenzen<br />
von Goldammer, Amsel und Drossel an den Frühling<br />
gehen in den Schalmeienklängen, den Trommeln und den Fanfaren<br />
unter; die Stadt ist ein klingendes Spiel im Verein mit dem<br />
Glockengeläut von Sankt Nikolai, Marien und Jacobi.<br />
Beim Anblick der nackten Beine der Pimpfe, die wie weiße<br />
Bleistifte aus den kurzen Hosen spitzen, beginnt man zu frösteln.<br />
Die Hitlerjugend wirkt schneidiger, der Jungstamm 1 steht<br />
stramm am Pommerndamm, setzt sich dann in Bewegung.<br />
Werner trägt die blaugraue Uniform des Panzerjagdkommandos,<br />
den Thorax gebläht, nur die HJ-Binde am Arm ist der Wermutstropfen.<br />
Neben ihm singt Günter aus voller Kehle:<br />
»Wohlauf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd, ins Feld, in die<br />
Freiheit gezogen! Im Felde, da ist der Mann noch was wert, da<br />
wird das Herz noch gewogen…«<br />
Sie marschieren über den Platz der SA in die Schuhagen Straße,<br />
überall Fahnen:<br />
»…und liegt vom Kampfe in Trümmern, die ganze Welt zuhauf,<br />
das soll uns den Teufel kümmern, wir bauen sie wieder auf…«<br />
Werner spürt den heißen Atem im Nacken, die Schulter seines<br />
Freundes:<br />
»… da tritt kein anderer für ihn ein, auf sich selber steht er da<br />
ganz allein …«<br />
»Wann wir schreiten Seit´an Seit´und die alten Lieder singen …«<br />
Die Kirchenglocken der Marienkirche klingen überlaut.<br />
»Gib dem Führer Gnade, lass deine Gnade walten«, hallt es<br />
durch das Kirchenschiff.<br />
9
Am Markt wird der Zug empfangen. Heil! Heil! Heil! Um<br />
den Markt herum drängen sich die Menschen – Flüchtlinge,<br />
aus Ostpreußen, aus Hinterpommern, grinsende Verwundete<br />
mit schmutzigen Binden um Arme, Beine, Kopf und Bauch;<br />
Krüppel mit und ohne Krücken, zerlumpte Kriegsgefangene<br />
neben schwarzer SS. Die kleine Stadt hat dreimal so viele Menschen<br />
zu verkraften als gewöhnlich. Jeden Tag kommen neue<br />
hinzu.<br />
»Und mögen die Alten auch schelten, so lasst sie nur toben und<br />
schrei´ n …«<br />
Einige Fenster sind geöffnet. Aus einem tönt ein Radio: Minister<br />
Goebbels gratuliert dem Führer zum Geburtstag.<br />
Er sagt:<br />
»Der Krieg neigt sich seinem Ende zu. Der Wahnsinn, den die<br />
Feindmächte über die Welt gebracht haben, hat seinen Höhepunkt<br />
bereits überschritten.«<br />
Werner ist heiser. Auf dem Wall mischt sich der Dunst des<br />
Stadtgrabens in die klare Luft. Ältere Soldaten stehen vor der Augenklinik,<br />
ein Offizier ruft:<br />
»Dir Führer zum Geburtstag, im Heldenkampf für den Endsieg.«<br />
Günter lacht, er stößt Werner in die Seite und bewegt den<br />
Kopf leicht in Richtung des Unterscharführers Meier, der mit<br />
Frische in den Augen, bubenhaft, aber schon kriegsversehrt und<br />
ein Held, einige Meter von ihnen entfernt steht. Ein Kamerad<br />
und Führer. Jugend führt Jugend. Meier blickt stolz zu seinen<br />
Jungen, das Gesicht leicht gerötet; prachtvolle junge Burschen,<br />
singen auch für ihn mit ganzer Kraft:<br />
»Jugend kennt keine Gefahren. Deutschland du wirst leuchtend<br />
stehen, mögen wir auch untergehen. Vorwärts, vorwärts, vorwärts<br />
…«<br />
Werner wird wie eine Schwertlilie aus morastigem Grund von<br />
der Hand eines Störers aus seinem Traum gerissen. Erika leuchtet<br />
