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FACULDADE DE LETRAS Undral Undrakhtsog 2 Ciclo de Estudos ...

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<strong>FACULDA<strong>DE</strong></strong> <strong>DE</strong> <strong>LETRAS</strong><br />

UNIVERSIDA<strong>DE</strong> DO PORTO<br />

<strong>Undral</strong> <strong>Undrakhtsog</strong><br />

2 0 <strong>Ciclo</strong> <strong>de</strong> <strong>Estudos</strong> Alemães<br />

Die Varianzforschung <strong>de</strong>r mittelhoch<strong>de</strong>utschen Lyrik anhand vom Lied:<br />

´ich und ein wip, wir haben gestritten´<br />

2012<br />

Orientador: Prof. Dr. John GREENFIELD<br />

Classificação: 2 0 <strong>Ciclo</strong> <strong>de</strong> <strong>Estudos</strong><br />

Dissertação<br />

Versâo <strong>de</strong>finitiva


Vorwort:<br />

Die vorliegen<strong>de</strong> Masterarbeit ist im Rahmen <strong>de</strong>s Forschungsprogramms GLITEMA<br />

entstan<strong>de</strong>n. Diese Arbeit ist Teil meines Studiums <strong>de</strong>r Deutschen Literatur <strong>de</strong>s Mittelalters im<br />

Europäischen Kontext an <strong>de</strong>n Universitäten Porto, Palermo und Bremen. Die Wahl <strong>de</strong>s<br />

Themas beruhte auf persönlichem Interesse meinerseits.<br />

Mein beson<strong>de</strong>rer Dank geht an Herrn Prof. Dr. John Greenfield, meinen fachlichen<br />

Betreuer. Ich bedanke mich bei ihm für die vielseitige Unterstützung, seine Geduld und sein<br />

außeror<strong>de</strong>ntliches Engagement.<br />

Mein Dank geht auch an Frau Prof. Dr. Laura Auteri und an Frau Prof. Dr. Elisabeth<br />

Lienert, <strong>de</strong>ren Ratschläge mir geholfen haben.<br />

Weiterhin bedanke ich mich bei allen Personen, die mir durch ihre Unterstützung<br />

geholfen haben, diese Arbeit zu erstellen.<br />

II


Abstract:<br />

The work at hand <strong>de</strong>als with the song ´ich und ein wip, wir haben gestritten´of Albrecht von<br />

Johansdorf. The aim of this work is to un<strong>de</strong>rstand the hand-written version of the song. On<br />

one hand, I see the need to elucidate the lyrics of the song which were represented in different<br />

manners in the A, B and C handwritings. On the other hand, more light will be shed on the<br />

handling of the editorial methods, because the latest researches consi<strong>de</strong>r the editorial methods<br />

of the ol<strong>de</strong>r researches as philological editorial mistakes. The more recent researches presume<br />

that there are no fixed medieval texts as had always been conceived by the mo<strong>de</strong>rn recipients.<br />

The recent researches however assert that the medieval lyrical texts were constantly passed on<br />

in “different” versions, through which one should thereby present the present-day rea<strong>de</strong>rs an<br />

exact <strong>de</strong>piction. On the basis of the varied researches, the song ´ich und ein wip haben<br />

gestritten´ will be examined and interpreted.<br />

III


Inhaltsverzeichnis<br />

Vorwort<br />

III<br />

Abstract<br />

IV<br />

1. Einleitung 2<br />

1.1. Editionsphilologie und ihre Metho<strong>de</strong> 3<br />

1.2. Forschungsbericht 6<br />

1.3.Struktur <strong>de</strong>r Arbeit 11<br />

2. Lyrische Varianz: Theoretischer Teil 12<br />

2.1. Varianz und Variante 13<br />

2.2. Exkurs: Mouvance 15<br />

2.3. Textvarianz 16<br />

2.4. Strophenvarianz 19<br />

3. Das Lied ´ich und ein wip, wir haben gestritten´ in seinen Handschriften 21<br />

3.1. Diplomatischer Abdrücke <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s in seinen Handschriften 24<br />

3.1.1. Die normalisierten mittelhoch<strong>de</strong>utschen Texte <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s 29<br />

3.1.1.1. Formale Analyse <strong>de</strong>r Strophen 33<br />

3.1.1.2. Inhaltliche Interpretation <strong>de</strong>r handschriftlichen Fassungen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s 38<br />

3.1.1.3. Zusammenfassung 60<br />

4. Schlussfolgerung und Ausblick 64<br />

Literaturverzeichnis 68<br />

Anhang 72<br />

1


1. Einleitung<br />

Wer ein mittelhoch<strong>de</strong>utsches Lied interpretieren will, bedient sich in <strong>de</strong>r Regel<br />

einschlägiger Editionen. Doch angesichts <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r jüngeren Forschung eröffneten<br />

