Leseprobe Miyazaki - Einsnull
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JULIA NIEDER DIE FILME VON HAYAO MIYAZAKI
- Seite 2 und 3: Inhalt Vorwort 7 1. Anime: Geschich
- Seite 4 und 5: Vorwort nfang des Jahres 2003 künd
- Seite 6 und 7: 1. Anime: Geschichte und Besonderhe
- Seite 8 und 9: 1.1. Geschichte der japanischen Zei
JULIA NIEDER<br />
DIE FILME VON<br />
HAYAO MIYAZAKI
Inhalt<br />
Vorwort 7<br />
1. Anime: Geschichte und Besonderheiten des japanischen Zeichentrickfilms 9<br />
1.1. Geschichte der japanischen Zeichentrickindustrie 9<br />
1.2. Narration: Grundlagen und Besonderheiten japanischer Erzählkunst 13<br />
1.3. Ästhetik: Grundlagen und Besonderheiten japanischer Zeichenkunst 16<br />
1.4. Ton: Auswirkungen ästhetischer und dramatischer Konzepte 20<br />
2. Hayao <strong>Miyazaki</strong>: Biografie und Werk 21<br />
3. Eigene Akzente innerhalb eines etablierten Kanons:<br />
LUPIN SANSEI: CAGLIOSTRO NO SHIRO /CASTLE OF CAGLIOSTRO 24<br />
3.1. Die Serie: Narration und Ästhetik am Beispiel der Episode LUPIN IS BURNING 25<br />
3.2. Der Film: Narration und Ästhetik von CASTLE OF CAGLIOSTRO 28<br />
3.3. Zusammenfassung 36<br />
4. Verfremdung eines Heldenepos:<br />
KAZE NO TANI NO NAUSICAÄ /NAUSICAÄ AUS DEM TAL DER WINDE 37<br />
4.1. Narration: Die Struktur des Mythos 38<br />
4.2. Erwachen einer Heldin: Etablierung der Hauptfigur und ihrer Alltagswelt 39<br />
4.3. Von Gewaltverzicht und zögernden Antagonisten:<br />
Bruch mit Charakterstereotypen 43<br />
4.4. Gegner mit Gemeinsamkeiten: Rachsucht als innerer Konflikt 45<br />
4.5. Zusammenfassung 46<br />
5. Brücke zwischen Kulturen:<br />
TENKU NO SHIRO LAPUTA /CASTLE IN THE SKY 48<br />
5.1. Inhalt und Ästhetik 48<br />
5.2. Wandlungen: Die Welt in Abhängigkeit der Perspektive 50<br />
5.3. Mecha: Neutrale Technik und vertrauensunwürdige Nutzer 53<br />
5.4. Magic Girl: Die Macht des Weiblichen 56<br />
5.5. Zusammenfassung 58<br />
6. Die Magie des Alltäglichen:<br />
TONARI NO TOTORO /MY NEIGHBOR TOTORO 60<br />
6.1. Autobiografische Elemente und psychologischer Realismus 60<br />
6.2. Gegenläufige Entwicklung: Mei und Satsuki 62<br />
6.3. Verzahnung von Realität und Fantasie 65<br />
6.4. Zusammenfassung 67<br />
5
Inhalt<br />
7. Allegorie auf das Erwachsenwerden:<br />
MAJO NO TAKKYUBIN /KIKIS KLEINER LIEFERSERVICE 69<br />
7.1. Inhalt und Ästhetik 69<br />
7.2. Verankerung in der Realität: Verfremdung als narratives Mittel 72<br />
7.3. Flug als Metapher: Überwindung einer Krise 74<br />
7.4. Zusammenfassung 77<br />
8. Verwandlung als Metapher:<br />
KURENAI NO BUTA /PORCO ROSSO 79<br />
8.1. Eleganz und Genauigkeit: Die Ästhetik 79<br />
8.2. Ein ungewöhnlicher Held: Die Narration 80<br />
8.3. Die Verwandlung: Drei Deutungsvarianten 84<br />
8.4. Zusammenfassung 88<br />
9. Versöhnlicher Fatalismus:<br />
MONONOKEHIME /PRINZESSIN MONONOKE 89<br />
9.1. Ästhetik: Erster Einsatz digitaler Technik 90<br />
9.2. Narration: Rückkehr zu den Anfängen 91<br />
9.3. Polarität der Interessen:<br />
Versöhnlicher Vermittler im Kampf um knappe Ressourcen 96<br />
9.4. Differenzierterer Blick: Aufgreifen bekannter Themen und Motive 99<br />
9.5. Zusammenfassung 99<br />
10. Verschmelzung von Abenteuer- und Bildungsgeschichte:<br />