nach, fluoresziert, wie ein Bild in einer fotografischen Entwicklerlösung,<br />
schwebt, umspült vom schwarzen Licht der Dunkelkammerleuchte,<br />
die weiße Bluse halb geöffnet, den dunkelblauen<br />
Rock bis zur Hüfte gerollt, das Haar wie ein Segel …<br />
10
Werner fährt mit der Hand unter seine Decke und lehnt sich<br />
zurück. Der Morgen schafft es gerade über die rote Backsteinmauer<br />
durch das Fenster, kein besonders schöner Tag. Er muss ins<br />
Luftwaffenlazarett, Erika treffen, sie auf den Sportplatz lotsen, in<br />
das kleine Wäldchen …<br />
»Werner, aufstehen! Der Zug fährt in einer Stunde.«<br />
Seine Mutter steckt den Kopf durch die Tür, blond, den Mund<br />
schmallippig nach unten, die Locken der aschblonden Haare hängen<br />
am Oberkopf wie kleine Fleischwürste, der Körper wird von<br />
dem grauen Hauskleid ausgelöscht.<br />
Wie eine Gurke durch Asche gezogen sieht sie aus, denkt Werner.<br />
Aschegurke.<br />
»Ich fahre heute nicht, ich muss noch was erledigen.«<br />
Seine Mutter steht an seinem Bett.<br />
»Bist du verrückt. Willst du uns ins Unglück stürzen. In der<br />
Stadt ist Feldgendarmerie, Streifendienst. Das geht nicht.«<br />
Werner richtet sich auf:<br />
»Der Soldat kann sterben, der Deserteur muss sterben. Ich bin<br />
kein Deserteur, ich will nach Jeeser. Aber ich fahre erst morgen<br />
mit dem Fahrrad, Meier ist in Ordnung, ich muss heute noch<br />
etwas erledigen.«<br />
Aus dem Putzfleck an der Zimmerdecke wächst ein Baum, gegen<br />
den er Erika drückt. Von den Blättern tropft Wasser auf Kopf,<br />
Arme, Schultern, der Boden ist weich, aus dem verfaulten Laub<br />
strömt warme Luft, seine Hand schiebt sich unter ihr Leibchen.<br />
Sie schreit, schreit, als wenn ihr jemand auf die Hände treten<br />
würde:<br />
»Willst du uns unglücklich machen, dich unglücklich machen.<br />
Reicht das nicht, dass wir von deinem Vater nichts hören. Wer soll<br />
die Kohlen schleppen, ich schaffe das nicht mehr!«<br />
Werner geht mit federnden Schritten, er spürt jeden Stein des<br />
Bürgersteiges, er fühlt sich körperlich in Hochform, denkt, dass er<br />
auch von Jeeser nach Greifswald laufen kann, um Erika zu treffen.<br />
Eine Gelegenheit würde sich schon finden.<br />
Er hat seiner Mutter versprochen, heute zu fahren, konnte ihr<br />
Gezeter nicht mehr ertragen, ihre Drohung, sich aus dem Fenster<br />
zu stürzen.<br />
11
Burgstraße Ecke Gützkower Straße bleibt er stehen und betrachtet<br />
den Zug: Ältere und alte Männer in ungeordneter<br />
Formation; sie tragen Uniformen aus dem Kaiserreich, Eisenbahnerjacken,<br />
Zivil, gefärbte Partei- und HJ-Uniformen, Schiffermützen,<br />
Stahlhelme, Hüte, die Armbinden weisen sie aus:<br />
»Volkssturm – Deutsche Wehrmacht«. Die Gewehre stammen aus<br />
Frankreich, Russland, Deutschland; einige tragen nur Schaufeln<br />
oder Spaten auf den Schultern. An der Seite dirigiert ein Mann in<br />
Leutnantsuniform der kaiserlichen Armee den Zug. Er trägt eine<br />
blaue Uniformjacke, eine weiße Hose, statt der dazugehörigen<br />
schwarzen Schaftstiefel stecken seine Füße in braunen Halbschuhen,<br />
die Pickelhaube fehlt auf der Halbglatze.<br />
Er ruft: »Ein Lied.«<br />
Jemand beginnt:<br />
