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3. Maria Sass (Sibiu/Hermannstadt): Märchen und Sagen ... - Reviste

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<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen<br />

‘Zigeuner’, gesammelt, übersetzt <strong>und</strong><br />

herausgegeben von Dr. Heinrich von Wlislocki<br />

<strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

Vom 5. bis 7. Mai 1994, also vor mehr als einem Jahrzehnt,<br />

fand in Marburg, in der Aula der Alten Universität eine Fachtagung<br />

zum Thema „<strong>Märchen</strong> der Sinti <strong>und</strong> Roma” statt. Bei<br />

dieser Tagung, die sich zum ersten Mal im Kontext eines akademischen<br />

Diskurszusammenhangs entfaltete, kooperierten die<br />

Europäische <strong>Märchen</strong>gesellschaft, die Hessische Landeszentrale<br />

für politische Bildung sowie das Dokumentations- <strong>und</strong><br />

Kulturzentrum Deutscher Sinti <strong>und</strong> Roma. Die Tagung wurde<br />

durchgeführt in Zusammenarbeit mit der Philipps-Universität<br />

Marburg, dem Kulturamt der Stadt Marburg sowie dem hessischen<br />

Landesverein Deutscher Sinti <strong>und</strong> Roma in Darmstadt.<br />

Dass so viele Institutionen bei dieser Tagung vertreten waren,<br />

zeigt das geistige Interesse der Öffentlichkeit. In den hier gehaltenen<br />

Vorträgen wurde dafür plädiert, dass die Kultur der<br />

Roma als Bestandteil der Kultur Deutschlands angesehen wird.<br />

Diese in Marburg abgehaltene Tagung <strong>und</strong> die Beteiligung der<br />

Philipps-Universität, die mit der Lucian-Blaga-Universität <strong>und</strong>


232 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

dem Lehrstuhl für Germanistik in <strong>Hermannstadt</strong> durch eine<br />

langjährige Partnerschaft verb<strong>und</strong>en ist, bildeten den Anstoß<br />

für meinen Beitrag. Denn auch wenn es zu so erfreulichen Debatten<br />

gekommen ist <strong>und</strong> noch kommt, ist heute die Realität<br />

eine andere. Nach wie vor ist das öffentliche Bewusstsein<br />

geprägt von Vorurteilen, Klischees <strong>und</strong> Stereotypen, wenn die<br />

Sprache auf Sinti <strong>und</strong> Roma kommt. Man kann noch in ganz<br />

Europa von einem teils offenen, teils versteckten Rassismus<br />

sprechen. Es finden sich zahlreiche Stereotypen, die die Funktion<br />

haben, in einer komplizierten Welt einfache Antworten zu<br />

geben:<br />

Sie sehen ab vom Einzelfall, von der Vielfalt innerhalb einer<br />

Gruppe. Sie arbeiten mit Pauschalierungen <strong>und</strong> Verallgemeinerungen.<br />

Sie arbeiten Typen heraus mit ein für alle Mal<br />

festgelegten Merkmalen. Sie wollen mit dem Gegenüber nicht<br />

in Beziehung treten, sondern das Bedürfnis noch einem klaren<br />

Feindbild befriedigen. 1<br />

1 Wilhelm Solms / Daniel Strauß (Hrsg.): ‚Zigeunerbilder’ in der deutschsprachigen<br />

Literatur. Tagung in der Universität Marburg vom 5. bis 7. Mai<br />

1994. Schriftenreihe des Dokumentations- <strong>und</strong> Kulturzentrums Deutscher<br />

Sinti <strong>und</strong> Roma. 1. Auflage, Oktober 1995, S. 8.


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 233<br />

Die Typen, die Solms erwähnt sind in der Regel das Produkt<br />

der kollektiven Phantasie <strong>und</strong> Projektion <strong>und</strong> sind Bestandteil<br />

des kulturellen Erbes auch im literarischen Bereich geworden:<br />

Ja, gerade in der Literatur hat die Pflege des Zigeunermythos<br />

eine lange <strong>und</strong> unselige Tradition ausgebildet. In sämtlichen<br />

Literaturgattungen wurde <strong>und</strong> wird an einem Typus gefeilt, der<br />

mit der Wirklichkeit nicht zusammenzubringen ist. Ob in<br />

<strong>Märchen</strong>, <strong>Sagen</strong>, Schwänken, Volksliedern oder in der hohen<br />

Literatur – die Texte strotzen nur so vor groteskem Klischee,<br />

die die eigenständige Erzähltradition der Sinti <strong>und</strong> Roma auf<br />

den Kopf stellen. Das heißt, die Selbstbilder werden immer<br />

wieder von Fremdbilder überlagert. 2<br />

Als Mitglied der EU seit dem 1. Januar 2007 fällt Rumänien<br />

sowie allen anderen Ländern Europas die Aufgabe zu, sich<br />

gegen die Diskriminierung der Roma in der Gesellschaft <strong>und</strong><br />

Literatur einzusetzen, wobei die „Andersartigkeit” als solche<br />

akzeptiert werden soll. Roma sind als Teil der kulturellen<br />

Vielfalt des Landes bzw. Europas zu betrachten <strong>und</strong> weisen<br />

eine eigene Identität als ethnisch, sprachlich, sozial <strong>und</strong> kulturell<br />

abgrenzbare Gruppe auf.<br />

2 W.Solms / D. Strauß, S. 8 (wie Anm. 1).


234 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

In Siebenbürgen gab es schon seit der zweiten Hälfte des 19.<br />

Jhs. auch eine andere Situation: Hier versuchte Heinrich von<br />

Wlislocki die Kultur <strong>und</strong> Volksliteratur der siebenbürgischen<br />

Wanderzigeuner bekannt zu machen, wobei er der Ansicht<br />

war, man müsse mit diesem Wandervolke längere Zeit zusammenleben,<br />

es von innen zu erforschen, um dessen Leben nach<br />

all seinen Äußerungen kennen zu lernen.<br />

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, einerseits die Verdienste<br />

Heinrich von Wlislockis im Bereich der Roma-Erforschungen<br />

hervorzuheben; andererseits soll das Vorhandensein einer eigenen<br />

Volksliteratur <strong>und</strong> Erzähltradition bei den transsilvanischen<br />

Wanderzigeunern nachgewiesen werden.<br />

1. Zur Person Heinrich von Wlislockis<br />

Am 2. Februar 2007 war der 100. Todestag von Heinrich von<br />

Wlislocki, der nicht nur durch die Erforschung der siebenbürgischen<br />

‚Zigeuner’, sowie ihrer Sitten <strong>und</strong> Gebräuche, sondern<br />

auch durch Übersetzung sowie volksk<strong>und</strong>liche Schriften zu<br />

Rumänen, Magyaren, Sachsen <strong>und</strong> Armeniern wissenschaftlich<br />

in Erscheinung getreten ist.


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 235<br />

Heinrich von Wlislocki wurde am 9.7.1856 in Kronstadt als<br />

Sohn eines polnischen k.k. Finanzbeamten aus Galizien <strong>und</strong><br />

einer Sächsin aus Siebenbürgen (Mutter: Katharina Roth) geboren<br />

<strong>und</strong> am 20. Juli 1856 in der Stadtpfarrkirche von Kronstadt<br />

nach evangelischem Ritus getauft. In seiner Heimatstadt<br />

besuchte er das evangelische Gymnasium <strong>und</strong> an der 1872<br />

neueingerichteten Klausenburger Universität studierte er Germanistik,<br />

Philosophie <strong>und</strong> Sanskrit (1876 – 1879); in Klausenburg<br />

hat er auch den Doktortitel erworben (Dissertation:<br />

Hapaxlegomena az Atlamál-ban / Hapaxlegomena im Atli-Lied).<br />

Wlislocki gilt als einer der Pioniere der modernen ‚Zigeuner’-Forschung,<br />

darüber hinaus als der beste Kenner der siebenbürgischen<br />

‚Zigeuner’. Seine Forschung auf diesem Gebiet,<br />

wodurch er sich einen Namen machte, begann schon in<br />

der Klausenburger Studienzeit unter dem Einfluss von Hugo<br />

von Meltzl 3 . Er schritt aber auch weiter, wie aus seiner<br />

Autobiographie hervorgeht:<br />

Seit Jahren beschäftigte ich mich mit dem Studium der Sprache<br />

<strong>und</strong> Volksliteratur der Zigeuner, insbesondere der transsilvani-<br />

3 Hugo von Meltzl war Professor an der Klausenburger Universität <strong>und</strong><br />

Herausgeber der Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft Acta<br />

comparationis litterarum (1877 – 1888).


