Substanzielle und Personale Identität - Sammelpunkt bei philo.at
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<strong>Substanzielle</strong> <strong>und</strong> <strong>Personale</strong> <strong>Identität</strong><br />
Hans Burkhardt, München<br />
Vorbemerkung<br />
Die im Titel vorkommenden Ausdrücke sind<br />
sämtlich termini technici der Philosophie, von denen jeder<br />
seine eigene Geschichte aufweist. Auf die längste kann die<br />
Substanz zurückblicken, die von Aristoteles eingeführt<br />
wurde. Was die <strong>Identität</strong> angeht, so h<strong>at</strong> Aristoteles das<br />
Leibnizprinzip bereits in seiner Topik formuliert. Er<br />
verwendet es allerdings nicht als architektonisches Prinzip<br />
seiner Philosophie, wie es später Leibniz t<strong>at</strong>. Person<br />
wurde erst später zum terminus technicus der Philosophie.<br />
Das Eigentümliche da<strong>bei</strong> ist, dass der Begriff der Person<br />
zunächst in die Rechtswissenschaft <strong>und</strong> die Theologie<br />
Eingang fand, bevor er schließlich in der Philosophie<br />
landete. Dieser Aufs<strong>at</strong>z versucht einerseits die Beziehung<br />
zwischen Substanz <strong>und</strong> Person zu klären <strong>und</strong> andererseits<br />
die doppelte <strong>Identität</strong> von Substanzen <strong>und</strong> Personen<br />
darzustellen.<br />
1. Aristoteles<br />
In seiner K<strong>at</strong>egorienschrift h<strong>at</strong> Aristoteles das<br />
ontologische Quadr<strong>at</strong> präsentiert, in dem es neben<br />
individuellen <strong>und</strong> universellen Substanzen - auch erste <strong>und</strong><br />
zweite Substanz genannt - individuelle <strong>und</strong> universelle<br />
Eigenschaften gibt. Erste oder individuelle Substanzen<br />
unterscheiden sich von den anderen Entitäten durch eine<br />
Reihe von Kriterien: Sie sind jeweils das letzte Glied der<br />
Inhärenz <strong>und</strong> der Prädik<strong>at</strong>ion, sie können Konträres<br />
aufnehmen, d.h. es können ihnen konträre Akzidenzien<br />
wie rot <strong>und</strong> grün, heiß <strong>und</strong> kalt inhärieren, sie können<br />
kausale Beziehungen eingehen <strong>und</strong> sie bestehen über die<br />
Zeit hinweg, d.h. <strong>bei</strong> all diesen Veränderungen, die nur<br />
akzidentelle Veränderungen sind, bleibt ein Kern<br />
bestehen, den Aristoteles hypokeimenon nennt, von der<br />
Scholastik später mit substr<strong>at</strong>um übersetzt.<br />
Aristoteles h<strong>at</strong> dann in anderen Schriften neue<br />
Varianten des Substanzbegriffes entwickelt, so z.B. in der<br />
Physik, in der Metaphysik <strong>und</strong> in de Anima. Bei all diesen<br />
Varianten ist der Bestand über die Zeit eine Konstante.<br />
Substanzen sind Entitäten, die sich zwar verändern aber<br />
trotz dieser Veränderung weiter bestehen.<br />
In de Anima kommt eine neue Art von Substanz<br />
hinzu, die für die Entwicklung des Substanzbegriffes<br />
gr<strong>und</strong>legend sein wird. Aristoteles analysiert in dieser<br />
Schrift nicht-körperliche Substanzen oder Seelen <strong>und</strong> stellt<br />
fest, dass es davon verschiedene Arten gibt, denen<br />
verschiedene Vollkommenheiten zugeordnet werden<br />
können. Zunächst die anima veget<strong>at</strong>iva, die für Ernährung,<br />
Fortpflanzung <strong>und</strong> Wachstum zuständig ist, dann die<br />
anima sensitiva, zu deren Vollkommenheiten<br />
Wahrnehmung <strong>und</strong> Gedächtnis gehören, <strong>und</strong> letztlich die<br />
anima r<strong>at</strong>ionalis, die Denken, also das Operieren mit<br />
Begriffen <strong>und</strong> dadurch auch die Einsicht in notwendige<br />