SEN TO CHIHIRO NO KAMIKAKUSHI /CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND 101<br />
10.1. Zäsur in der Produktionstechnik: Digitale Revolution im Ghibli-Studio 101<br />
10.2. Gewaltfreier Abenteuerfilm: Brechung des Charakterstereotyps 103<br />
10.3. Wandel in eine Bildungsgeschichte: Verlagerung der Aufmerksamkeit 105<br />
10.4. Gesellschaftskritik: Mangel an sozialer und kultureller Bildung 108<br />
10.5. Ein Studio als Badehaus: Deutungen des Regisseurs 110<br />
10.6. Zusammenfassung 111<br />
11. Das Innere sichtbar machen:<br />
HAURO NO UGOKU SHIRO /DAS WANDELNDE SCHLOSS 112<br />
11.1. Narration: Adaption einer märchenhaften Vorlage 113<br />
11.2. Verwandlungen: Die Psyche sichtbar machen – Metamorphose als Leitmotiv 119<br />
11.3. Zusammenfassung 122<br />
12. Schlusswort 124<br />
Quellenverzeichnis 131<br />
Besprochene Filme 131<br />
Zitierte Literatur 132<br />
Forschungsliteratur 133<br />
6
Vorwort<br />
nfang des Jahres 2003 kündigte der<br />
Disney-Vorsitzende Michael Eisner<br />
die Schließung der weltweit traditionsreichsten<br />
Zeichentrickstudios an. Die<br />
Ankündigung kam nicht überraschend: Bereits<br />
seit 1997 war die Belegschaft der<br />
Zeichentricksparte des Disney-Konzerns<br />
um rund zwei Drittel reduziert worden.<br />
Ebenfalls im Jahr 2003 setzte sich der<br />
japanische Filmemacher Hayao <strong>Miyazaki</strong><br />
mit seinem im klassischen Zeichentrickstil<br />
gehaltenen CHIHIROS REISE INS ZAUBER-<br />
LAND bei der Oscarverleihung in der Kategorie<br />
bester Animationsfilm auch gegen<br />
3D-Animationen durch. An den japanischen<br />
Kinokassen hatte der Zeichentrickfilm<br />
den Einnahmerekord von James Camerons<br />
TITANIC übertroffen. Bereits ein<br />
Jahr zuvor war CHIHIROS REISE INS ZAU-<br />
BERLAND bei den Berliner Filmfestspielen<br />
gemeinsam mit dem britischen BLOODY<br />
SUNDAY als bester Film im Wettbewerb<br />
ausgezeichnet worden. Seit 1951, als bei<br />
der ersten Berlinale Disneys CINDERELLA<br />
den Goldenen Bären gewann, war kein Zeichentrickfilm<br />
mehr im Wettbewerb gezeigt<br />
worden. 2005 schließlich wurde <strong>Miyazaki</strong><br />
als erster Animationsregisseur überhaupt<br />
bei den Filmfestspielen in Venedig für sein<br />
Lebenswerk mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet.<br />
Akira Kurosawa, Jahrzehntelang<br />
der weltweit bekannteste japanische<br />
Filmemacher, bewunderte <strong>Miyazaki</strong> für<br />
seine Bildsprache. Und John Lassetter,<br />
Gründer des 3D-Animationsstudios Pixar<br />
gestand, sein Studio nach dem Vorbild des<br />
von <strong>Miyazaki</strong> mitbegründeten Ghibli-Studios<br />
aufgebaut zu haben und zeigte sich<br />
insgesamt als Fan seines japanischen Kollegen:<br />
«From a pure filmmaking standpoint,<br />
his staging, his cutting, his action<br />
scenes are some of the best ever put on<br />
film, whether animated or not. (…) Watching<br />
one of his films is the best medicine<br />
when you have writer’s block. When we at<br />
Pixar feel that we’re beating our heads<br />
against the wall, we go in the screening<br />
room and put on a laser disc and watch one<br />
of his films and it’s like, whoa, look what<br />