236 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

schen Zeltzigeuner. Im Sommer des Jahres 1883 beschloss ich<br />

aus direkter, unverfälschter Quelle zu schöpfen <strong>und</strong> meine<br />

Daten nicht unter den ansässigen Zigeunern, sondern bei irgend<br />

einer Wandertruppe der transsilvanischen Zeltzigeuner sammeln.<br />

Mehrere Monate hindurch lebte <strong>und</strong> wanderte ich mit<br />

einer Zeltzigeunertruppe durch ganz Siebenbürgen <strong>und</strong> die<br />

südöstlichen Teile Ungarns. 4<br />

Sein aus Forschungsgründen getroffener Entschluss mit den<br />

‚Zigeunern’ mitzuwandern führte dazu, dass er bei seinen<br />

Landsleuten, den Siebenbürger Sachsen, selbst zum ‚Zigeuner’<br />

herabgewürdigt wurde. So z.B. erzählt Harald Krasser<br />

(1905 – 1981) eine etwas romantisch gefärbte Geschichte, die<br />

er von seiner Großmutter gehört haben soll:<br />

Um 1890 – so erzählte meine Großmutter, als ich vor vielen<br />

Jahren zum ersten Mal auf Wlislockis Übertragungen von<br />

Zigeunerdichtungen stiess – sei mein Großvater, der als Arzt in<br />

Mühlbach gelebt hat <strong>und</strong> 1891, lange vor meiner Geburt,<br />

gestorben ist, öfter in größeren Abständen von einem Zigeuner<br />

aufgesucht worden. Dann habe er seine Frau beauftragt, die<br />

Kinder wegzuschicken, habe Essen auftragen lassen, <strong>und</strong> jedes<br />

mal seien die beiden Männer im bewegtem Gespräch bei-<br />

4 Heinrich von Wlislocki: <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen<br />

Zigeuner. Berlin 1886. Vorwort. S. XV.


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 237<br />

sammengesessen. Auf die verw<strong>und</strong>erte Frage, wer dieser<br />

seltsame Gast sei, erhielt die Großmutter die Antwort, es sei<br />

Heinrich Wlislocki, der, um Sprache, Bräuche <strong>und</strong> Dichtungen<br />

der Zigeuner zu erforschen, selbst Wanderzigeuner geworden<br />

sei ... 5<br />

Untersucht man Wlislockis Studien, die durch Akribie gekennzeichnet<br />

sind, so kann man ihren Autor nicht sofort mit dem<br />

beschriebenen ‚Zigeuner’-Forscher identifizieren, der selber in<br />

die ‚Zigeuner’-Truppe eintrat <strong>und</strong> sie, mit ihr wandernd, erforscht<br />

hat. Seine den Siebenbürger Sachsen gewidmete<br />

Schrift Volksglaube <strong>und</strong> Volksbrauch der Siebenbürger Sachsen<br />

ist das Werk eines Buchgelehrten; es entstand aus der<br />

gründlichen Bearbeitung der vorher zu diesem Thema veröffentlichten<br />

Arbeiten <strong>und</strong> weist Wlislocki als einen Mann der<br />

Bibliothek aus. Die direkte Erforschung der Wanderzigeuner<br />

war ein schicksalhafter Entschluss.<br />

Wlislockis volksk<strong>und</strong>liche Roma-Forschungen beschränken<br />

sich fast ausschießlich auf nomadisierende ‚Zigeuner’ aus Siebenbürgen<br />

<strong>und</strong> dem Banat (bei Wlislocki: der südliche Teil<br />

Ungarns). Er veröffentlichte 80 Arbeiten zu ‚Zigeuner’-Themen,<br />

größeren oder kleineren Umfangs, zu den bedeutendsten<br />

5 Kazuhiro Wakabayashi S. 125 (wie Anm. 3).


238 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

gehören: <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen Zigeuner<br />

(Berlin, 1886); Vom wandernden Zigeunervolke. Bilder aus<br />

dem Leben der Siebenbürgischen Zigeuner (Hamburg, 1890);<br />

Volksglaube <strong>und</strong> religiöser Brauch der Zigeuner (Münster,<br />

1891); Aus dem inneren Leben der Zigeuner (Berlin, 1892)<br />

usw. In seinen Arbeiten zeigt Wlislocki eine kulturpessimistische<br />

Haltung, die in der Erforschung der noch nicht „verfälschten“<br />

Lebensformen der Völkerschaften Siebenbürgens<br />

(nicht nur der ‚Zigeuner’) die vorrangige Aufgabe der einheimischen<br />

Ethnologie sah.<br />

2. Betrachtungen zu den von Wlislocki gesammelten <strong>Märchen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen Zigeuner<br />

Anhand der von Wlislockis gesammelten <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong><br />

der transsilvanischen ‚Zigeuner’ soll nachgewiesen werden,<br />

dass diese selbst Produzenten von Literatur waren <strong>und</strong> nicht<br />

nur schlicht die literarischen Produkte des Gastlandes übernahmen.<br />

In mehreren seiner Studien hebt Wlislocki hervor, dass die<br />

transsilvanischen ‚Zigeuner’ eine eigene Volksliteratur besitzen.<br />

Er spricht von etwa 2000 volksliterarischen Produktionen<br />

– <strong>Märchen</strong>, <strong>Sagen</strong>, Lieder, Romanzen, Balladen – die er im


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 239<br />

Romanes-Original aufgezeichnet <strong>und</strong> anschließend ins Deutsche<br />

übersetzt hat. Die Untersuchung aller von Wlislocki aufgenommenen<br />

volksliterarischen Texte (Gedichte <strong>und</strong> Prosa)<br />

würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, doch kann durch<br />

die Vorstellung der <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> die Existenz einer<br />

eigenen Volksliteratur <strong>und</strong> Erzähltradition nachgewiesen werden.<br />

Es ist bekannt, dass den Roma die Fähigkeit Literatur zu<br />

produzieren abgesprochen worden ist. Man ging so weit, zu<br />

behaupten, dass sie die Literatur anderer Völker, mit denen sie<br />

in Kontakt kommen, übernehmen. 6<br />

Auch in Texten der Gegenwart wird den ‚Zigeunern’ eine<br />

eigene Kultur abgestritten: „Zigeuner haben keine eigene<br />

Kultur, sondern sind Schmarotzer von der Kultur der Gastvölker<br />

...“ 7<br />

Solche Ideen – Roma wären zu eigener Kulturleistung nicht<br />

in der Lage – ähneln denen der NS-Propaganda <strong>und</strong> dokumentieren<br />

ein „Fremdbild“ der Mehrheit gegenüber der Roma-<br />

Minderheit, demzufolge Roma durch Betrug <strong>und</strong> Unkreativität<br />

kennzeichnet sind.<br />

6 W. Solms/ D. Strauß, S. 121 – 122 (wie Anm. 3).<br />

7 H. v. Wlislocki: <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen Zigeuner,S.<br />

132 (wie Anm. 5).