»Immer langsam voran, immer langsam voran, dass die Krähwinkler<br />
Landwehr nachkommen kann.«<br />
»Lied aus!« brüllt der Kürassierleutnant, seine Gesichtshaut<br />
färbt sich rosa.<br />
»Ein neues Lied!«, schreit er.<br />
Zögerlich klingt es:<br />
»Nun geht´s ans Abschiednehmen, die Vöglein im Walde, die<br />
singen ja so wunderschön, in der Heimat, in der Heimat da gibt´s<br />
ein Wiedersehn.«<br />
Werner zieht die Nasenflügel hoch und will weitergehen, als<br />
jemand die Hand auf seine Schulter legt und leise sagt:<br />
»Haare silbern, Gold im Mund und Blei in den Beinen. Das<br />
ist der Schrott aus dem Ersten Weltkrieg. Zu dir habe ich mehr<br />
Vertrauen.«<br />
Werner dreht sich um, sieht seinen Großvater in die schlauen<br />
Augen, den Herren- und Damen-Maßschneider Wilhelm Lange,<br />
der außer Heft-, Näh-, Saum-, Kreuz- und Steppstich die kleine<br />
und große Politik seit einem halben Jahrhundert aufmerksam<br />
verfolgt, mit der Schneiderelle misst und irgendwann zu dem Ergebnis<br />
gekommen ist, dass seine Meinung den Herren da oben<br />
genauso passen muss, wie die Anzüge seinen Kunden. Er drückt<br />
Werner fest den Oberarm und sagt:<br />
»Ich bin im 1. Weltkrieg schwer verwundet worden. Ihr seid die<br />
Jugend, ihr müsst das jetzt machen, den Iwan nach Sibirien treiben.«<br />
12
Jeeser. Ein Ortsteil von Kirchdorf, umgeben von Moor und Waldflächen,<br />
Station an der Bahnlinie Greifswald-Stralsund, ein Halt,<br />
den im Herbst die Pilzsammler schätzen.<br />
Der HJ-Panzervernichtungstrupp ist in einem Barackenlager<br />
nahe dem Waldrand untergebracht – Werner, Günter, all die anderen<br />
sind jetzt Panzervernichter, keine Panzerjäger mehr. Das<br />
ist notwendig, denn die Russen haben die Oder überschritten,<br />
werden bald im pommerschen Pasewalk sein. Jagen hilft nicht,<br />
der Iwan muss vernichtet werden.<br />
Und falls er doch bis Greifswald kommen sollte, was nicht vorstellbar<br />
ist, werden sie ihn aufhalten.<br />
Es ist fünf Uhr morgens, diesig kalte Luft hüllt die Baracken<br />
ein und stilisiert die Bäume zu Wächtern des Lagers.<br />
Werner sitzt auf der Latrine, hat das Bild von Erika in der<br />
Hand und mustert jedes Detail. Zuerst das Gesicht, den halb geöffneten<br />
lachenden Mund, die großen Augen, das dunkle, glatt<br />
zurückgekämmte Haar im Nacken zu einem kleinen Knoten<br />
verschlungen, die weiße Bluse, das schwarze Fahrtentuch mit<br />
dem Lederknoten, der Rock reichte nicht so weit hinunter wie<br />
bei anderen Mädchen.<br />
Im letzten Sommer sind sie beide mit dem Fahrrad in Jeeser<br />
gewesen. Das Ausflugslokal »Waldschlösschen« hatte geschlossen<br />
und sie haben sich draußen auf eine Holzbank gesetzt, zwei Tage<br />
nach seinem vierzehnten Geburtstag. Er hat den Arm um ihre<br />
Schulter gelegt und war stolz, dass er es geschafft hatte, an sie<br />
»ranzukommen«. Immerhin wurde Erika in ein paar Monaten<br />
schon sechzehn Jahre alt.<br />
Von Jeeser aus sind sie dann weiter nach Gristow geradelt, haben<br />
dort vom Kirchturm aus auf den Strelasund geblickt, wie er<br />
in den Greifswalder Bodden strömt und darüber gestaunt, wie<br />
nahe Rügen ist. Werner musste in Anspielung auf seine sportlichen<br />
Fähigkeiten prahlen, dass er mit einem einzigen Sprung, wie<br />