he did. It’s inspiration to power through<br />
that brick wall.» 1<br />
Gerne wird Hayao <strong>Miyazaki</strong> wegen seines<br />
großen Erfolgs und der Rolle als Studiomitbegründer<br />
mit Walt Disney verglichen.<br />
2 Seine Filme zeigen jedoch eine ganz<br />
andere Qualität. Disney erzählte auf Basis<br />
bestehender Märchen und Abenteuererzählungen<br />
an Kinder gerichtete Musicals<br />
und legte dabei den Schwerpunkt auf möglichst<br />
flüssige, realitätsgetreue Animation.<br />
<strong>Miyazaki</strong> hingegen führt die Zuschauer<br />
stets in komplexe Phantasiewelten, in denen<br />
er Zitate und Versatzstücke östlicher<br />
und westlicher Mythen, Märchen und Legenden<br />
zu einem eigenen Kosmos verknüpft.<br />
Besonderen Wert legt der Regisseur<br />
dabei insbesondere auf psychologischen<br />
Realismus und die Vermeidung stereotyper<br />
Plotverläufe und Figurenkonstellationen.<br />
Seine Erzählungen sind stets<br />
vielschichtig und vereinen eine Reihe unterschiedlicher<br />
Interpretationsvarianten,<br />
deren Deutung zum Großteil den Zuschauern<br />
überlassen wird.<br />
Doch trotz seiner überragenden Stellung<br />
in der Zeichentrickindustrie sind<br />
<strong>Miyazaki</strong>s Filme in Europa und vor allem<br />
in Deutschland noch immer weitgehend unbekannt.<br />
Aus gutem Grund: Nur die aktuellsten<br />
drei Filme PRINZESSIN MONONOKE,<br />
1 Rick Lyman: A Darkly Mythic World From Japan Arrives in Hollywood. In: New York Times, 21.10.1999.<br />
2 Helen McCarthy: Hayao <strong>Miyazaki</strong> – Master of Japanese Animation, Berkeley 2002, S.10.<br />
7
Vorwort<br />
CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND und zuletzt<br />
DAS WANDELNDE SCHLOSS kamen regulär<br />
in die deutschen Kinos. Und erst im<br />
September 2005 hat Universum Film damit<br />
begonnen, auch ältere Filme <strong>Miyazaki</strong>s<br />
auf DVD zu veröffentlichen und in Sonderreihen<br />
auch auf der Leinwand zu präsentieren.<br />
Bis Ende 2006 sollen nun endlich,<br />
mit Ausnahme von dem frühesten<br />
Film CASTLE OF CAGLIOSTRO, alle Filme<br />
des Animationskünstlers in deutschsprachigen<br />
Synchronversionen auf DVD erhältlich,<br />
und auch im Kino zu sehen gewesen<br />
sein.<br />
Deutschsprachige Literatur zu <strong>Miyazaki</strong>s<br />
Werk ist allerdings noch immer rar -<br />
während die Britin Helen McCarthy mit<br />
«Hayao <strong>Miyazaki</strong> – Master of Japanese<br />
Animation» bereits 1999 ein erstes Buch<br />
über den Animationskünstler vorlegte,<br />
wurden im deutschsprachigen Raum bisher<br />
nur Filmkritiken und einige wenige Aufsätze<br />
über <strong>Miyazaki</strong> veröffentlicht. Das vorliegende<br />
Buch ist somit die erste deutschsprachige<br />
Einführung in das filmische<br />
Werk Hayao <strong>Miyazaki</strong>s. Es soll einen ersten<br />
Überblick über die Arbeiten, die Themen<br />
und die Philosophie des Filmemachers<br />
bieten, damit das Interesse an seinem<br />
Werk wecken und Lust darauf machen,<br />
sich noch weiter mit seinen Animationen<br />
auseinander zu setzen.<br />
8
1. Anime: Geschichte und Besonderheiten<br />
des japanischen Zeichentrickfilms<br />
ie Zeichentricksparte amerikanischen<br />