240 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

Beziehen wir uns nun auf Wlislockis <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong>,<br />

so ergibt sich natürlich die Frage, wie authentisch die Aufzeichnungen<br />

sind. Im Vorwort zu der <strong>Märchen</strong>- <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong>sammlung<br />

wird erklärt, wie er zu diesen Texten gekommen ist:<br />

Seit Jahren beschäftigte ich mich mit dem Studium der Sprache<br />

<strong>und</strong> der Volksliteratur der Zigeuner, insbesondere der transsilvanischen<br />

Zeltzigeuner. Im Sommer des Jahres 1883 beschloss<br />

ich aus direkter, unverfälschter Quelle zu schöpfen <strong>und</strong> meine<br />

Daten nicht unter den ansässigen Zigeunern, sondern bei irgend<br />

einer Wandertruppe der transsilvanischen Zeltzigeuner zu<br />

sammeln. Mehrere Monate hindurch lebte <strong>und</strong> wanderte ich mit<br />

einer Zeltzigeunertruppe durch ganz Siebenbürgen <strong>und</strong> die südöstlichen<br />

Teile Ungarns. Während dieser Zeit sammelte ich<br />

neben vielen anderen, höchst interessanten Daten auch viele<br />

<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong>, welche ich hier veröffentlichte, wobei mir<br />

als oberster Gr<strong>und</strong>satz galt, daß jedes Stück, welches ich in<br />

diese Sammlung aufgenommen habe, ohne weitere Rücksicht<br />

auf den Wert der einen Quelle, wenigstens durch eine zweite<br />

Quelle als Eigentum des Volkes anerkannt sei, d.h. jedes der<br />

aufgenommenen Stücke habe ich von zwei, örtlich <strong>und</strong> zeitlich<br />

getrennten Personen gehört <strong>und</strong> im Original wörtlich aufgezeichnet.<br />

Von den zwei Varianten habe ich stets die schönere<br />

<strong>und</strong> interessantere in diese Sammlung aufgenommen. 8<br />

8 Ebd., S. XV.


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 241<br />

Der siebenbürgische Forscher hat <strong>Sagen</strong> <strong>und</strong> <strong>Märchen</strong> sowohl<br />

innerhalb seiner Studie Vom wandernden Zigeunervolke. Bilder<br />

aus dem Leben der Siebenbürgischen Zigeuner als auch in<br />

einer selbstständigen Sammlung <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der Zigeuner<br />

aufgenommen <strong>und</strong> herausgegeben. In ihnen vertritt er<br />

eine fortschrittliche Gesinnung, sowohl in seiner Haltung<br />

gegenüber der Roma-Minderheit als auch aus wissenschaftlicher<br />

Sicht. Heinrich von Wlislocki hebt hervor, dass ihm die<br />

<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> erzählt worden sind, folglich wollte er<br />

originäres Kulturgut der transsilvanischen Roma <strong>und</strong> nicht<br />

Fremdfassungen vermitteln.<br />

Zugleich erklärt er, warum es ihm unmöglich war die Originaltexte<br />

in die Sammlung aufzunehmen: Obwohl die <strong>Märchen</strong><strong>und</strong><br />

<strong>Sagen</strong>texte in Romanes aufgezeichnet worden sind <strong>und</strong><br />

dann ins Deutsche übersetzt wurden, werden die Originaltexte<br />

nicht in die Sammlung aufgenommen, „um den buchhändlerischen<br />

Erfolg des Werkes zu sichern“. 9 Weiter hebt er hervor,<br />

dass es einen zweiten Aufenthalt bei den ‚Zigeunern’ nicht<br />

mehr gegeben hat: „dazu fehlte mir Mut <strong>und</strong> Geld“. 10 Über<br />

den Narrator sagt Wlislocki, dass ihm die schönsten <strong>Märchen</strong><br />

9 H.von Wlislocki S. XV (wie Anm. 5).<br />

10 Ebd., S. XV.


242 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

„eine uralte Zigeunerin unserer Truppe erzählte.“ 11 Was die<br />

Übertragung der Texte ins Deutsche anbelangt, so sagt der<br />

siebenbürgische Forscher <strong>und</strong> Übersetzer, dass er von Anfang<br />

an bestrebt war, „das Original wörtlich zu geben in treuer,<br />

unverfälschter Gestalt, ohne es irgendwie zu verschönern (...)<br />

Daher die häufige Schwerfälligkeit im Stile <strong>und</strong> das Unzutreffende<br />

des Ausdrucks.“ 12 Wlislocki will keine inhaltliche<br />

Überarbeitung bieten, die zur Verfälschung bzw. zu einem unzutreffenden<br />

Bild führen könnte.<br />

Die oben beschriebene Haltung des Sammlers, Übersetzers<br />

<strong>und</strong> Forschers zielte auf einen gleichberechtigten Dialog der<br />

Roma-Minderheit <strong>und</strong> der Mehrheitsbevölkerung <strong>und</strong> letztendlich<br />

zum Abbau von Vorurteilen <strong>und</strong> Desinformationen.<br />

Im Folgenden werde ich die Sammlung <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong><br />

der transsilvanischen Zigeuner, gesammelt <strong>und</strong> aus unedierten<br />

Originaltexten in der Übersetzung von Heinrich von Wlislocki<br />

13 kurz vorstellen. Sie enthält 63 Texte (<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Sagen</strong>). Der laufende Text ist mit einem Fußnotenapparat versehen,<br />

in dem Hinweise auf Quellen sowie Erklärungen zu<br />

11 Ebd., S. XV.<br />

12 Ebd., S.XVI.<br />

13 H. von Wlislocki: <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der siebenbürgischen Zigeuner,<br />

gesammelt <strong>und</strong> aus unedirten Texten übersetzt vom H. von Wlislocki.<br />

Berlin 1886.


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 243<br />

Gestalten oder sprachlichen Aspekte enthalten sind, den der<br />

Sammler <strong>und</strong> Übersetzer zusammengestellt hat. Das „Vorwort“<br />

Wlislockis ist mit „Mühlbach (Siebenbürgen), im August<br />

1884“ gezeichnet.<br />

Auch im Vorwort weist Wlislocki auf die Bedeutung der<br />

Untersuchung der <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der Roma hin, weil<br />

diese volksliterarische Produktionen die älteste Literaturerscheinung<br />

eines Volkes seien, in denen sich seine Denkart,<br />

seine Anschauungen <strong>und</strong> Gebräuche sowie sein ureigentümlicher<br />

Geist am unverfälschten offenbare. Der Sinn der Volksliteratur<br />

im Allgemeinen könne nur von demjenigen verstanden<br />

werden, der den Zusammenhang mit dem inneren Leben<br />

eines Volkes kenne.<br />

Die <strong>Sagen</strong>, sagenhaften <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> Lieder sind so kein so<br />

flüssiges Element, dass sie an einem Orte entstünden, um gelegentlich<br />

für immer von dort zu verschwinden. Sie ziehen allerdings<br />

von Land zu Land <strong>und</strong> breiten sich überall hin aus, wo sie<br />

in Glauben, Ansicht <strong>und</strong> Sitten der Völker Anknüpfungspunkte<br />

finden...“<br />

Damit will Wlislocki einerseits auf die mündliche Tradierung<br />

der Volksmärchen <strong>und</strong> -sagen hinweisen, andererseits aber


244 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

möchte er seine Entscheidung begründen, mit den Wanderzigeunern<br />

mitzugehen <strong>und</strong> zu leben, um diese erforschen zu können.<br />

Weiter hebt er hervor, dass die volksliterarischen Produkte eines<br />

so wenig gekannten Volkes <strong>und</strong> die poetischen Gestaltungen desselben<br />

ohne vorangegangene Studien schwer zu begreifen<br />

seien. 14<br />

Die aufgenommenen Texte sind aufgr<strong>und</strong> poetologischer<br />

Merkmale nicht deutlich auseinanderzuhalten. Wlislocki trennt<br />

nicht streng zwischen <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong>, sondern betrachtet<br />

sie, wie Herder <strong>und</strong> später die Brüder Grimm, als „Produkte<br />

der Poesie“. Es gibt einige Texte, die der Sammler <strong>und</strong><br />

Übersetzer selbst als <strong>Sagen</strong> bezeichnet, z. B. die Stammsagen<br />

der vier Stämme Siebenbürgens, aus denen sich auch ein positives<br />

„Selbstbild“ der Roma herauskristallisieren lässt, denn<br />

jeder Kortorár hält seinen Stamm für den „auserwählten“ <strong>und</strong><br />

„rühmlichsten“; Diese sind: Stammsage der Kukuyá 15 ,<br />

14 Ebd., S. VII.<br />

15 Heinrich von Wlislocki: Vom wandernden Zigeunervolke. Bilder aus<br />

dem Leben der Siebenbürger Zigeuner. Geschichtliches, Ethnologisches,<br />

Sprache <strong>und</strong> Poesie.<br />

Hamburg 1890, S. 69.