Möglichkeit, zur Analyse mittelalterlicher Lyrik selbständig die Handschriften zur<br />

Grundlage zu nehmen, wird die Editionspraxis an <strong>de</strong>r mittelalterlichen Lyrik immer<br />

mehr angezweifelt 1 .<br />

Es gibt Unterschie<strong>de</strong> hinsichtlich <strong>de</strong>r lyrischen Texte in <strong>de</strong>n Handschriften<br />

selbst, <strong>de</strong>nn diese Texte wur<strong>de</strong>n schon in <strong>de</strong>n Originalen nicht immer auf die gleiche<br />

Art und Weise fixiert: Sie sind namentlich in <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen Handschriften<br />

unterschiedlich präsentiert. So weisen sie Abweichungen auf <strong>de</strong>r Text- und<br />

Strophenebene auf, die von orthographischen bis hin zu wesentlichen Än<strong>de</strong>rungen<br />

in <strong>de</strong>n Textstellen reichen können. Die Tatsache, dass die Handschriften<br />

Abweichungen enthalten, wird in <strong>de</strong>r jüngeren Forschung als ´Varianz´<br />

mittelalterlicher Lyrik bezeichnet. 2 Mit <strong>de</strong>r Varianz <strong>de</strong>r mhd. Lyrik möchte ich mich in<br />

<strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit beschäftigen. Es wird aber nicht möglich sein, das<br />

Varianzphänomen auf alle Lyrik <strong>de</strong>s Mittelalters ausgeweitet zu untersuchen, so dass<br />

sich diese Arbeit im Wesentlichen nur auf zwei Aspekten konzentriert. Zum einen wird<br />

das Konzept <strong>de</strong>r Varianzforschung analysiert und zum an<strong>de</strong>ren die Frage beantwortet,<br />

welche Auswirkungen die Text- und Strophenvarianz auf <strong>de</strong>n ´Sinn´ von<br />

handschriftlichen Fassungen eines Lie<strong>de</strong>s haben könnte. Von diesen Überlegungen aus<br />

wird das Lied „ich und ein wip, (wir) haben gestitten“ von Albrecht von Johansdorf<br />

analysiert, da dieses Lied von <strong>de</strong>r Überlieferung her eines <strong>de</strong>r umstrittensten Lie<strong>de</strong>r von<br />

Johansdorf ist, und sich <strong>de</strong>swegen auch im Rahmen dieser Arbeit als passen<strong>de</strong>s Beispiel<br />

eignet. Das Lied ´ich und ein wip wir haben gestritten´ wird in <strong>de</strong>r Forschung meist als<br />

vierstrophiges Kreuzlied verstan<strong>de</strong>n. Mit 56 Versen wird es als das längste aller Lie<strong>de</strong>r<br />

Johannsdorf betrachtet.<br />

Ohne die Ergebnisse meiner Untersuchung vorwegnehmen zu wollen, lässt sich<br />

feststellen, dass die jüngere Forschung davon ausgeht, dass die mittelalterlichen<br />

lyrischen Texte durch die ältere Editionsmetho<strong>de</strong> verfälscht wer<strong>de</strong>n. Daher möchte ich<br />

im Folgen<strong>de</strong>n zunächst die verschie<strong>de</strong>nen Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Edierens mittelalterlicher<br />

1 Zahlreiche Editionen mittelalterlicher <strong>de</strong>utscher Texte kamen ohne persönlich Konatkt <strong>de</strong>s Herausgebers<br />

mit <strong>de</strong>n Überlieferungsträgern zustan<strong>de</strong>; im Zeitalter <strong>de</strong>r Fotokopie nahmen Fotokopien o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />

Mikrofilm am Bildschirm die Stelle <strong>de</strong>r älteren hnadschriftlichen Abschriften ein, rudimintäre<br />

Grunddaten zum Co<strong>de</strong>x vermittelten meist die älteren Handschriftenkataloge (vgl. SCHNEI<strong>DE</strong>R,1999:4).<br />

2 In Kapitel 2 wird ´Varianz´ für diese Arbeit genauer <strong>de</strong>finiert. S. 13<br />

2


Texte zusammenfassen.<br />

1.1. Editionsphilologie und ihre Metho<strong>de</strong>n<br />

In <strong>de</strong>n letzten Jahren <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r mediävistischen Forschung eine<br />

wichtige Theoriediskussion über die Editionsphilologie geführt. Diese fand statt unter<br />