Wahrheiten samt ein Gedächtnis für solche Wahrheiten mit<br />
sich bringt.<br />
Pflanzen begnügen sich mit einer anima<br />
veget<strong>at</strong>iva, Tiere habe zusätzlich eine anima sensitiva, <strong>und</strong><br />
Menschen setzen eine anima r<strong>at</strong>ionalis darauf. Nach oben<br />
besteht also eine kumul<strong>at</strong>ive Beziehung. Man kann <strong>bei</strong> den<br />
höchsten Substanzen alle drei Seelen beobachten. In<br />
diesem Falle sind die Seelenteile zwar unterscheidbar,<br />
aber nicht voneinander abtrennbar. De anima ist voll<br />
mereologischer Analysen; Aristoteles unterscheidet an<br />
vielen Stellen zwischen rein distinktionellen oder nichtabtrennbaren<br />
<strong>und</strong> echten, d.h. abtrennbaren Teilen.<br />
Wichtig ist auch, dass schon <strong>bei</strong> Aristoteles ein<br />
Konkurenzbegriff sowohl für Substanz als auch für Person<br />
aus dem Rennen ausscheidet, denn er kennt auch<br />
Individuen im Bereich der Akzidenzien, also individuelle<br />
Akzidenzien. Individuum-Sein oder Individualität ist damit<br />
nicht auf Substanzen beschränkt.<br />
2. Boethius<br />
Anicius Manlius Severinus Boethius (480-523) h<strong>at</strong><br />
als erster Philosoph Person definiert. Der Aristoteliker<br />
Boethius weiß, dass der Ausdruck „Individuum“ wegen der<br />
individuellen Akzidenzien zweideutig ist <strong>und</strong> verwendet<br />
den Ausdruck „N<strong>at</strong>ur“. Er kennt sich in den Verästelungen<br />
der Arbur Porphyriana gut aus <strong>und</strong> unterscheidet vier<br />
Arten von N<strong>at</strong>uren, nämlich die von genera, Substanzen,<br />
Körper <strong>und</strong> Akzidenzien. Seine Definition lautet dann:<br />
Persona est n<strong>at</strong>urae r<strong>at</strong>ionabilis individua substantia.<br />
Person ist die individuelle Substanz einer r<strong>at</strong>ionalen N<strong>at</strong>ur.<br />
Akzidenzien scheiden zunächst aus, dann zweite<br />
Substanzen, d.h. genera, <strong>und</strong> letztlich Körper, die nicht<br />
weiter differenziert sind. Personen sind also individuelle<br />
Substanzen der höchsten Art, nämlich Substanzen, die<br />
über R<strong>at</strong>ionalität verfügen, die also urteilen <strong>und</strong> denken<br />
können. Da<strong>bei</strong> wird allerdings der St<strong>at</strong>us der R<strong>at</strong>ionalität<br />
nicht klar, d.h. ob es genügt, dass Personen r<strong>at</strong>ional waren<br />
<strong>und</strong> es nicht mehr sind wie Hirnverletzte oder es noch<br />
nicht sind aber sein werden wie Kinder, oder ob die<br />
R<strong>at</strong>ionalität als Disposition vorliegen muss, die jederzeit<br />
aktual verfügbar ist, also in Aktion treten kann.<br />
Wie <strong>bei</strong> Aristoteles gibt es <strong>bei</strong> Boethius<br />
offensichtlich den Begriff des Bewusstseins noch nicht,<br />
doch <strong>bei</strong>de kennen durchaus reflexive Akte <strong>und</strong><br />
Funktionen des Verstandes, die man später als konstitutiv<br />
für das Bewusstsein angesehen h<strong>at</strong>.<br />
3. Thomas von Aquin<br />
Thomas kennt bereits vier verschiedene<br />
Definitionen von Person, doch er gibt sich mit der ersten<br />
von Boethius zufrieden. Er bezieht Person vor allem auf<br />
Handlungen.<br />
Das Partikuläre <strong>und</strong> Individuelle wird in einer<br />
speziellen <strong>und</strong> vollkommenen Weise in r<strong>at</strong>ionalen<br />
Substanzen gef<strong>und</strong>en, die Herren über ihre eigenen<br />
Handlungen <strong>und</strong> nicht nur Objekt von Handlungen sind,<br />
wie andere, die also selbst handeln können. Handlungen<br />
sind charakteristisch für Individuen. Und so haben unter<br />