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 245<br />

Stammsage der Leïla 16 , Stammsage der Aschani 17 <strong>und</strong> Die<br />

Stammsage der Tschale 18 .<br />

Es ergibt sich nun die Frage, welchen Aussagewert die<br />

<strong>Sagen</strong> der Roma über die Entstehung der vier Stämme Transsilvaniens<br />

besitzen.<br />

Zunächst ist auf einige inhaltliche Aspekte einzugehen. Als<br />

erstes stellt man sich als Forscher die Frage, wann die Ereignisse,<br />

von denen die <strong>Sagen</strong> erzählen, überhaupt stattgef<strong>und</strong>en<br />

haben sollen. In Wlislockis Studie Vom wandernden Zigeunervolke.<br />

Bilder aus dem Leben der siebenbürgischen Zigeuner,<br />

in der die vier angeführten <strong>Sagen</strong> veröffentlicht worden sind,<br />

werden keine Hinweise über Erzähler <strong>und</strong> Erzählsituation gegeben.<br />

Wenn wir textimmanent vorgehen, um herauszufinden,<br />

was die Texte selbst zum Zeitpunkt des geschilderten Geschehens<br />

aussagen, so stellen wir fest, dass die Zeitangaben<br />

sehr vager Natur sind <strong>und</strong> das Ereignis in einer unbestimmten<br />

Vergangenheit situieren: „Vor vielen tausend Jahren gab es gar<br />

wenige Phuvusche...“ 19 ; „Vor vielen h<strong>und</strong>ert Jahren...“; „Es<br />

16 Ebd., S. 71<br />

17 Ebd., S. 72.<br />

18 Ebd., S. 7<strong>3.</strong><br />

19 Phuvusche sind unterirdische Wesen von menschlicher Gestalt. Sie<br />

haben unter der Erde ganze Städte <strong>und</strong> kommen oft an die Oberfläche der<br />

Erde. Sie sind hässlich; die Männer mit Haaren bedeckt. Oft rauben sie


246 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

lebte einmal vor vielen h<strong>und</strong>ert Jahren...“; „Es lebte einmal ein<br />

gar schöner Jüngling...“. Auch der Ort der zugetragenen Ereignisse<br />

ist unbestimmt, wie im <strong>Märchen</strong>, doch wird in den<br />

meisten Fällen ein Lieblingsort der Wanderzigeuner, die Natur,<br />

angegeben: „in einem schönen grünen Wald“, „am Rande<br />

des Waldes“, „auf einer Weide“ usw. 20<br />

Alle Stämme haben als Urahnen außergewöhnliche Gestalten:<br />

die Kukuiá stammen von einem Phuvusch-Weib <strong>und</strong> einem<br />

schönen Jüngling; die Mutter der Leïla ist die Tochter<br />

eines mächtigen Königs, eine „w<strong>und</strong>erschöne Maid“, die den<br />

Segen dreier Keschalyi 21 bekam; die Mutter der Aschani, die<br />

dem Stamm ihren Namen übertrug, kam zur Welt nachdem ein<br />

Chagrin 22 im Traum ihres Vaters erschienen war; die Tschale<br />

stammen von einem „Vielesser“ ab, der fleißig <strong>und</strong> intelligent<br />

Jungfrauen, die sie sich dann zu Frauen nehmen. Ihr Leben ist im Ei einer<br />

schwarzen Henne verborgen. Wer die Henne tötet <strong>und</strong> das Ei in ein<br />

fliessendes Wasser wirft, der tötet dadurch den betreffenden Phuvusch.<br />

Vgl. H. v. Wlislocki: Vom wandernden… ,S. 69 (wie Anm. 19).<br />

20 Wlislocki: <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong>, S. XIII (wie Anm. 15).<br />

21 Keschaly sind als Schicksalgöttinnen vorgeführt, deren Kinder nur einen<br />

Tag leben. Sie sitzen auf einsamen Felsblöcken <strong>und</strong> kämen ihr<br />

meilenlanges Haar, das sie im Winde bis in die Thäler hinab als Nebel<br />

wehen lassen. Vgl. H. v. Wlislocki: Vom wandernden… , S. 71 (wie Anm.<br />

19).<br />

22 Der Chagrin ist ein dämonisches Wesen, das die Tiere zur Nachtzeit<br />

quält; es soll die Gestalt eines Stachelschweines haben, von gelblicher<br />

Farbe <strong>und</strong> ungefähr einen halben Meter lang <strong>und</strong> eine Spanne breit sein.<br />

Vgl. H. v. Wlislocki: Vom wandernden… , S. 72 (wie Anm. 19).


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 247<br />

war, doch kam er zu nichts, weil er zu viel aß. Somit weisen<br />

die vier erwähnten <strong>Sagen</strong> auf das Verhältnis des Menschen<br />

zum Überwirklichen, dabei werden sie jedoch so selbstverständlich<br />

erzählt, dass sie als „Gebilde für uns entzaubert<br />

sind“. 23 Eine andere Sage, die in der oben angeführten Untersuchung<br />

aufgenommen worden ist <strong>und</strong> die Abstammung der<br />

siebenbürgischen Zeltzigeuner erklären soll ist „Die Entstehung<br />

des Stechapfels <strong>und</strong> die Abkunft der Zigeuner“, die im<br />

Teil „Geschichtliches“ 24 angeführt wird. Laut dieser ätiologischen<br />

Sage sind die „Urahnen“ der transsilvanischen ‚Zigeuner’<br />

ein „gar kluger Mann, der viele zauberkräftige Mittel<br />

kannte, mit denen er den Menschen viel Gutes erwies“, <strong>und</strong><br />

„ eine schöne Jungfrau“ 25 , die ihn, nachdem sie mehrere<br />

Kinder auf die Welt gebracht hatte, einmal in seinen<br />

Erwartungen enttäuscht hatte. Sie wurde verflucht <strong>und</strong> in eine<br />

Pflanze verwandelt:<br />

„Nun aber sei verflucht <strong>und</strong> werde eine Pflanze, die von Thieren<br />

<strong>und</strong> Menschen gemieden, in ihrer Frucht so viele Körner<br />

enthält, als du Kinder auf die Welt gebracht hast! Deine Kinder<br />

23 Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen. Form <strong>und</strong> Wesen. Tübingen.<br />

9. Auflage1992.<br />

24 H. v. Wlislocki: <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong>, S. 7 (wie Anm. 15).<br />

25 Ebd., S.8.


248 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

sollen die ganze Welt durchwandern <strong>und</strong> dich überall hinführen;<br />

du aber sollst ihnen dienen <strong>und</strong> gehorsam sein müssen!“ Hierauf<br />

verschwand der weise Mann <strong>und</strong> aus der Frau entstand der<br />

Stechapfel, den ihre Kinder mit sich in die Welt führten <strong>und</strong><br />

überall verbreiteten. Man sagt eben, wir stammen von den<br />

Kindern dieses Ehepaares ab...“ 26<br />

Diese Sage wird den ‚Zigeunern’ zugeschrieben <strong>und</strong> soll ihr<br />

Nomadentum erklären. In einer Fußnote führt der Autor an,<br />

dass der Stechapfel von den Roma zu allerlei zauberkräftigen<br />

Mitteln verwendet wird <strong>und</strong> nur durch diese in Europa Verbreitung<br />

gef<strong>und</strong>en hat. Zugleich hebt er hervor, dass diese<br />

„<strong>Märchen</strong>-Sage“ eine buddhistische Gr<strong>und</strong>lage aufweist, im<br />