Filmindustrie in den<br />
vergangenen Jahren nahezu vollständig<br />
der digitalen Animation weichen.<br />
Selbst das traditionsreichste US-Animationsstudio<br />
Disney verzichtet inzwischen<br />
auf die handgezeichnete Animation. In<br />
Japan hingegen ist die Zeichentrickindustrie<br />
bis heute ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.<br />
Als Grundlage des anhaltenden<br />
Erfolgs gilt dabei die von Zeichner<br />
Osamu Tezuka eingeleitete Verzahnung<br />
von Manga (Comic) und Anime (Trickfilm)<br />
die zu einer bis heute zu beobachtenden,<br />
nahezu symbiotischen Beziehung<br />
zwischen den beiden Medien : Ein<br />
Großteil japanischer Zeichentrickfilme<br />
basiert auf zuvor publizierten Comics,<br />
umgekehrt entstanden auch einige Mangaserien<br />
auf Basis erfolgreicher Anime.<br />
Die Zielgruppe ist dabei wesentlich breiter<br />
gefächert als im amero-europäischen<br />
Raum üblich: Comics und Trickfilme werden<br />
nicht nur von Kindern und Jugendlichen,<br />
sondern insbesondere auch von Erwachsenen<br />
konsumiert.<br />
Wichtig den Erfolg der japanischen<br />
Zeichentrickindustrie war und ist jedoch<br />
auch die Konzentration auf die eigene Kultur,<br />
mit der sich Animationen auf dem japanischen<br />
Heimatmarkt gegen die frühe<br />
und starke Konkurrenz insbesondere aus<br />
den USA durchsetzen konnten. Trotz starker<br />
Prägung durch US-Zeichentrickfilme<br />
folgen die japanischen Animationen vielfach<br />
von westlichen Produktionen abweichenden<br />
narrativen und ästhetischen Ansätzen.<br />
1.1. Geschichte der japanischen Zeichentrickindustrie<br />
Die Zeichentrickindustrie Japans gilt heute<br />
als die Größte der Welt. Ihr Aufstieg begann<br />
jedoch erst in der Nachkriegszeit, mit<br />
zunehmender Verbreitung des Fernsehens.<br />
US-Produktionen, insbesondere die Arbeiten<br />
Disneys der Fleischer- Brüder, dominierten<br />
hingegen die Stummfilmzeit auch<br />
in Japan.<br />
Als Pioniere der japanischen Animationsindustrie<br />
gelten die Regisseure Seitaro<br />
Kitayama, Junichi Kouchi und Oten Shimokawa.<br />
1917 veröffentlichte Shimokawa mit<br />
IMOKAWA MUKUZO GENKANBAN NO MAKI<br />
(MUKUZO IMOKAWA THE DOORMAN, Japan<br />
1917) den ersten Animationsfilm Japans.<br />
Die mit Tinte direkt auf das Filmmaterial<br />
gezeichnete, fünfminütige Animation wurde<br />
leider, wie der Großteil der bis dahin entstandenen<br />
Zeichentrickfilme Japans, bei<br />
dem Erdbeben in Tokio 1923 zerstört. 1<br />
Thematisch griffen die frühen Animationen<br />
meist japanische Märchen, Legenden<br />
und Alltagsmythen auf. Der steigende<br />
Militarismus der frühen 1930er Jahre und<br />
schließlich der Ausbruch des sino-japanischen<br />
Krieges 1937 blieb nicht ohne Auswirkung<br />
auf die Animationsindustrie, deren<br />
zunehmend nach westlichem Vorbild produzierte,<br />
humoristische Cartoons zentralisiert,<br />
unter starker Kontrolle der Zensurbe-<br />
1 vgl. Helen McCarthy, Jonathan Clements: The Anime Encyclopedia – A guide to Japanese animation since 1917. Berkeley<br />
2001, S.108 f.<br />
9
1. Anime: Geschichte und Besonderheiten des japanischen Zeichentrickfilms<br />
Abb. 1 Szene aus MOMOTARO UMI NO SHIN-<br />