den Substanzen die Individuen mit r<strong>at</strong>ionaler N<strong>at</strong>ur einen<br />
eigenen Namen: dieser Name ist „Person“.<br />
Personen sind also für Thomas individuelle<br />
r<strong>at</strong>ionale Substanzen, die selbständig oder autonom<br />
handeln können <strong>und</strong> deshalb verantwortlich für ihre<br />
Handlungen sind. Der Handlungsbegriff tritt <strong>bei</strong> der<br />
38
<strong>Substanzielle</strong> <strong>und</strong> <strong>Personale</strong> <strong>Identität</strong> - Hans Burkhardt<br />
Charakterisierung der Person in den Mittelpunkt. Zur<br />
Fähigkeit des Urteilens <strong>und</strong> Denkens kommt noch die des<br />
autonomen Handelns. Damit schränkt sich der Kreis der<br />
Kandid<strong>at</strong>en für das Person-Sein noch weiter ein. Die<br />
species Mensch, die als r<strong>at</strong>ionale, lebende Substanz<br />
definiert ist, erhält als weitere Differenzen: T<strong>at</strong>sächlich<br />
über R<strong>at</strong>ionalität verfügen <strong>und</strong> autonom handeln können<br />
<strong>und</strong> damit auch für seine Handlungen verantwortlich sein.<br />
Damit wird allerdings kein neues Individuum geschaffen,<br />
sondern die R<strong>at</strong>ionalität wird näher bestimmt <strong>und</strong> damit die<br />
individuelle Substanz weiter differenziert.<br />
4. Duns Scotus <strong>und</strong> Ockham<br />
Die Franziskaner bringen zwei neue ontologische<br />
Aspekte in die Diskussion um die Person ein: Duns Scotus<br />
die Dependenz <strong>und</strong> Ockham die Mereologie. Duns Scotus<br />
unterscheidet eine dependentia actualis, potentialis <strong>und</strong><br />
aptitudinalis. Ockham versteht die Person als suppositum<br />
intellectuale.<br />
Suppositum est ens completum, non constituens<br />
aliquod ens unum, non n<strong>at</strong>um alteri inhaerere, nec ab<br />
aliquo sustentificari. N<strong>at</strong>ura intellectualis completa quae<br />
nec sustentific<strong>at</strong>ur ab alio, nec est n<strong>at</strong>a facere per se<br />
unum cum alio sicut pars.<br />
Die Person ist nach Ockham ein vollständiges<br />
Seiendes das weder ein Konstituent eines anderen<br />
Seienden ist, noch einem anderen Seienden inhäriert,<br />
noch durch ein anderes Seiendes zu einer Substanz<br />
gemacht wird. Es wird weder durch Hinzufügung eines<br />
anderen zu einer Substanz gemacht, noch ist es dazu<br />
bestimmt als Teil eines anderen aufzutreten. Ockham<br />
versteht das suppositum intellectuale als mereologisch<br />
vollständiges Seiendes, dem weder etwas hinzugefügt<br />
werden muss, noch das einem anderen hinzugefügt wird,<br />
um in <strong>bei</strong>den Fällen ontologische Ganzheiten herzustellen.<br />
Bemerkenswert <strong>bei</strong> dieser Analyse ist, dass Ockham<br />
offensichtlich auf höherer Ebene ein suppositum<br />
intellectuale installiert, das für weitere Bestimmungen offen<br />
ist, die allerdings nicht mereologischer Art sein dürfen.<br />
5. Descartes<br />
Descartes bringt eine neue Sicht in die Philosophie<br />
ein, die mindestens langfristig auch den Begriff der Person<br />
beeinflusst. Er setzt auf die innere Erfahrung, d.h. er hält<br />
die Beobachtung unserer psychischen Akte für wichtiger<br />
als das, was uns die äußere Erfahrung mittels der Sinne<br />
liefert. Im Idealfall versorgt uns die innere Erfahrung mit<br />
klaren <strong>und</strong> deutlichen Begriffen.<br />
Descartes ist aber auch verantwortlich für die<br />
Auflösung des Substanzbegriffes, denn er spricht von res<br />
extensa <strong>und</strong> res cogitans, also von ausgedehnten <strong>und</strong><br />
denkenden Dingen <strong>und</strong> nicht von Substanzen. Für die<br />