„Mahâbhârata“ Entsprechungen hat, <strong>und</strong> somit nach Indien,<br />

die Urheimat der Roma hinweist: „Dies ist meines Wissens<br />

das einzige ‚<strong>Märchen</strong>’ der siebenbürgischen Zeltzigeuner, das<br />

uns einen indirekten Hinweis auf ihre Urheimat bietet.“ 27<br />

Weiter werde ich mich auf die Sammlung „<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Sagen</strong> der transsilvanischen Zigeuner“ beziehen. Der Titel<br />

suggeriert, dass die Texte von ‚Zigeunern’ stammen, aber<br />

nicht unbedingt von ‚Zigeunern’ handeln müssen. Bei der textimmanenten<br />

Untersuchung kann festgestellt werden, dass die<br />

26 Ebd., S. 8-9 [Hervorhebung im Original].<br />

27 H. v. Wlislocki: Vom wandernden… , S. 9 (wie Anm. 19).


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 249<br />

<strong>Märchen</strong>helden nicht ausschließlich ‚Zigeuner’ sind. Nur in 14<br />

von 63 Texten dieser Sammlung wird ein ‚Zigeuner’ als Handlungsträger<br />

benannt: Die Erschaffung der blonden Menschen,<br />

Weshalb der Mond zu- <strong>und</strong> abnimmt, Die Schlange als Ehemann,<br />

Der H<strong>und</strong> <strong>und</strong> das Mädchen, Der allwissende Zigeuner,<br />

Amrus <strong>und</strong> Raveka, Die drei Eier, Der schwimmende Berg,<br />

Die weiße Flamme, Die Zigeuner <strong>und</strong> der Schatz, Der Mann<br />

ohne Schatten, Das Ziegenkind, Der W<strong>und</strong>ervogel, Die<br />

Hirschkuh.<br />

Alle „Geschichten“ dieser Sammlung stammen aus mündlicher<br />

Überlieferung, folglich können sie auch Ähnlichkeiten<br />

mit den <strong>Märchen</strong> anderer Völker aufweisen, denn als Hauptkennzeichen<br />

der Volksliteratur ist eben die mündliche Tradie-<br />

zu betrachten. Der siebenbürgische Forscher weist auch<br />

rung<br />

auf die Verwandtschaft der <strong>Sagen</strong> <strong>und</strong> <strong>Märchen</strong> der ‚Zigeuner’<br />

mit der Volkspoesie anderer Völker hin:<br />

Die Urpoesie aller Völker, wie sie im <strong>Märchen</strong>, in der Sage sich<br />

zeigt, ist überall<br />

eine verwandte: Wald, Feld, Wasser, Felsen<br />

<strong>und</strong> Bäume, die ganze Natur hat Leben <strong>und</strong> sind die Höhlen <strong>und</strong><br />

Aufenthaltsorte der bösen <strong>und</strong> guten Wesen, den Menschen zu


250 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

Nutz <strong>und</strong> Frommen aber zum Schaden als Rächer böser Thaten<br />

geschaffen. 28<br />

Aus der Analyse der Texte kann festgestellt werden, dass die<br />

Struktur der <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ‚Zigeuner’<br />

mit dem Aufbau der Volksmärchen <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> anderer<br />

Völker vergleichbar ist; die Motivik führt einerseits zu den<br />

<strong>Märchen</strong> des Abendlandes, andererseits zu Motiven des<br />

Orients, die seit den Kreuzzügen auch im Westen propagiert<br />

wurden, oder zu der Urheimat der ‚Zigeuner’, Indien. Es wird<br />

auf Gemeinsamkeiten mit der Edda oder dem Mahâbhârata u.a<br />

hingewiesen. Die Untersuchung solcher Quellen könnte in<br />

einer Analyse der vergleichenden Ethnologie zu sehr interessanten<br />

Ergebnissen führen. Wlislocki erklärt, dass andere Völker<br />

nicht mehr „eigene“ <strong>Märchen</strong> haben als die ‚Zigeuner’,<br />

denn diese seien grenzüberschreitend. Doch böten die Texte<br />

der transsilvanischen ‚Zigeuner’ reizvolle Varianten der<br />

morgen- <strong>und</strong> abendländischen <strong>Märchen</strong>.<br />

Laut Wlislocki können die Roma eine eigene Volksliteratur<br />

aufweisen; die Tatsache, dass es Gemeinsamkeiten mit dem<br />

Volksgut anderer Völker gibt, dass es zu Motivwiederho-<br />

28 H.v. Wlislocki: <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong>, S. XI (wie Anm. 15).


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 251<br />

lungen kommt, ist nicht dadurch zu begründen, dass sie die<br />

Literatur der Mehrheitsbevölkerung „stehlen“, wie es behauptet<br />

wurde, sondern dass es durch die mündliche Tradierung zu<br />

einer gegenseitigen Beeinflussung kommt. Motivgleichheit bzw.<br />

-ähnlichkeit kann auch durch die Archetypentheorie des<br />

Schweizer Psychiaters <strong>und</strong> Psychologen Carl Gustav Jung erklärt<br />

werden, laut der solche Erscheinungen auf Urerfahrungen<br />

der Menschheit zurückzuführen sind. Es kommt zu Gr<strong>und</strong>assoziationen,<br />

die sich in vielen Kulturen stark ähneln <strong>und</strong> das<br />

kollektive Element des archetypischen Symbols ausmachen.<br />

Die Mythologie der unterschiedlichen Kulturkreise weist immer<br />

wieder ähnliche oder gleiche Muster, Strukturen oder<br />

symbolische Bilder auf, was als Beleg für das Vorhandensein<br />

archetypischer Strukturen in der menschlichen Psyche angesehen<br />

wird. Ein Beispiel für ein solches spezielles Bild ist der<br />

Baum des Lebens (Kabbala, Christentum) oder der Weltenbaum,<br />

der bei fast allen Völkern vorkommt, beispielweise<br />

Yggdrasil in der germanischen Mythologie, der Baum mit den<br />

Früchten der Unsterblichkeit (in China) oder heilige Bäume<br />

wie die Eiche der Druiden, die Sykomore als Sitz der Göttin<br />

Hathor bei den Ägyptern <strong>und</strong> der Bodhibaum im Buddhismus.<br />

Bei den transsilvanischen ‚Zigeunern’ ist es der Allsamen-


252 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

baum, der im <strong>Märchen</strong> „Der Baum der allerlei Samen trug“ 29<br />

zu finden ist. Eine männliche Variante von Dornröschen – der<br />

Mann schläft in einen langjährigen Schlaf ein <strong>und</strong> wird von<br />

einer Königstochter befreit – kommt im <strong>Märchen</strong> „Die verliebte<br />

Stiefmutter“ 30 zum Ausdruck. Das Hänsel-<strong>und</strong>-Gretel-<br />

Motiv ist z.T. in „Die vertriebenen Kinder“ 31 wiederzufinden.<br />

Das Motiv der Mutterliebe über den Tod hinaus, die – dem<br />

zigeunerischen Glaube gemäß über die Kinder wachend <strong>und</strong><br />

schirmend schwebt – findet sich in „Die Blume des Glücks“ 32<br />

Von diesem Standpunkt her betrachtet, hat Wlislocki in diese<br />

Sammlung auch solche <strong>Märchen</strong> aufgenommen, die sich in<br />

der Volksliteratur anderer Völker wiederfinden, was – wie<br />

oben schon erwähnt – auf die innerste Wesensverwandtschaft<br />

der Völker hinweist <strong>und</strong> von der Fähigkeit der jeweiligen<br />

Völker zeugt, diese in ihrer Lebendigkeit zu erhalten.<br />

Bei der Interpretation der <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> sind auch<br />

einige ethnologische Elemente in Betracht zu ziehen. So wird<br />

z. B. ein kinderloses Weib bemitleidet <strong>und</strong> gering geschätzt.<br />