bei der letzten Schulmeisterschaft, die Insel erreichen könnte. Das<br />
brachte ihm eine Ermahnung ein.<br />
»Hebe dich nicht so heraus, jeder Mensch ist ein Nichts, ein<br />
Atom, nur verbunden mit seinen Ahnen«, behauptete sie ernst.<br />
Später, als sie auf einer kleinen Wiese im Wald lagen, nahm<br />
sie seinen Kopf in beide Hände und presste ihn gegen ihre Blu-<br />
13
se. Das war keine Ermahnung, sondern eine Aufforderung zur<br />
Großspurigkeit.<br />
Werner starrt auf das Bild in seiner linken Hand, auf Erikas<br />
wohl geformten Waden und beginnt, schneller zu atmen.<br />
Um sechs Uhr beginnt der Frühsport, später dann das Frühstück.<br />
Danach setzen sich die Jungs vor der Küchenbaracke<br />
auf die Bank. Die Aprilsonne wärmt, einige rauchen und einer<br />
erzählt, dass seine Mutter zum Osterfest bemalte Hühnereier<br />
versteckt hatte und er aus Versehen in eines dieser Nester getrampelt<br />
sei.<br />
Unterscharführer Meier kommt, sagt freundlich:<br />
»Los geht´s.«<br />
Unterricht an der Panzerfaust. Meier erklärt:<br />
»Wenn man ruhig bleibt, ist man dem Mann im Panzer überlegen.<br />
Der ist eingesperrt, muss seine Kanone erst in Stellung<br />
bringen, ihr seid wendiger, habt es in der Hand.«<br />
Dann zeigt er, wie man so ein Gerät scharf macht.<br />
Werner lauscht mit halb geöffneten Augen, träumt ein wenig<br />
dabei, sieht sich mit der Panzerfaust vor einem Russenpanzer,<br />
hinter ihm, in einiger Entfernung Erika. Er drückt ab. Ein ohrenbetäubender<br />
Knall.<br />
Kein Mensch auf der Welt kann sagen, ob und wie lange das<br />
Gehirn noch arbeitet, vielleicht einen Kurzfilm produziert, der<br />
ein Leben auf Bruchteile von Sekunden zusammen rafft, wenn<br />
gleichzeitig die Lunge platzt, der Magen, die Leber, die Därme<br />
durch rotierende Eisenteile zerfetzt werden, abgetrennte Arme<br />
und Beine durch die Luft wirbeln. Niemand kann darüber berichten<br />
und niemand wird auf solche Gedanken kommen, wenn<br />
er das Resultat betrachtet: verstreute Überreste von 23 Jungen<br />
zwischen 14 und 15 Jahren.<br />
In Greifswald herrscht Aufregung, etwas ist passiert; Leute behaupten,<br />
eine Detonation gehört zu haben.<br />
Die Mütter machen sich mit dem Fahrrad auf den Weg nach<br />
Jeeser. Später brechen einige Frauen vor der verschlossenen Kirche<br />
in Kirchdorf weinend zusammen. Dort werden die Überreste<br />
ihrer Kinder aufbewahrt.<br />
15
Die Mutter von Werner schreit während der Rückfahrt ununterbrochen,<br />
und der Versuch des Schneiders Wilhelm Lange, sie<br />
zu beruhigen, scheitert. Niemand kann sie beruhigen, niemand<br />
sieht sie in der nächsten Zeit auf der Straße.<br />
Drei Tage nach dem Unglück und knapp eine Woche nach<br />
dem Geburtstag des Führers, erobern die Russen das 20 Kilometer<br />
entfernte Anklam. Am gleichen Tag bombardieren deutsche<br />
Kampfflugzeuge die Stadt.<br />
Den Feuerschein kann man in Greifswald am Himmel sehen,<br />
auf die Menschen macht er den Eindruck eines fernen Wetterleuchtens.<br />
Wilhelm Lange sagt zu seiner Frau Else:<br />
»Siehst du, jetzt kriegen die Russen noch einmal eins auf die<br />
Mütze.«<br />
In der Nacht steigen einige Männer in ein Auto und verlassen<br />