PEI (MOMOTARO’S DIVINE SEA WARRIORS, Japan<br />
1945)<br />
hörden entstanden und zu nicht unerheblichem<br />
Teil propagandistischen Zwecken<br />
dienten. So auch der erste abendfüllende<br />
Animationsfilm: Mituyo Seos MOMOTARO<br />
UMI NO SHINPEI (MOMOTARO’S DIVINE SEA<br />
WARRIORS, Japan 1945; Abb. 1), der nur<br />
wenige Monate vor Kriegsende, im April<br />
1945, veröffentlicht wurde, erzählt in 74<br />
Minuten von der Befreiung Malaysias und<br />
Indonesiens durch die japanische Marine. 2<br />
Mit Kriegsende fiel die Aufsicht der zuvor<br />
unter Kontrolle der japanischen Militärdiktatur<br />
stehenden Comicverlage und<br />
Animationsstudios der US-Besatzung zu.<br />
Da die populären Medien der Umerziehung<br />
der japanischen Bevölkerung dienen sollten,<br />
wurde insbesondere die Manga-Industrie<br />
stark gefördert. Trickfilme hingegen<br />
wurden zunächst in großen Mengen<br />
aus den USA importiert. 3 Überaus populär<br />
waren bis zum Einsetzen des TV-Zeitalters<br />
1953 neben den Manga auch die kamishibai<br />
(jap. = Papier-Theaterstücke). Bei dieser<br />
Form des Geschichtenerzählens boten<br />
von Hand bemalte Papptafeln den Hintergrund<br />
für die Erzählung, die teilweise zusätzlich<br />
mit Geräuscheffekten untermalt<br />
wurde. Allein im Raum Tokio gab es rund<br />
20 Firmen, die ausschließlich Storyboards<br />
für die kamishibai entwarfen. Häufig arbeiteten<br />
die kamishibai-Produzenten eng<br />
mit Manga-Verlagen zusammen, die die<br />
populärsten Geschichten der professionellen<br />
Erzähler in ihren Comics aufgriffen.<br />
Zwar wurden die kamishibai in den 50er<br />
Jahren zunehmend von der TV-Industrie<br />
verdrängt, die Zeichner jedoch fanden<br />
neue Arbeit in den wachsenden Manga-<br />
Verlagen und neu entstehenden Animationsstudios<br />
Japans.<br />
Die 1950er Jahre, in denen ein Studiosystem<br />
nach US-Vorbild entstand, gelten<br />
als die eigentliche Geburtsstunde der japanischen<br />
Zeichentrickindustrie. Wie stark<br />
auch von den Japanern selbst die Veränderung<br />
auf Grund von Professionalisierung<br />
empfunden wurde, zeigt sich unter anderem<br />
an den unterschiedlichen Bezeichnungen,<br />
die für die Trickfilme der Vor- und der<br />
Nachkriegszeit benutzt werden: In den<br />
Vorkriegs- und Kriegsjahren wurden Animationen<br />
noch als «doga» bezeichnet, die<br />
aus dem französischen entlehnte Bezeichnung<br />
«anime» setzte sich erst in den<br />
1950er Jahren durch. 4<br />
Das erste erfolgreich produzierende<br />
Animationsstudio Japans war die 1956 eröffnete<br />
Toei Animation Co., die sich in der<br />
japanischen Öffentlichkeit im Oktober<br />
1958 mit der abendfüllenden Zeichentrickanimation<br />
HAKUJADEN (PANDA AND THE<br />
MAGIC SERPENT, Japan 1958; Abb. 2) von<br />
Taiji Yabushita einen Namen machte. Der<br />
Film, der als erster moderner japanischer<br />
Animationsfilm gilt, war in Japan sehr erfolgreich<br />
und beeindruckte nach eigenen<br />
Aussagen auch den jungen Hayao <strong>Miyazaki</strong><br />
so stark, dass dieser erstmals mit dem<br />
Gedanken spielte, selbst sein Glück in der<br />
Animationsindustrie zu suchen. 5<br />
Im Jahresrhythmus veröffentlichte das<br />