Dem Volksglauben der ‚Zigeuner’ gemäß hat sie vor der Hei-<br />

29 H. von Wlislocki: <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong>, S. 9 (wie Anm. 15).<br />

30 Ebd., S. 45.<br />

31 Ebd., S. 47.<br />

32 Ebd., S.29.


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 253<br />

rat mit einem Vampyr ein Liebesverhältnis gehabt, was der<br />

Gr<strong>und</strong> ihrer Unfruchtbarkeit sei. Deshalb versuchen die Weiber<br />

diesen Übelstand, schon in den ersten Wochen nach der<br />

Heirat durch zauberkräftige Mittel zu beseitigen.<br />

Es ist bekannt, dass als eine der Haupterwerbsquellen der<br />

Roma die Musik gilt, weil diese als Kunstfertigkeit angesehen<br />

wird, die angeblich in ihrem Nationalcharakter liege; alle<br />

seien, mit wenigen Ausnahmen, musikalisch <strong>und</strong> mit feinem<br />

Gehör, begabt. Für das hohe Alter der Musik unter den Roma<br />

sprechen, wenn auch nur indirekt, die beiden <strong>Märchen</strong> von der<br />

Erschaffung der Geige 33 . Im ersten <strong>Märchen</strong> wird die Musik<br />

als „teuflisch“ dargestellt <strong>und</strong> steht mit Liebe in Verbindung;<br />

im zweiten wird der musikalische Instinkt der Roma zum<br />

Ausdruck gebracht, denn diese sind in der Musik außer-<br />

begabt. Die Geige erscheint als Symbol für die<br />

gewöhnlich<br />

Eigenheit, die Besonderheit <strong>und</strong> oft verkannte kulturelle Leistung<br />

der Roma. Diesem <strong>Märchen</strong> folgt in der Studie Wlis-<br />

positives Bild der lockis ein äußerst Roma:<br />

Die Zigeuner sind geschickt, lebhaft <strong>und</strong> aufgeweckt. Sie<br />

machen alles mit einer Geschicklichkeit sondergleichen, wenn<br />

33 Die Erschaffung der Geige. In: H. v. Wlislocki: Vom wandernden… , S.<br />

217-221 (wie Anm. 19).


254 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

sie es machen wollen. Aber als Musiker sind sie am<br />

vorzüglichsten im Vortrage von Nationalliedern. Nur durch ihr<br />

Gehör geleitet <strong>und</strong> mit einer Übung erlangen sie eine Promtheit<br />

<strong>und</strong> Kraft des Vortrages, welche Meister der Kunst oft nicht<br />

beanspruchen können. Diese Geschicklichkeit sichert ihnen den<br />

Vorzug bei Tafelmusiken, Hochzeiten <strong>und</strong> anderen Festen, wo<br />

man sich der Begeisterung, der Freude <strong>und</strong> dem Feuer der<br />

Nationalsitten hingibt. Gewöhnlich kennen sie nicht einmal die<br />

Noten, aber ihr musikalischer Instinkt ersetzt ihnen alles, <strong>und</strong><br />

eigentlich verstehen nur die Zigeuner die magyarischen Melodien<br />

zu spielen. Die ungarische Musik drückt tiefe <strong>und</strong> leidenschaftliche<br />

Gefühle aus. Freilich ernst, zuweilen selbst trauervoll,<br />

verlangt sie Virtuosen, die zugleich feurig sind <strong>und</strong> die<br />

nationale Lebhaftigkeit in den melancholischen Tönen durchklingen<br />

lassen. Diese Lebhaftigkeit bricht dann in lebhaften <strong>und</strong><br />

wilden Tonreihen aus, welche Begeisterung gewaltsam wecken<br />

<strong>und</strong> w<strong>und</strong>erbar alles treu wiedergeben, was der magyarische<br />

Charakter Kühnes, Glänzendes <strong>und</strong> Wildes hat. Die Zigeuner<br />

geben zuweilen diese Melodien mit unvergleichlichem Gefühl<br />

<strong>und</strong> Feuer wieder. Ihr Talent zeigt sich nicht allein in den vollkommenen<br />

Vortrage von Liedern, sondern auch in der bew<strong>und</strong>erswerthen<br />

Kunst, mit der sie die geistreichsten Variationen<br />

über Themata von so ausgesprochenem Charakter zu impro-<br />

visieren wissen. Es versteht sich, dass nicht alle Zigeuner diese<br />

hohe Stufe der Kunst erreichen; ich spreche hier nur von einer


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 255<br />

kleinen Zahl, aber die Beispiele genügen, um das Genie des<br />

Volkes zu beweisen. 34<br />

Obwohl das Thema meines Beitrags nicht explizit als Bild des<br />

„Anderen“ in der Literatur zu betrachten ist, ergibt sich impli-<br />

ein solches Bild. Abschlie-<br />

zit, wie oben schon angeführt, auch<br />

ßend möchte ich präzisieren, dass Wlislocki diesbezüglich eine<br />

duale Haltung hatte: neben dem positiven Bild des „genialen<br />

Musikers“, findet man auch das negative Bild über den Cha-<br />

rakter des ‚Zigeuners’:<br />

Der Charakter des Zigeuners ist keineswegs ein erfreulicher.<br />

Die Pfeife mit übelriechendem Tabak gefüllt, in sonderbarem<br />

Aufzuge, mit allerhand den Zigeunern eigenthümlichen, höchst<br />

fatalen Angewohnheiten behaftet, nicht ohne Gottesfurcht,<br />

gewisslich aber voll grosser Menschenfurcht, die Rücken servil<br />

gekrümmt, man könnte beinahe sagen: auferzogen in devoten<br />

Manieren, die den anderen Völker als unwürdig erscheinen, so<br />

sind die Wanderzigeuner, die Kortorár Siebenbürgens; die Ansässigen,<br />

die Gletecore, sind womöglich noch schlimmer; sie<br />

sind entschieden unkirchlicher gesinnt als ihre Stammgenossen,<br />

es sind auch manche internationale Gesellen darunter <strong>und</strong> sozialdemokratisch<br />

angehauchte vaterlandslose Existenzen, die von<br />

dem Kosmopolitismus das Schlimme, aber weniger das Gute<br />

34 Ebd., S.223 – 224.


256 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

sich angeeignet haben. Ihre moralischen Eigenschaften zeigen<br />

eine sonderbare Mischung von Eitelkeit <strong>und</strong> Gemeinheit, Ziererei,<br />

Ernst <strong>und</strong> wirklicher Leichtfertigkeit, fast einen gänzlichen<br />

Mangel männlichen Unheils <strong>und</strong> Verstandes, welcher mit harmloser<br />

List <strong>und</strong> Verschlagenheit, den gewöhnlichen Beigaben gemeiner<br />

Unwissenheit, begleitet ist; dabei zeigen sie noch eine<br />

entwürdigende Kriecherei in Thun <strong>und</strong> Wesen, darauf berechnet,<br />

andere durch List zu übervortheilen; sie nehmen nicht die<br />

geringste Rücksicht auf Wahrheit <strong>und</strong> behaupten <strong>und</strong> lügen mit<br />

einer nie erröthenden Frechheit, da ihnen die Scham gänzlich<br />

mangelt. Der Schmerz der Prügel ist ihre einzige Berücksichtigung.<br />

In ihren Gefühlen sind sie mehr sinnlich als grausam<br />

oder rachsüchtig. 35<br />

Schlussbemerkungen<br />

Aus der anhand der <strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen<br />

