Rotes Grün
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3. Trügerische Erwartungen<br />
Der kardinale Fehler ist der nahezu vollständige Abbruch einer Theorietradition,<br />
die für Marx, Hilferding, Lenin, Gramsci und viele andere<br />
bis hin zu Keynes und Schumpeter eine Selbstverständlichkeit war. Gemeint<br />
ist die Historisierung der kapitalistischen Produktionsweise auf<br />
der Basis empirischer und deshalb die Veränderungen begreifender Forschung.<br />
Wer den jeweiligen Entwicklungsstand der Produktionsmittel,<br />
der Arbeitsteilungen, der Unternehmensstrukturen, der Betriebsstätten,<br />
der Märkte, der Investitionsrechnungen nicht kennt, wird zwangsläufig<br />
nicht in der Lage sein, Dissonanzen zwischen materiellem Gehalt<br />
und Formbestimmung zu benennen.<br />
Aus diesem grundlegenden Versäumnis folgt zwangsläufig eine weitere<br />
Schwäche, die alleinige Konzentration aufs Politische. Wer über die<br />
kapitalistische Ökonomie konkret-historisch wenig auszusagen weiß und<br />
wegen des Scheiterns der osteuropäischen Systeme von großen Alternativen<br />
die Finger lässt, wird den Gegenstand seines Bemühens nur politisch<br />
formulieren können. Hinzu kommt, dass politische Veränderung<br />
nur als Verteilungskampf gedacht werden kann, wenn die Sphäre der<br />
Produktion außerhalb der Betrachtung bleibt.<br />
Das Resultat ist folglich eine mehrfache Verengung im Kopf und eine<br />
Haltung, die in der Nische den Wohlfühlfaktor zu steigern versucht.<br />
Noch immer pflegen sich radikal gebärdende Geister einen Lehnstuhldiskurs,<br />
der die eigene Machtlosigkeit und damit die eigene Nicht-Verantwortung<br />
für den Lauf der Dinge als Selbstverständlichkeit ins Denken<br />
integriert.<br />
In ganzen Jahrgängen kritischer sozialwissenschaftlicher Zeitschriften<br />
findet man kaum einen Hinweis auf eine Standpunktumkehr. Die Frage,<br />
was man denn im Ernstfall anzubieten hätte, wenn es tatsächlich um<br />
eine Umwälzung der Gesellschaft ginge, wurde als Herausforderung<br />
nicht angenommen.<br />
Angesichts des großen theoretischen Mangels kann die Lösung nun<br />
nicht darin bestehen, zu den Alten zurückzukehren und sie einfach fortzuschreiben.<br />
Dass wir inhaltlich weit über sie hinaus müssen, zeigt sich<br />
beispielhaft an ihren jeweiligen Zukunftsprojektionen. Was sollen wir<br />
heute anfangen mit Marx’ Sozialismusvision? Mit Webers »stahlhartem<br />
Gehäuse der Hörigkeit«? Mit Keynes’ Tod des Rentiers? Mit Schumpeters<br />
Vergesellschaftung der Unternehmerfunktion? Was sagen uns die se<br />
Deutungen großer Denker?