Lebewesen, <strong>und</strong> das sind nur wir Menschen, ist das<br />
Denken die wichtigste Aktivität, Tiere haben nicht einmal<br />
Perzeptionen. Sie sind wie die Pflanzen Maschinen.<br />
Substanz bedeutet für Descartes völlige Unabhängigkeit.<br />
In diesem strengen Sinne ist nur Gott eine Substanz. Im<br />
weiteren Sinne auch noch die res cogitans, weil sie von<br />
ihrem Körper unabhängig ist.<br />
Bei Descartes gibt es erstmals ein Bewusstsein.<br />
Unsere wichtigste psychische Aktivität ist zudem nicht das<br />
Wahrnehmen, Fühlen oder Wollen, sondern das Denken.<br />
Res extensa <strong>und</strong> res cogitans sind streng getrennt.<br />
Körperliche <strong>und</strong> geistige <strong>Identität</strong> laufen parallel<br />
zueinander. Es gibt keinen gegenseitigen Einfluss.<br />
Descartes spricht zwar vom Ich, also von der<br />
ersten Person <strong>und</strong> ist sich seiner Existenz durch die innere<br />
Erfahrung sicher, aber er ist kein Philosoph des<br />
<strong>Personale</strong>n. Der Personbegriff kommt in seine Philosophie<br />
nur am Rande vor. Dafür bereitet er aber das Feld für<br />
weitere Überlegungen in diese Richtung. Wichtig ist, dass<br />
<strong>bei</strong> ihm das Bewusstsein sowohl die synchrone als auch<br />
die diachrone Einheit des Psychischen garantiert. Einheit<br />
des Körpers <strong>und</strong> Einheit der Seele sind für ihn primitive,<br />
d.h. teillose, nicht weiter analysierbare Begriffe.<br />
6. Locke<br />
Nicht den R<strong>at</strong>ionalisten, sondern dem Empiristen<br />
Locke verdanken wir die Subjektivierung des<br />
Substanzbegriffes. Er charakterisiert die Person als<br />
denkendes intelligentes Seiendes, das über Vernunft <strong>und</strong><br />
Reflexion verfügt <strong>und</strong> fähig ist sich selbst als sich selbst zu<br />
betrachten, nämlich als dasselbe denkende Ding zu<br />
verschiedener Zeit <strong>und</strong> an verschiedenem Ort. Dies schafft<br />
es nur durch dieses Bewusstsein, das vom Denken<br />
untrennbar ist, <strong>und</strong> wie es scheint, wesentlich für das<br />
Denken ist. Denn da Bewusstsein Denken immer begleitet<br />
<strong>und</strong> das ist, was jeden zu dem macht, was er ein Selbst<br />
nennt <strong>und</strong> wodurch er sich von anderen denkenden<br />
Objekten unterscheidet, darin allein besteht personelle<br />
<strong>Identität</strong>, d.h. Selbigkeit eines r<strong>at</strong>ionalen Seienden.<br />
Das Selbstbewusstsein konstituiert die personale<br />
<strong>Identität</strong>, Locke kennt keine dem Selbstbewusstsein<br />
vorausgehende Entität, sei es eine individuelle Substanz<br />
noch eine Person an: ”Personal identity consists not in the<br />
identity of substance, but in the identity of consciousness.“<br />
Wie später für Leibniz, spielt für Locke das<br />
Gedächtnis für die diachrone <strong>Identität</strong> der Person die<br />
entscheidende Rolle. Durch die Aneignung früherer<br />
Zustände meines Ichs werde ich für die Handlungen<br />
verantwortlich, die ich früher begangen habe, nicht<br />
aufgr<strong>und</strong> einer in der Zeit sich durchhaltenden Substanz.<br />
Triebkraft für dieses Verhalten des Menschen ist die Sorge<br />
um das zukünftige Glück. Diese Sorge führt dazu, dass<br />
sich der Mensch für seine Vergangenheit interessiert <strong>und</strong><br />
damit Selbstinteresse zeigt. Die Person ist für Locke das<br />
Ergebnis eines subjektiven Prozesses: “For wh<strong>at</strong>ever<br />
substance is, however framed, without consciousness,<br />
there is no person.”<br />
7. Leibniz<br />
Leibniz spricht in einigen Texten von Person <strong>und</strong><br />
vom Ich. Seine Ausgangsposition ist neu. Er knüpft an<br />