‚Zigeuner’ durchgeführten Untersuchung kann geschlossen werden,<br />

dass die Roma ein Volk mit eigener Sprache <strong>und</strong> Kultur<br />

sind, das den ethnisch-kulturellen Zusammenhalt seiner mündlichen<br />

Überlieferung verdankt. Das wichtigste Medium<br />

mündlicher Überlieferung ist aber in allen Kulturen das<br />

Erzählen, das bei den Roma sogar mehr als bei anderen Völker<br />

35 H. v. Wlislocki: Vom wandernden… , S. 166 (wie Anm. 19).


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 257<br />

bis in unsere Tage beibehalten wurde. Das Geschichtenerzählen<br />

spielt eine besondere Rolle als gemeinschaftsbildendes<br />

Element <strong>und</strong> hängt bei den Wander- bzw. Zeltzigeunern mit<br />

seiner Lebensart zusammen. Die Ansässigen „haben nicht Not,<br />

so was Dummes zu hören, sagte mir ein städtischer Zigeuner“<br />

36 , „aber die Zeltzigeuner, die im Winter in Erdhöhlen<br />

hausen, was wären das überhaupt für traurige Existenzen ohne<br />

<strong>Märchen</strong>poesie.“ 37 Die mündliche Erzählkunst ist als Volkskultur<br />

zu bezeichnen.<br />

ANHANG<br />

Stammsage der K u k u y á<br />

38<br />

Vor vielen tausend Jahren gab es auf der Welt noch wenige<br />

39<br />

Phuvusche. Da traf es sich einmal, dass ein junges<br />

Phuvusch-Weib auf die Erde kam <strong>und</strong> sich in einem schönen,<br />

grünen Wald erging. Da bemerkte die Frau unter einem Baume<br />

einen schönen Jüngling, der im Schatten schlief. Sie trat an ihn<br />

36 Ebd., S. 371.<br />

37 Ebd.<br />

38 H. v. Wlislocki: Vom wandernden… , S. 69 (wie Anm. 19).<br />

39 Vgl. im vorliegenden Aufsatz Anm. 2<strong>3.</strong>


258 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

heran <strong>und</strong> betrachtete mit Wohlgefallen seinen schönen<br />

Körper. Sie sprach zu sich selbst: „Wie herrlich mag es doch<br />

sein, einen solchen schönen Jüngling zum Gatten zu haben!<br />

Mein Mann aber ist schwarz <strong>und</strong> haarig!“ Diese Worte hörte<br />

der Gatte, der ihr nachgeschlichen war, <strong>und</strong> sprach nun also:<br />

„Ich will es bewirken, dass du zehn Jahre lang die Frau dieses<br />

Jünglings werdest, wenn du mir versprichst, von den Kindern,<br />

die du während dieser Zeit auf die Welt bringst, entweder die<br />

Mäd-chen oder die Knaben mir zu geben! Wir wollen gleich<br />

losen!“ Und sie zogen das Loos. Die Mädchen sollten dem<br />

Phuvus ch anheimfallen. Hierauf weckte der Phuvusch-Mann<br />

den Jüngling auf, indem er laut wie ein H<strong>und</strong> zu heulen<br />

begann:<br />

Kuku-kukuyá!<br />

Kámes tu ádálá!<br />

Kuku-kukuyá!<br />

Willst du diese da!<br />

Der Jüngling erwachte, <strong>und</strong> als ihm der Phuvusch-Mann sein<br />

Weib mit vielem Gold <strong>und</strong> Silber antrug, willigte er in sein


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 259<br />

Begehren ein <strong>und</strong> lebte mit dem Phuvusch-Weibe zehn Jahre<br />

lang, das ihm jedes Jahr einen Sohn gebar.<br />

Als die zehn Jahre, kam der Phuvusch, um sein Weib <strong>und</strong><br />

die Mädchen abzuholen, die er den Phuvusch-Männern zu<br />

verkaufen gedachte. Aber er bekam nur sein Weib zurück <strong>und</strong><br />

zog traurig in die Erde hinab, indem er laut heulte:<br />

Kuku-kukuyá!<br />

Adá hin jiuklá!<br />

Kuku-kukuyá!<br />

H<strong>und</strong>e sind diese da!<br />

Da lachten die zehn Knaben <strong>und</strong> sprachen zu ihrem Vater:<br />

„ Wir werden Kukuyá heissen!“ Sie nannten sich also Kukuyá<br />

<strong>und</strong> von ihnen rührt unser Stamm ... 40<br />

40 Anmerkung Wlislockis: „Diese Sage enthält meiner Ansicht nach eine<br />

verwischte Reminiscenz des weitverbreiteten Mythos, demzufolge ganze<br />

Völkerschaften ihre Abstammung von H<strong>und</strong>en herleiten“; vgl. Felix Liebrecht,<br />

Zur Volksk<strong>und</strong>e. Alte <strong>und</strong> neue Aufsätze. Heilbronn 1879 S. 17:<br />

Romulus <strong>und</strong> die Welfen.


260 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

Stammsage der L e ï l a 41<br />

Vor vielen h<strong>und</strong>ert Jahren lebte am Rande eines Waldes eine<br />

w<strong>und</strong>erschöne Maid. Sie war die Tochter eines mächtigen<br />

Königs gewesen. Als ihr Vater starb, da verstieß sie ihr Bruder<br />

<strong>und</strong> dessen böse Frau, die es nicht haben wollte, dass im Lande<br />

ein schöneres Weib als sie lebe. Die schöne Maid floh also<br />

an die Grenze des Landes, wo sie am Rande eines grossen<br />

Waldes in einer kleinen Höhle wohnte. Kümmerlich ernährte<br />

sie sich von den Früchten des Waldes <strong>und</strong> war oft nahe daran,<br />

vor Hunger zu sterben. Hoch oben im Gebirge da wohnten<br />

auch drei K e s c h a l y i, 42 die oft ins Thal hinabblickten <strong>und</strong><br />

dem Treiben der Magd zusahen. Da sprach einmal die eine<br />

Keschalyi zu ihren Schwestern: „Die arme Maid hat ein gar<br />

schlechtes Leben; sie ist sehr hungrig! Ich werde einige meiner<br />

Haare zu ihr ins Thal fallen lassen; sie wird diese Haare verzehren<br />

<strong>und</strong> dann einen Sohn zur Welt bringen; der wird für sie<br />

sorgen!“ Während die Keschalyi einige Haare hinabfallen liess,<br />

welche von der Maid sogleich verzehrt wurden, sprach die<br />

zweite Keschalyi: „Ich werde bewirken, dass ein goldenes Bäch-<br />

41 H. v. Wlislocki: Vom wandernden… , S. 70 (wie Anm. 19).<br />

42 Vgl. Anm. 26 des vorliegenden Aufsatzes.


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 261<br />

lein vor ihrer Höhle fliesse <strong>und</strong> ein goldener Baum Ebenda<br />

wachse, der alle Früchte der Welt tragen soll!“ – „Und ich,“<br />

sprach die dritte Keschalyi, „werde schon sorgen, dass es dem<br />

Kinde, wenn es zum Manne erwachsen, nicht immer gut ergehe!“<br />

Wie freute sich die arme Maid, als sie am nächsten Morgen<br />

ein goldnes Bächlein vor ihrer Höhle fliessen <strong>und</strong> einen goldnen<br />

Baum daselbst stehen sah! Nun hatte sie Speisen in Fülle,<br />

<strong>und</strong> das Wasser des goldnen Bächleins schmeckte wie der allerbeste<br />

Wein. Da gebar eines Tages die Magd ein Knäblein,<br />

das ein rothes Striemchen am Halse hatte. Nun wusste die Maid,<br />

wer ihr das Kind beschert habe! Als sie es im Wasser des<br />

goldenen Bächleins badete, da wuchs es auf einmal zu einem<br />

schönen Jüngling heran. Doch nicht lange sollte die Freude der<br />

Beiden dauern! Der Bruder der Maid hatte erfahren, dass seine<br />

Schwester Leïla in einer Höhle wohne, wo ein goldenes Bächlein<br />

fliesse <strong>und</strong> ein goldener Baum stehe. Er schickte seine<br />

Soldaten<br />

hin, <strong>und</strong> diese berauschten sich vom Weine des goldenen<br />

Bächleins. In ihrem Rausche tödteten sie Leïla, deren<br />

Sohn nur mit Mühe dem Tode entrann. Er floh in die Welt,<br />

<strong>und</strong> als er geheiratet hatte <strong>und</strong> Kinder besass, sprach er zu<br />

seinen Leuten: „Wir wollen uns L e ï l a nennen lassen, damit


262 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

der Name meiner Mutter ewig lebe!“ Und wir haben es ge-<br />

denn auch noch heute heissen wir „die L e ï l halten,<br />

a“...


