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Braunschweigisches Jahrbuch 49.1968 - Digitale Bibliothek ...

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<strong>Digitale</strong> <strong>Bibliothek</strong> Braunschweig<br />

http://www.digibib.tu-bs.de/?docid=00042519<br />

Worte auch durchaus nehmen. Tatsächlich aber bringt Goethe durch die besondere<br />

Art und Weise, wie er die beiden Maschinen beschreibt, etwas zum Ausdruck,<br />

was sie zum vieldeutigen Symbolpaar werden läßt. Machen wir uns mit der Eigenart<br />

und Funktionsweise der bei den Stücke näher bekannt. Es waren feinmechanische<br />

Apparate in Menschen- und Tiergestalt, die darauf eingerichtet waren, Bewegungszusammenhänge<br />

und Tätigkeiten des lebenden Organismus nachzuahmen. Der<br />

Querflötenspieler brachte die Musik wirklich selbst hervor. Ein verborgenes Triebwerk<br />

befand sich im Inneren seines Körpers und des Sockels. Im rhythmischen Auf<br />

und Ab der Blasebälge wurde ein Luftstrom erzeugt, der zum Mund geleitet<br />

wurde und dort die Flöte anblies. Die Finger hoben und senkten sich entsprechend<br />

über dem Instrument. Der ganze Mechanismus wurde zentral gesteuert durch eine<br />

Walze, auf der alle einzelnen Bewegungsabläufe mittels kleiner Stifte programmiert<br />

waren. Zwei solcher Walzen hat Goethe in seiner Beschreibung erwähnt. Der<br />

Mechanismus des Flötenspielers ist also als eine Nachbildung der Funktionen des<br />

menschlichen Brustraums anzusehen. Entsprechend handelte es sich bei der Ente um<br />

eine mechanische Studie zum Vorgang des Fressens und Verdauens.<br />

Der Schlüssel, den Goethe uns reicht, um den Symbolwert dieses Doppelbildes<br />

zu durchschauen, ist das Wort paralysirt. Es ist auf beide Automaten in gIeidter<br />

Weise bezogen. Paralyse ist in beiden Bereichen eingetreten, im rhythmisdt-musikalischen<br />

Bereich des Flötenspielers und im Stoffwechselbereidt, der durdt die Ente<br />

veranschaulicht wird. Der Flötenspieler war verstummt, und die Ente verdaute nicht<br />

mehr. Mit sparsamsten Mitteln versteht es der Dichter, in den Objekten und im<br />

Grad ihrer Verwahrlosung die bestimmenden Phänomene sprechen zu lassen. Und<br />

dann erkennt man noch ein Zusätzliches: es spiegeln sich darin seine eigenen Probleme.<br />

Der Dichter läßt durchblicken, wie er selbst, als der ankommende Gast, den Figuren<br />

gegenübertritt und erkennt: das, was Dir da gezeigt wird, bist im Grunde<br />

Du selbst. Der Zustand, in dem sich die beiden Maschinen befinden, gleicht Deinem<br />

eigenen Zustand. Daß eine solche Deutung berechtigt ist, läßt sich mit Hilfe des Schlüsselwortes<br />

paralysirt wahrscheinlich machen. Im achten Buch von Dichtung und<br />

Wahrheit, dort, wo vom Ende der Leipziger Universitätszeit die Rede ist, zählt der<br />

Dichter die Gründe auf, die zum Zusammenbruch seiner Kräfte und zur Krisis der<br />

Jahre 1768/70 geführt hatten 100):<br />

Der SChmerz auf der Brust, den iCh seit dem Auerstadter Unfall von Zeit zu Zeit empfand<br />

und der, nach dem Sturz mit dem Pferde, merklich gewachsen war, machte mich mißmuthig.<br />

Durch eine unglückliChe Diät verdarb iCh mir die Kräfte der Verdauung; das schwere Merseburger<br />

Bier verdüsterte mein Gehirn, der Kaffee, der mir eine ganz eigne triste Stimmung<br />

gab, besonders mit Milch nach Tische genossen, paralysirte meine Eingeweide und schien<br />

ihre Functionen völlig aufzuheben, so daß ich deßhalb große Beängstigungen empfand, ohne<br />

jedoch den Entschluß zu einer vernünftigeren Lebensart fassen zu können. Meine Natur, von<br />

binlänglichen Kräften der 'Jugend unterstützt, sChwankte zwischen den Extremen von ausgelassener<br />

Lustigkeit und melanCholischem Unbebagen.<br />

Bevor Goethe zu Beireis fuhr, war er, wir haben das angedeutet, wiederum in eine<br />

Krankheitskrise geraten. Aus vielem, was wir über diese Zeit wissen, geht hervor,<br />

daß der Dichter diese Krise wie eine psychisch-physische Lähmung empfand.<br />

100) W A 17. 185-186.

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