Greifswald Richtung Anklam. Nationalsozialisten, die<br />
an die Sache geglaubt haben, vielleicht auch nur Mitläufer, die<br />
jetzt versuchen zu retten, was zu retten ist. Sie beabsichtigen,<br />
mit den Russen zu verhandeln, möchten Greifswald kampflos<br />
übergeben. Ihr Weg führt an Hanshagen vorbei, einem kleinen<br />
Dorf mitten im Wald. Dort hätten die Jungen des HJ-Panzervernichtungstrupps<br />
gelegen, eingegraben im weichen Waldboden,<br />
die Finger am Abzug. Sie hätten die Magazine ihrer Sturmgewehre<br />
leer geschossen, wenn auch nur ein Fetzen weißen Stoffes<br />
irgendwo sichtbar geworden wäre; sie haben aufrichtig und<br />
wahrhaftig geglaubt, das Recht zu haben, einen Heldentod zu<br />
sterben.<br />
Die Parlamentäre glauben an nichts mehr, nicht einmal an<br />
sich selber, alle Sicherheiten sind hinweg gefegt, alles ist beliebig<br />
geworden, wechselbar; lediglich die Erkenntnis hat sie ergriffen,<br />
dass der Tod für jeden Einzelnen endgültig und unumkehrbar ist,<br />
ähnlich einem Wassertropfen im Inferno der brennenden Stadt<br />
Anklam – niemand wird die verstreuten Moleküle wieder zusammenfügen<br />
können.<br />
Im Flammenmeer von Anklam unterzeichnen sie den Kapitulationsvertrag<br />
mit den Russen: Es darf nicht geschossen werden,<br />
es darf nichts gesprengt werden, es darf nicht geplündert<br />
werden.<br />
16
Die Sieger ziehen in Greifswald ein. Sie liegen apathisch auf Strohballen,<br />
braune Pferde mit schwarzen zottigen Mähnen ziehen ihre<br />
Panjewagen. Der Tross bewegt sich an unzerstörten Häusern und<br />
Kirchen vorbei und gleicht einem Bauernzug durch die russische<br />
Steppe. Ein Soldat zielt aus der Hüfte träge mit der Maschinenpistole<br />
auf die gaffenden Menschen am Straßenrand.<br />
Zur gleichen Zeit erobern seine roten Kameraden Demmin, die<br />
kleine Stadt am Zusammenfluss von Peene, Tollense und Trebel.<br />
Sie lassen nicht viel übrig von der alten Hansestadt. Angestachelt<br />
von fanatischen Nazischergen, gesprengten Brücken, schreienden<br />
Frauen, brüllenden Kindern und eigener Blindwütigkeit,<br />
plündern sie die Vorräte der Schnapsbrennerei, vergewaltigen<br />
und morden besinnungslos. Sie rächen sich für alles, was man<br />
Mütterchen Russland angetan hat und was Mütterchen Russland<br />
ihnen antut. Sie tanzen Kasatschok, als sich die Frauen mit ihren<br />
Kindern in der Peene ertränken, Gift aus den Regalen der Apotheken<br />
reißen, die Halbwüchsigen den Alten mit der Schere die<br />
Pulsadern zerhacken; sie besaufen sich neben den Selbstmördern,<br />
schießen wahllos in die Herde von Menschen, in die Stampede<br />
aus Menschenleibern, die rasend vor Verzweiflung nur noch den<br />
Tod im Sinn hat, am Sinn des Lebens irregeworden.<br />
Wilhelm Lange steht schweigend am Straßenrand, presst wie<br />
viele andere einen weißen Tuchfetzen vor die Brust; unverarbeiteter<br />
Stoff von einem Ballen, mit dem der Schneider auch Nachbarn<br />
versorgt.<br />
Ein kleines Mädchen sagt:<br />
»Die Pferde der Untermenschen sind ja kleiner als unsere!«<br />
Lange zischt:<br />
»Halt´s Maul, oder willst du uns unglücklich machen?«<br />
Um das Kind entsteht ein leerer Kreis.<br />
Anschließend geht Lange nach Hause; der kleine eiserne Ofen<br />