Descartes an, geht jedoch weit über dessen Position<br />
hinaus. Leibniz tut sich insofern leichter, als er von<br />
geistigen Substanzen ausgeht, die er später Monaden<br />
nennt. Auch sein Substanzbegriff stellt eine Reaktion auf<br />
die Auflösungstendenzen des Substanzbegriffs durch<br />
Descartes dar. Leibniz’ metaphysisches Inventar besteht<br />
aus Monaden, Perzeptionen <strong>und</strong> Appetitus. Monaden sind<br />
mereologisch primitiv, d.h. sie sind nicht weiter teilbar: Sie<br />
haben keine substantiellen Teile. Perzeptionen spiegeln<br />
die Gesamtheit der Welt wider, d.h. alle anderen Monaden<br />
samt ihrer Perzeptionen. Diese sind selbst komplexe<br />
Entitäten, d.h. sie haben Teile. Leibniz nennt diese Teile<br />
petites perceptions. Auch der Appetitus oder die<br />
appetition, die den Übergang von einer Perzeption zur<br />
anderen organisiert, ist mereologisch komplex. Leibniz<br />
spricht hier von petites inclin<strong>at</strong>ions, also von kleinen<br />
Neigungen oder Tendenzen. Der Appetitus macht das<br />
dynamische Prinzip der Monade aus <strong>und</strong> er ist deshalb für<br />
Leibniz’ Raum-Zeit Theorie gr<strong>und</strong>legend.<br />
39
<strong>Substanzielle</strong> <strong>und</strong> <strong>Personale</strong> <strong>Identität</strong> - Hans Burkhardt<br />
Um den metaphysischen St<strong>at</strong>us <strong>und</strong> Funktion von<br />
Apperzeptionen oder reflexiven geistigen Akten zu<br />
verstehen, muss man die schon erwähnte Unterscheidung<br />
von Seelen beachten. Man kann <strong>bei</strong> Leibniz von einfachen<br />
Monaden, Seelen <strong>und</strong> Geistern sprechen. Diese<br />
Hierarchie ist wie <strong>bei</strong> Aristoteles kumul<strong>at</strong>iv, d.h. Geister<br />
enthalten sowohl einfache Monaden als auch Seelen.<br />
Da<strong>bei</strong> ist allerdings zu beachten, dass die einfachen<br />
Monaden nicht der anima veget<strong>at</strong>iva entsprechen. Die<br />
anima veget<strong>at</strong>iva ist mit der anima sensitiva verschmolzen.<br />
Einfache Monaden habe mit Seele <strong>und</strong> Leben nichts zu<br />
tun.<br />
Im Falle der einfachen Monaden gibt es nur<br />
Perzeptionen <strong>und</strong> Appetitus. Auf jeden Appetitus folgt<br />
notwendigerweise eine Perzeption <strong>und</strong> auf jede Perzeption<br />
folgt notwendigerweise ein Appetitus. Jeder Appetitus<br />
erreicht zudem die ganze durch ihn angestrebte<br />
Perzeption <strong>und</strong> nicht nur einen Teil der Perzeption. Dazu<br />
kommt, dass einfache Substanzen nicht dominieren, d.h.<br />
sie werden nur dominiert <strong>und</strong> bilden so die untere<br />
Schranke in der Hierarchie der Monaden.<br />
Seelen oder animae sensitivae nehmen eine<br />
mittlere Position in der Hierarchie der Monaden ein. Sie<br />
verfügen zusätzlich zu den Perzeptionen, mit deren Hilfe<br />
sie das Universum widerspiegeln - im Gegens<strong>at</strong>z zu den<br />
einfachen Monaden - auch über ein Gedächtnis, nämlich<br />
für ein Gedächtnis über frühere Perzeptionen. Außerdem<br />
haben sie sowohl die Fähigkeit zu dominieren als auch<br />
dominiert zu werden.<br />
Geistseelen oder animae r<strong>at</strong>ionales bilden die<br />
oberste Gruppe der Monaden. Sie haben zusätzlich zu<br />
Perzeptionen <strong>und</strong> Appetitus auch Apperzeptionen, d.h.<br />
reflexive geistige Akte, wie sie Aristoteles schon in de<br />
Anima beschrieben h<strong>at</strong>. Damit kommt zum ersten mal<br />
Reflexivität in die Monadenhierarchie, denn die<br />
Perzeptionen sind irreflexiv, symmetrisch <strong>und</strong> transitiv.<br />
Apperzeptionen schaffen erst das Bewusstsein, denn ohne<br />
Reflexivität gibt es kein Bewusstsein <strong>und</strong> kreieren auch<br />