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 263<br />

Stammsage de A s c h a n i 43<br />

Es lebte einmal vor vielen h<strong>und</strong>ert Jahren ein Ehepaar das lange<br />

Zeit keine Kinder hatte. Da trieb einmal der Mann seine<br />

Kuhherde hinaus auf das Feld, um sie daselbst weiden zu<br />

lassen. Während die Kühe sich auf der Weide herumtrieben,<br />

legte sich der Mann unter einem Baum nieder <strong>und</strong> schlief ein.<br />

Da hatte er einen w<strong>und</strong>erbaren Traum. Es träumte nämlich,<br />

dass ein Chagrin 44 auf einer seiner trächtigen Kühe herumreitend,<br />

also zu ihm sprach: „Lieber, wenn du ein Kind haben<br />

willst, so schlachte diese Kuh <strong>und</strong> verbrenne ihr Fleisch; von<br />

der Asche lasse deine Frau essen <strong>und</strong> lege dich dann mit ihr<br />

auf das Kuhfell schlafen 45 ; dann wirst du ein Kind erzeugen!“<br />

Als der Mann erwachte, dachte er über den Traum nach.<br />

Schliesslich handelte er so, wie ihm der Chagrin im Traume<br />

angeraten hatte. Er schlachtete also die trächtige Kuh, verbrannte<br />

ihr Fleisch, <strong>und</strong> nachdem er von der Asche seiner Frau<br />

43 H. v. Wlislocki: Vom wandernden… , S. 72 (wie Anm. 19).<br />

44 Vgl. Anm. 27 des vorliegenden Aufsatzes.<br />

45 Anmerkung Wlislocki: „In Açvalâyanas Hausregeln finden wir das<br />

Stierfell neben dem Hausherde ausgebreitet, das Weib darauf sitzend <strong>und</strong><br />

den Mann, indem die Gattin umarmt, ausrufend: Möge der Herr aller<br />

Wesen uns Kinder schenken>.” Worte, die dem vedischen Hochzeitshymnus<br />

entlehnt sind (Rigveda X, 85, 43), vgl. Angelo de Gubernatis, Die<br />

Thiere in der indogermanischen Mythologie. Leipzig 1874, S. 34. Der<br />

Glaube an eine Kunsterzeugung findet sich auch bei den ‚Zigeunern’ vor.


264 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

zu essen gegeben hatte, legte er sich mit ihr auf das Kuhfell<br />

n ieder.<br />

Die Zeit verging, <strong>und</strong> die Frau gebar nach neun Monaten ein<br />

Töchterlein, das gleich nach seiner Geburt lachte. Da gaben<br />

die Eltern ihrer Tochter den Namen A s c h a n i (die<br />

Lachende); <strong>und</strong> diesen Namen verdiente auch Aschani, denn<br />

selbst als sie zur Jungfrau herangewachsen war, lachte sie den<br />

ganzen Tag über <strong>und</strong> wenn auch alle Leute weinten über<br />

irgend ein Leid, Aschani allein lachte doch noch immer. Als<br />

sie sechszehn Jahre alt wurde, da heiratete sie ein reicher<br />

Mann, mit dem sie viele Jahre hindurch in Glück <strong>und</strong> Frieden<br />

lebte <strong>und</strong> gar viele Kinder zeugte. Ob sie Leid oder Freud traf,<br />

sie lachte den ganzen Tag über. Da traf es sich einmal, dass ihr<br />

Mann sich ein Bein brach <strong>und</strong> im Schmerze den ganzen Tag<br />

jammerte. Als er nun bemerkte, dass Aschani über sein Leid<br />

nur lachte, da wurde er gar zornig <strong>und</strong> liess sie samt ihren<br />

Kindern durch seine Diener hinaus in die weite Welt treiben.<br />

Nun begann für Aschani <strong>und</strong> ihre Kinder eine gar schwere<br />

Zeit; sie durchwanderten die Welt, vermehrten sich immer<br />

mehr, <strong>und</strong> wir armen Leute sind ihre Nachkommen, die den<br />

Namen ihrer Urgroßmutter Aschani noch immer beibehalten<br />

haben.


<strong>Märchen</strong> <strong>und</strong> <strong>Sagen</strong> der transsilvanischen ´Zigeuner´ 265<br />

Die Stammsage der T s c h a l e<br />

Es lebte einmal ein gar schöner Jüngling, der aber trotz seines<br />

Fleisses in der Welt doch zu nichts kommen konnte, denn er<br />

ass gewöhnlich so viel Speisen, die für zwanzig Männer genug<br />

gewesen wären. Selten hörte man ihn sagen: Ich bin satt! Daher<br />

nannten ihn auch seine Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Bekannte Tschalo (der<br />

Gesättigte). Da dachte nun einmal Tschalo bei sich: „Du gehst<br />

zum König <strong>und</strong> wirst sein Diener; dort muss es doch Speisen<br />

in Hülle <strong>und</strong> Fülle geben <strong>und</strong> dort wirst du dich jeden Tag satt<br />

essen können!“ Tschalo ging also zum König <strong>und</strong> sprach zu<br />

ihm: „Wollt ihr mich, Herr König, in euren Dienst nehmen?“ –<br />

„Ja,“ versetzte der König, „wenn du mir sagst, worauf du dich<br />

am besten verstehst?“ – „Aufs Essen,“ antwortete Tschalo,<br />

„ich esse für zwanzig Männer <strong>und</strong> bin erst dann gesättigt!“ Da<br />

lachte der König hell auf <strong>und</strong> sprach: „Du gefällst mir, <strong>und</strong> ich<br />

gerne<br />

in meinen Dienst nehmen, wenn du folgende Aufgabe<br />

lösen kannst: Gehe aus meinem Hause <strong>und</strong> komm’ dann zurück<br />

weder am Tage, noch in der Nacht; komm’ weder barfuss,<br />

noch in Stiefeln, <strong>und</strong> wenn du hierher zurückgekehrt bist,


266 <strong>Maria</strong> <strong>Sass</strong><br />

sei weder drinnen noch draussen!“ 46 Tschalo versetzte: „Gut,<br />

Herr König! Ich werde kommen!“ Hierauf ging er weg, <strong>und</strong><br />

als die Dämmerung hereinbrach, kehrte er zum König zurück,<br />

indem er ein Stück Leinwand vor sich herrollte, <strong>und</strong> als er zum<br />

Hause des Königs kam, da setzte er sich auf die Schwelle,<br />

indem er ein Bein nach innen, das andere nach aussen hielt.<br />

Als dies der König sah, lachte er hell auf <strong>und</strong> sprach: „Du bist<br />

ein kluger Junge, <strong>und</strong> ich will dich in meinen Dienst nehmen!“<br />

Von nun an konnte sich Tschalo jeden Tag satt essen. Bald<br />

nahm er sich ein Weib <strong>und</strong> hatte mit der Zeit sehr viele Kinder,<br />

die ihrem Vater nacharteten <strong>und</strong> im Essen unersättlich waren.<br />

Doch bald nahm die Herrlichkeit ein Ende, denn der König<br />

fürchtete, dass Tschalo <strong>und</strong> seine Kinder ihn arm fressen<br />

würden, <strong>und</strong> jagte daher die ganze Familie in die Welt hinaus.<br />

Wir stammen von Tschalo ab, haben auch einen grossen Appetit,<br />

aber leider sehr wenig zu essen.<br />

46 Anmerkung Wlislocki: “Ähnliche Aufgabe in einem finnischen <strong>Märchen</strong><br />

bei Schiefner im Vorwort zu Radloffs, Problem der Volksliteratur der<br />

türkischen Stämme Südsibiriens. (Vorwort XIII).

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