in der Schneiderstube prasselt, seine Frau hat ihn angeheizt.<br />
Er zieht den Teppich weg, der einen Teil des braunen Linoleumbodens<br />
bedeckt, und öffnet eine Falltür zu einer Treppe, die<br />
hinunter in den Hof führt; der untere Zugang ist immer verschlossen.<br />
Auf der Treppe liegen Gegenstände, die sich im Laufe<br />
eines Schneiderlebens angesammelt haben und jetzt nicht mehr<br />
zu den Dingen des täglichen Bedarfs gehören. Ganz oben befin-<br />
17
det sich die zusammengerollte Hakenkreuzfahne; er erreicht sie<br />
mit der Hand, ohne auf die Treppe steigen zu müssen. Mit der<br />
großen Schere zerteilt er die Fahne und wirft Stück für Stück in<br />
den Ofen. Damit fertig, nimmt er einen roten Stoffballen vom<br />
Schneidertisch und platziert ihn auf die oberste Stufe der Treppe.<br />
Dann verschließt er die Öffnung wieder mit der Falltür und zündet<br />
sich eine Zigarette an.<br />
Richard, der Vater von Werner ist zurück. Er hat sich durchgeschlagen,<br />
spricht aber nicht viel. Seine Frau Gertrud ist ein Nervenbündel<br />
und redet ständig davon, dass sie unbedingt etwas tun<br />
müssten.<br />
Jetzt sitzt Richard mit Wilhelm Lange in dem Haus in der<br />
Langen Reihe 52 zusammen am Tisch; Wilhelms Frau Else bereitet<br />
eine Gans zu, der Duft zieht aus der kleinen Küche durch<br />
das Schlafzimmer in das Wohnzimmer. Wilhelm Lange näht für<br />
die Russen und erhält seinen Lohn in Naturalien. Gestern hatte<br />
er die Maße von einem russischen Offizier für einen Anzug<br />
aus grauem Zwirn genommen. Zwei Stunden später lagen zwei<br />
schneeweiße tote Gänse vor der Tür im Flur.<br />
Richard bietet Wilhelm eine Zigarette an und sagt:<br />
»Irgendwas müssen wir tun, die wird sonst noch verrückt, die<br />
Gertrud.«<br />
Wilhelm saugt den Rauch tief in die Lunge, die faltigen Wangen<br />
bilden auf beiden Seiten Vertiefungen. Er blickt eine Weile<br />
zum Fenster und sagt dann:<br />
»Sie haben die Buben in Kirchdorf verscharrt. Holt den Werner<br />
da raus und beerdigt ihn anständig. Er hat es verdient.«<br />
Dann denkt er: wenn Werner und die anderen nicht drauf gegangen<br />
wären, hätten die auf die Russen geschossen und die hätten<br />
alles zerschossen, uns erschossen und mir keine Gänse vor die<br />
Tür gelegt.<br />
Er zieht noch einmal tief an der kurz gewordenen Zigarette<br />
und sagt:<br />
»In gewisser Weise haben Werner und die anderen Jungs die<br />
Stadt gerettet.«<br />
Richard schweigt und Wilhelm geistert das Bruchstück eines<br />
Gedichtes durch den Kopf:<br />
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… der Heldentod ist unser Recht: Die Erde soll im Kern erzittern,<br />
wann fällt ihr tapferstes Geschlecht …<br />
Es ist alles erst so kurze Zeit her, doch es erscheint dem Schneider<br />
wie eine Ewigkeit.<br />
Es gelingt Richard und Gertrud Gless, ihren Sohn aus dem Massengrab<br />
in Kirchdorf auf den »Alten Friedhof« nach Greifwald zu<br />
überführen.<br />
Eine Geschichte in den Nachkriegswirren, über die Schneidermeister<br />
Wilhelm Lange genaueres berichten könnte.<br />
Die Inschrift auf dem Grabstein ist der Anstoß zu einer heftigen<br />
Diskussion innerhalb der Familie. Schließlich einigt man sich:<br />
Werner Gless<br />
Geboren 1930 – Gestorben 1945.<br />
19