Studio Toei weitere Animationsspielfilme,<br />
darunter auch 1960 den unter der Regie<br />
2 McCarthy, Clements S.259.<br />
3 vgl. Giannalberto Bendazzi: Cartoons – One hundred years of cinema animation. Indianapolis 2003, S.185 f.<br />
4 vgl. Antonia Levi: Samurai from Outer Space. Chicago 1996, S.20 ff.<br />
5 vgl. McCarthy, Clements S.291.<br />
10
1.1. Geschichte der japanischen Zeichentrickindustrie<br />
Abb. 2 HAKUJADEN (PANDA AND THE MAGIC<br />
SERPENT, Japan 1958)<br />
Abb. 4 TETSUWAN ATOMU (TETSUWAN<br />
ATOMU /ASTRO BOY, Japan 1963)<br />
von Taiji Yabushita entstandenen SAIYUKI<br />
(JOURNEY TO THE WEST, Japan 1960;<br />
Abb. 3), der auf einer von Osamu Tezuka<br />
verfassten Manga-Adaption einer chinesischen<br />
Legende basierte.<br />
Der 1928 geborene Chaplin- und Disney-Bewunderer<br />
Tezuka war in den 50er<br />
Jahren zum populärsten Comiczeichner<br />
Japans aufgestiegen. Sein an filmischer<br />
Ästhetik orientierter Zeichenstil mit großäugigen<br />
Cartoon-Figuren und bis dahin in<br />
Comics unbekannten Stilmitteln wie Ausschnittvergrößerungen<br />
oder ungewöhnlichen<br />
Perspektiven, sowie seine Hinwendung<br />
zu ernsteren, «erwachseneren» Stoffen<br />
war Basis und Inspiration für zahlreiche<br />
Nachfolger und gilt bis heute als richtungsweisend<br />
für die Manga-Industrie. 6<br />
Bei der Produktion von «Saiyuki» fungierte<br />
Tezuka noch als Berater, kurz darauf<br />
gründete er jedoch, inspiriert von TV-Animationen<br />
der britischen Hanna-Barbera<br />
Studios, mit Mushi Productions das erste<br />
TV-Zeichentrickstudio Japans. Nach einem<br />
experimentellen Film veröffentlichte Tezuka<br />
1963, basierend auf seinem eigenen<br />
Manga, mit TETSUWAN ATOMU (TETSUWAN<br />
ATOMU /ASTRO BOY, Japan 1963, 193 x<br />
30min.; Abb. 4) die erste wöchentlich ausgestrahlte<br />
TV-Serie. Nicht nur in Japan<br />
wurde die Science-Fiction Serie ein großer<br />
Erfolg, auch in den USA wurde sie unter<br />
dem Titel ASTRO BOY populär.<br />
Angelockt durch den Erfolg drängten<br />
weitere Studios auf den TV-Markt: Bis Ende<br />
1963 eröffneten drei weitere reine TV-Animationsstudios,<br />
während bestehende Studios<br />
wie Toei Animations sich nun ebenfalls<br />
der Produktion von Fernsehserien widmeten,<br />
so dass noch im selben Jahr sechs weitere<br />
Animationsserien in das japanische<br />
Fernsehprogramm aufgenommen wurden. 7<br />
Unter dem Zeit- und Kostendruck des<br />
TV-Markts entwickelten sich in Japan von<br />
US-Produktionen abweichende Animationsweisen:<br />
Die detailgetreue Präzision<br />
der Animation, insbesondere in der von<br />
Abb. 3 SAIYUKI (JOURNEY TO THE WEST, Japan<br />
1960)<br />
6 vgl. Bendazzi S.414 ff.<br />
7 vgl. Gilles Poirtras: Anime Essential: Every Thing a Fan Needs to Know. Berkeley 2001. S.17 ff.<br />
11
1. Anime: Geschichte und Besonderheiten des japanischen Zeichentrickfilms<br />
Disney bevorzugten hyperrealistischen,<br />
vollständigen Animation, wich der schneller<br />
und billiger zu produzierenden begrenzten<br />
Animation. Dient der vollständigen<br />
Animation die flüssig gezeichnete und<br />
konstante Bewegung als zentrales Gestaltungselement,<br />