<strong>de</strong>m Etikett New sollte Altes, Überholtes ersetzt wer<strong>de</strong>n (WOLF, 2002:175). 3 Damit<br />

sollte ausgedrückt wer<strong>de</strong>n, dass die ersten Versuche <strong>de</strong>r germanistischen Textkritik<br />

durch die neue I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r jüngeren Forschung verbessert wer<strong>de</strong>n sollten. Was ist aber die<br />

Editionsphilologie? Die Editionsphilologie ist ein Bereich <strong>de</strong>r Literaturwissenschaft, <strong>de</strong>r<br />

sich mit <strong>de</strong>n wissenschaftlichen Prinzipien <strong>de</strong>r Edition beschäftigt: Die<br />

Editionsphilologie diskutiert Regeln für die Edition, also die Herausgabe von Texten,<br />

höchstes Gut sind die kommentierten, historisch kritischen Ausgaben (NEUHAUS,<br />

2009:218). Die Editionsphilologie <strong>de</strong>r älteren <strong>de</strong>utschen Literatur ist im Vergleich zur<br />

neueren <strong>de</strong>utschen Literatur sehr viel problematischer, weil <strong>de</strong>r Editor<br />

mittelhoch<strong>de</strong>utscher bzw. mittelalterlicher Texte in <strong>de</strong>r Regel mit verschie<strong>de</strong>nen und<br />

unfesten Quellen arbeitet. 4 Dabei können einige Fragen zur Wahl <strong>de</strong>r Editionsmetho<strong>de</strong><br />

aufgeworfen wer<strong>de</strong>n, unter an<strong>de</strong>rem: Welches Ziel soll z.B. die Edition verfolgen? Wie<br />

soll ein Herausgeber mit einem geringen Bearbeitungsgrad <strong>de</strong>r Hanschriften umgehen? 5<br />

Gibt es dafür Editionsmöglichkeiten? usw.<br />

Die Forschung, die sich mit <strong>de</strong>r Überlieferungssituation mittelalterlicher Texte<br />

beschäftigt, entwickelte unterschiedliche Thesen und Metho<strong>de</strong>n. Von ihr ausgehend<br />

kann die Zusammenstellung eines mittelalterlichen Editionstextes mehrere Ziele<br />

verfolgen. Karl STACKMANN unterteilt die Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r altgermanistischen Editionen in<br />

drei Phasen: (vgl. STACKMANN, 1998:11-32) 6 :<br />

I. ,Rekonstruktionsphilologie‘ - Editionen nach <strong>de</strong>r LACHMANNISCHEN<br />

Metho<strong>de</strong>:<br />

3 vgl. Unter <strong>de</strong>r jüngeren Forschung ist die mittelalterliche Überlieferungssituation eine aktuelle<br />

Diskussion gewor<strong>de</strong>n. Zahlreiche Publikationen über dieses Thema erschienen in <strong>de</strong>n letzten Jahren.<br />

Aber mittelweile ist die Diskussion sachlicher gewor<strong>de</strong>n (vgl. STARKEY, WANDHOFF, 2008:48).<br />

4 Die Antike und mittelalterliche Literatur ist in <strong>de</strong>r Regel in sehr viel späteren Abschriften überliefert,<br />

d.h, es gibt meistens keine autorisierten Fassungen.<br />

5 Die Anstöße zum Handschriftenwechsel ergaben sich aus Textstellen und Wörtern (bzw. aus ihrer<br />

grammatischen Präsentation), die nicht verständlich waren bzw. in <strong>de</strong>n Wörterbüchern und Grammatiken<br />

nicht belegt wer<strong>de</strong>n konnten (vgl. TREVOOREN, 1993: 21).<br />

6 vgl. nach WILLEMSEN (2006) ist es zu berücksichtigen, dass eine solche Einteilung immer nur eine<br />

grobe Verallgemeinerung darstellen kann S.15.<br />

3


Karl LACHMANN hatte im Jahr 1817 in seiner Rezension zu Friedrich Heinrich von <strong>de</strong>r<br />

Hagens ´Nibelungen Lied´ (1816) und Georg Friedrich Beneckes ´<strong>de</strong>r E<strong>de</strong>l Stein´<br />

(1816) die für die Editionsphilologie bestimmen<strong>de</strong> I<strong>de</strong>e formuliert 7 :<br />

Wir sollen und wollen aus einer hinreichen<strong>de</strong>n Menge von guten Handschriften einen<br />

allen diesen zum Grun<strong>de</strong> liegen<strong>de</strong>n Text darstellen, <strong>de</strong>r entwe<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r ursprüngliche<br />

selbst seyn o<strong>de</strong>r ihm doch sehr nahe kommen muss (LACHMANN, 1876:S.82).<br />