eine neu Art von Gedächtnis, nämlich neben dem<br />
Verstehen von notwendigen Begriffen <strong>und</strong> Aussagen im<br />
ontischen <strong>und</strong> deontischen Sinne, auch die Erinnerung an<br />
sie, d.h. an Wahrheiten, die so <strong>und</strong> nicht anders sein<br />
können <strong>und</strong> an juristische <strong>und</strong> moralische Normen. Leibniz<br />
spricht deshalb im Zusammenhang mit der<br />
Gedächtnisfunktion der Apperzeptionen auch immer vom<br />
Ich, von Person <strong>und</strong> Verantwortung. In Discourse de<br />
Métaphysique von 1686 gibt er ein eindrucksvolles<br />
Beispiel für die Wichtigkeit von Apperzeptionen <strong>und</strong> ihre<br />
Reflexions- <strong>und</strong> Gedächtnisfunktion für die Konstitution<br />
des Ich, von personaler Kontinuität <strong>und</strong> Verantwortung.<br />
Dem Ich kommt da<strong>bei</strong> eine einheitsstiftende Funktion für<br />
alle psychischen Akte zu.<br />
In der Monadologie erwähnt Leibniz zusätzliche<br />
Eigenschaften von Geistern oder Geistseelen: Der<br />
Appetitus oder in diesem Falle der Wille erreicht nicht<br />
immer die ganze angestrebte Perzeption, sondern<br />
manchmal nur einen Teil von ihr. Außerdem gibt es zwar<br />
immer eine Unendlichkeit von Perzeptionen, aber nicht<br />
immer Apperzeptionen. Die gibt es nur, wenn das<br />
Bewusstsein funktioniert, also nicht im Schlaf oder <strong>bei</strong><br />
Bewusstlosigkeit. Leibniz beschreibt zudem Zustände, in<br />
denen die Apperzeptionen keine Rolle spielen, <strong>und</strong> wir uns<br />
auf der Stufe der anima sensitiva befinden, d.h. wir geben<br />
uns mit Perzeptionen zufrieden. Geistseelen dominieren<br />
zwar, können aber nicht dominiert werden. Dies schließt<br />
sie nach oben ab <strong>und</strong> verhindert gleichzeitig, dass es so<br />
etwas wie eine Weltseele gibt, von der die einzelnen<br />
Monaden nur Teile sind.<br />
H<strong>at</strong> die Apperzeption Teile wie Perzeptionen oder<br />
Appetitus? Leibniz kennt keine petites apperceptions, aus<br />
denen sich die Apperzeptionen in Analogie zu den<br />
Perzeptionen zusammensetzen. Qua psychische Akte<br />
haben die Apperzeptionen genauso Teile wie die<br />
Perzeptionen, auch als Begriffe können sie nicht teillos<br />
sein, denn sie sind sicher keine primitiven Begriffe.<br />
Apperzeptionen sind offensichtlich psychische Akte, die<br />
zusammengesetzte Begriffe enthalten, die wiederum<br />
Metaideen entsprechen, mit deren Hilfe wir der<br />
Perzeptionen oder auch anderer Apperzeptionen gewahr<br />
werden. Garantiert die von Brentano beschriebene<br />
Autom<strong>at</strong>ik die Einheit des reflexiven Bezuges?<br />
Haben Personen qua Personen Teile? Individuelle<br />
Substanzen sind Körper <strong>und</strong> damit integrale Ganze <strong>und</strong><br />
habe als solche Teile, wesentliche Teile, deren<br />
Abtrennung zur Zerstörung der Substanz führen <strong>und</strong><br />
unwesentliche, die abgetrennt werden können. Personen<br />
qua individuelle Substanzen haben sicher Teile, sowohl<br />
körperliche als auch zeitliche, d.h. Phasen. Personen sind<br />
durch eine Verfügbarkeit ihrer R<strong>at</strong>ionalität für Denken,<br />
Urteilen <strong>und</strong> Handeln gekennzeichnet. Diese Verfügbarkeit<br />
h<strong>at</strong> keine Teile.<br />
Leibniz Beitrag zur Philosophie der Person ist<br />
gr<strong>und</strong>legend <strong>und</strong> wichtig. Monaden sind geistige<br />
Substanzen, deren petites perceptions eine substanzielle<br />
Kontinuität <strong>und</strong> <strong>Identität</strong> garantieren. Da dominierte<br />
Monaden passiv <strong>und</strong> damit Körper sind, gewährleisten sie<br />