ist zentrales Merkmal der<br />
begrenzten Animation die stark an Comic-Ästhetik<br />
angelehnte eher statische<br />
Anmutung. Diese entsteht, weil bei der begrenzten<br />
Animation nur einzelne Bildelemente<br />
zeichnerisch animiert werden. Dynamik<br />
erhalten begrenzt-animierte Produktionen<br />
durch die Verwendung verschiedener<br />
Techniken, wie etwa der mechanischen<br />
Manipulation der Animationsfolien,<br />
schnelle Schnitte und den Einsatz<br />
ungewöhnlicher Perspektiven in Kombination<br />
mit häufig actionreiche Erzählungen.<br />
Das grundlegende Ziel ist es dabei<br />
stets, die Zahl notwendiger Einzelbilder<br />
möglichst gering zu halten. 8<br />
Während sich die meisten japanischen<br />
Studios zunächst auf Science-Fiction-<br />
Produktionen konzentrierten, war es wiederum<br />
Tezuka, der, wie in den 1950er Jahren<br />
bereits auf dem Manga-Markt geschehen,<br />
nun auch in der Zeichentrickanimation<br />
eine starke Differenzierung der Genres<br />
vorantrieb und damit den Grundstein dafür<br />
legte, dass sich, beginnend etwa ab den<br />
späten 1970er Jahren, Zeichentrick als<br />
akzeptable Form auch der Erwachsenenunterhaltung<br />
in der japanischen Gesellschaft<br />
etablierte. 9 Neben dem dominierenden<br />
Science Fiction-Genre sowie Märchen<br />
und Mythen wurden zunehmend auch animierte<br />
Romanzen, Sportfilme, Historienfilme,<br />
Literaturadaptionen und Erotikfilme<br />
veröffentlicht.<br />
Zwar musste Mushi Productions in den<br />
1970er Jahren seine Pforten schließen,<br />
Abb. 5 AKIRA (AKIRA, Japan 1988)<br />
doch die Entwicklung, die Tezuka angestoßen<br />
hatte, war nicht mehr aufzuhalten. Im<br />
Gegenteil: Mit Eröffnung des Videomarktes<br />
Mitte der 1980er Jahre kam der<br />
endgültige, schließlich auch internationale<br />
Durchbruch der japanischen Animationsindustrie.<br />
Neben TV-Serien und aufwändigen<br />
Kinoproduktionen entwickelte sich die<br />
so genannte Original Video Animation<br />
(OVA), mit direkt für den Videomarkt produzierten<br />
Animationen, zum dritten Standbein<br />
der Zeichentrickstudios. Internationale<br />
Aufmerksamkeit erregte Japans Animationsindustrie<br />
insbesondere durch die<br />
Veröffentlichung der von Katsuhiro Otomo<br />
inszenierten, an ein erwachsenes Publikum<br />
gerichteten, Tech-Noir-Animation AKIRA<br />
(AKIRA, Japan 1988; Abb. 5). 10<br />
Als finanziell erfolgreichstes Zeichentrickstudio<br />
Japans gilt heute das von den<br />
Animations-Regisseuren Hayao <strong>Miyazaki</strong><br />
und Isao Takahata als Tochterfirma des<br />
Comic-Verlags Tokuma Shoten 1985 gegründete<br />
Studio Ghibli. Das, nach der von<br />
italienischen Piloten geprägten Bezeichnung<br />
für einen heißen Wüstenwind benannte,<br />
Studio machte sich in Japan mit<br />
aufwändig produzierten, hyperrealistischen<br />
Kinoanimationen einen Namen und<br />
wurde inzwischen auch international mit<br />
zahlreichen Preisen ausgezeichnet. 11<br />
8 vgl. Levi 1996, S.21.<br />
9 vgl. Poirtras S.20.<br />
10 vgl. Poirtras S.22 ff.<br />
11 vgl. Toshio Suzuki: Studio Ghibli – Vergangenheit und Gegenwart. In: Tokuma Shoten (Hrsg.): Prinzessin Mononoke<br />
– Das Buch zum Film. Hamburg 2001, S.218ff.<br />
12