Entsprechend dieser I<strong>de</strong>e LACHMANNs haben die Textphilologen <strong>de</strong>s 19. Jh. versucht,<br />

aus <strong>de</strong>m mittelalterlichen Handschriften ‚originale‘ Dichterwerke zu rekonstruieren. Sie<br />

gingen von <strong>de</strong>r Vorstellung eines einzigen, letztgültigen Autortextes aus und ihr Ziel<br />

war es, mit Hilfe von Fehlerbestimmungen die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen<br />

<strong>de</strong>n Überlieferungszeugen aufzu<strong>de</strong>cken, um Ranglisten in Bezug auf <strong>de</strong>n zu<br />

erschließen<strong>de</strong>n Archetypus aufzustellen. Dass aus verschie<strong>de</strong>nen Handschriften ein<br />

Archetyp bzw. eine Urfassung <strong>de</strong>s Autors rekonstruiert wer<strong>de</strong>n kann, wird somit in <strong>de</strong>r<br />

Forschung als die klassische Philologie bzw. LACHMANNISCHE Metho<strong>de</strong> bezeichnet.<br />

Diese Metho<strong>de</strong> war <strong>de</strong>r Anfang <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Editionsphilologie.<br />

II. ,Der historischer Text‘ - Edition nach Leithandschriftenprinzip:<br />

Im Jahr 1963 än<strong>de</strong>rte Helmut BRACKERT mit seinen ,,Beitrag zur Handschriftenkritik<br />

<strong>de</strong>s Nibelungenlie<strong>de</strong>s‘‘ die LACHMANNs Metho<strong>de</strong>, in<strong>de</strong>m er die einzelne Handschrift als<br />

untersuchungswürdigen Gegenstand wählte (vgl. HENNING, 1977:8). Im darauf<br />

folgen<strong>de</strong>n Jahr kritisierte STACKMANN in seinem Aufsatz ,,Mittelalterliche Texte als<br />

Aufgabe‘‘ <strong>de</strong>n textkritischen Umgang mit überlieferten Texten <strong>de</strong>s Mittelalters und<br />

belegte, dass die Überlieferungsverhältnisse eines Textes bestimmte Bedingungen<br />

erfüllen müssen, damit die LACHMANNs Metho<strong>de</strong> erfolgreich umgesetzt wer<strong>de</strong>n könnte<br />

(vgl. BAISCH, 2003:9). Nach STACKMANN existiert keinen ´Originaltext´ vom Autor, es<br />

steht vielmehr am Beginn <strong>de</strong>r Überlieferung lediglich ein Text: Ein Schreiber zeichnet<br />

nur <strong>de</strong>n Text einer Vorlage auf (STACKMANN, 1964:246). Er betont weiter, dass<br />

zwischen <strong>de</strong>n Handschriften vertikale Verhältnisse existieren:<br />

Ein Schreiber zeichnet nur <strong>de</strong>n Text einer Vorlage auf. Der Ausdruck ‚vertikal‘ ist aus<br />

<strong>de</strong>m Bild <strong>de</strong>s Stammbaumes abgeleitet, in welchem die Tochterhandschrift jeweils<br />

unterhalb <strong>de</strong>r Mutterhandschriften untergebracht sind (Ebd.S.246)<br />

Die Forschung sieht nun darin eine Alternative, <strong>de</strong>n Text allein auf Grundlage <strong>de</strong>r<br />

‚besten‘, <strong>de</strong>r sogenannten Leithandschrift herzustellen und nur bei offensichtlichen<br />

‚Schreibfehlern‘ die an<strong>de</strong>ren Handschriften hinzuzufügen (vgl. WILLEMSEN, 2006:19).<br />

7 Karl LACHMANN, Rezension <strong>de</strong>r ´Nibelungen Lied´ von Hagen und <strong>de</strong>r ´E<strong>de</strong>l stein´ von Benneke,<br />

Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung 1817, wie<strong>de</strong>r abgedruckt in: kleinere Schriften zur <strong>de</strong>utschen<br />

Philologie von Karl LACHMANN hg. von Karl MÜLLENHOFF. Berlin 1876. S. 81-114<br />

4


Das Vorgehen dieser Editionsmetho<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Leithandschriftenprinzips ist im Grun<strong>de</strong><br />

genommen das gleiche wie die LACHMANNSCHE Metho<strong>de</strong>; jedoch ist die Suche nach<br />