auch die <strong>Identität</strong> von Körpern, die nach Leibniz dem rein<br />
phänomenalen Bereich angehören. Perzeptionen bilden<br />
noch kein Bewusstsein, weil sie nicht reflexiv sind. Dazu<br />
sind reflexive geistige Akte oder Apperzeptionen nötig,<br />
denn Bewusstsein ist für Leibniz identisch mit<br />
Selbstbewusstsein. Da das Bewusstsein nicht immer über<br />
solche Akte verfügt - Leibniz vertritt die Ansicht, dass wir<br />
uns in ¾ der Fälle mit Perzeptionen begnügen müssen -<br />
postuliert er für die Konstituierung der Person eine neue<br />
Art von Gedächtnis, nämlich ein Gedächtnis für<br />
notwendige Wahrheiten <strong>und</strong> zwar sowohl für alethische als<br />
auch für deontische Modalitäten. Erst der Zugang zur Welt<br />
der Ideen samt dieser Art von Gedächtnis macht<br />
individuelle Substanzen zu Personen, die fähig sind<br />
Verantwortung für ihre Handlungen zu übernehmen.<br />
8. Hume<br />
Hume führt den Ans<strong>at</strong>z von Locke konsequent<br />
weiter <strong>und</strong> gibt den Substanzbegriff ganz auf:<br />
Th<strong>at</strong> wh<strong>at</strong> we call mind, is nothing but a heap or<br />
collection of different perceptions, united together by<br />
certain rel<strong>at</strong>ions, and supposed, though falsely, to be<br />
endowed with a perfect simplicity and identity.<br />
Es gibt nach Hume keine von der Wahrnehmung<br />
unterschiedene Selbstwahrnehmung, die den<br />
Personbegriff oder die Idee des Selbst rechtfertigen würde.<br />
But self or person is not any one impression, but<br />
th<strong>at</strong> to which our several impressions and ideas are<br />
supposed to have a reference.<br />
Jeder Mensch ist nur ein “b<strong>und</strong>le or collection of<br />
different perceptions, which succeed each another with an<br />
unconceivable rapidity and there is a perpetual flux and<br />
movement.” Die personale <strong>Identität</strong> ist eine Fiktion. Die<br />
<strong>Identität</strong>, die wir dem menschlichen Geist zuschreiben, ist<br />
nur eine fiktive <strong>und</strong> von der gleichen Art, wie wir sie<br />
Pflanzen <strong>und</strong> Tieren zuschreiben. Sie kann deshalb keine<br />
andere Ursache haben, sondern sie entstammt der<br />
gleichen Oper<strong>at</strong>ion der Einbildung gegenüber ähnlichen<br />
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<strong>Substanzielle</strong> <strong>und</strong> <strong>Personale</strong> <strong>Identität</strong> - Hans Burkhardt<br />
Gegenständen. Die <strong>Identität</strong> wird gestiftet durch die<br />
allgemeinen Assozi<strong>at</strong>ionsprinzipien der Ähnlichkeit <strong>und</strong> der<br />
Verursachung. Wenn wir keine Erinnerung hätten, dann<br />
hätten wir keinen Begriff von Verursachung, noch<br />
irgendeinen Begriff dieser Kette von Ursachen <strong>und</strong><br />
Wirkungen, die unsere Person <strong>und</strong> unser Selbst<br />
konstituieren.<br />
Hume erweist sich mit diesen Argument<strong>at</strong>ionen als<br />
reiner Psychologist. Über die Beschreibung von<br />
Assozi<strong>at</strong>ionen gehr seine Analyse psychischer Vorgänge<br />
nicht hinaus. Selbst die Reflexivität fällt weg, von<br />
ontologischer F<strong>und</strong>ierung ganz zu schweigen.<br />
Liter<strong>at</strong>ur<br />
Burkhardt H. and Smith B. (ed.) 1991 Handbook of Metaphysics<br />
and Ontology, Munich: Philosophia.<br />
Chisholm, R. 1976 Person and Object, London: Allan and Unwin.<br />
Ritter J. <strong>und</strong> Gründer K. (ed.) 1989 Historisches Wörterbuch der<br />
Philosophie. Band VII, Darmstadt: Wissenschaftliche<br />
Buchgesellschaft.<br />
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