<strong>de</strong>m Autortext nicht das vorherrschen<strong>de</strong> Ziel.<br />

Nach <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Leithandschriftenprizip wer<strong>de</strong>n sprachlich-sachliche<br />

Unstimmigkeiten in Apparaten markiert: Vgl. etwa die Edition von Joachim HEINZLEs<br />

´Willehalm´ o<strong>de</strong>r die Neubearbeitung von ´Des Minnesangs Frühling´, die Mitte <strong>de</strong>r<br />

siebziger Jahre durch MOSER und TERVOOREN erfolgte.<br />

III.<br />

,Neue Philologie‘- und die For<strong>de</strong>rung nach einer ,neuen‘ Edition:<br />

Im Gegensatz zu Rekonstruktionsphilologie und Leithandschriftenprinzipien sieht die<br />

Neue Philologie in <strong>de</strong>r handschriftlichen Überlieferung viele mögliche<br />

Diskussionsthemen:<br />

Das Fach hat unter <strong>de</strong>m Titel ´´Neue Philologie´´ vor allem die sogenannten ´Offenheit´<br />

mittelalterlicher Texte, ihre fallweise gegebene überlieferungsgeschichtliche<br />

Unfestigkeit o<strong>de</strong>r Varianz, sowie die Instanzen <strong>de</strong>r Textproduktion und Textautorisation<br />

thematisiert (STROHSCHNEI<strong>DE</strong>R,2002:214).<br />

Im Rahmen <strong>de</strong>r Neuen Philologie ist eine an<strong>de</strong>re mögliche Editionsmetho<strong>de</strong> entwickelt<br />

wor<strong>de</strong>n, die alle Überlieferungszeugen als gleichwertig behan<strong>de</strong>lt und die<br />

Hierarchisierung <strong>de</strong>r Textzeugen ablehnt. Der Frage nach <strong>de</strong>m Autortext wird damit<br />

eine Absage erteilt. Der Autor als Subjekt sei nämlich eine ‚Konstruktion‘ <strong>de</strong>s 18. und<br />

19.Jh., die in <strong>de</strong>r Mo<strong>de</strong>rne und Postmo<strong>de</strong>rne (‚Dekonstruktion‘) bereits überwun<strong>de</strong>n sei,<br />

und die im Mittelalter nicht gegeben habe 8 : L´auteur n´est pas une idée médiévale<br />

(CERQUIGLINI, 1989:25). Das Ziel <strong>de</strong>r neuen Philologen ist es, je<strong>de</strong> Handschrift und<br />

je<strong>de</strong>n Text für sich selbst zu betrachten. Dabei sollte man alle Varianten für wichtig<br />

halten: es gibt selbsttretend Formen von Varianz, die in ausgeprägter Weise <strong>de</strong>n Sinn<br />

eines Textes tangieren (BEIN, 2002:310).<br />

Die Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>r ´Neue[n] Philologie´ ist in <strong>de</strong>n letzten Jahren in <strong>de</strong>m<br />

<strong>de</strong>utschsprachigen Raum nicht nur in <strong>de</strong>r theoretischen Reflexion, son<strong>de</strong>rn auch in <strong>de</strong>r<br />

praktischen Editionstätigkeit zu fin<strong>de</strong>n. Als Beispiel zu nennen ist ´die Edition und<br />

Rezeption´ von Walthers Texte, die von Thomas BEIN herausgegeben wur<strong>de</strong>. Auch im<br />

Rahmen <strong>de</strong>r neuen Editionsmetho<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n seit rund zwei Jahren in einigen<br />

Universitäten einige Projekte ausgeführt, um neue Edition <strong>de</strong>r mittelalterlichen Werke<br />

zu erarbeiten. 9<br />

8 Hier wer<strong>de</strong>n also für Mittelalter und (Post-) Mo<strong>de</strong>rne i<strong>de</strong>ntische Vorannahmen gefor<strong>de</strong>t (vgl.<br />

WILLEMSEN, 2006:24).<br />

9<br />

´´Neuedition <strong>de</strong>s ´Tristan´ von Gottfrieds Von Strassburg´´; Westfälische Willhelm- Universität<br />

Münster. 2011. (http://www.uni-muenster.<strong>de</strong>/Germanistik/Lehren<strong>de</strong>/tomasek_t/projekte.html#tristan-<br />

5


Im Folgen<strong>de</strong>n wird ein kurzer Überblick gegeben, wie das Lied ´ich und ein wip<br />

wir haben gestritten´ in <strong>de</strong>r bisherigen Forschung verstan<strong>de</strong>n wur<strong>de</strong>.<br />

1.2. Forschungsbericht<br />

Das Lied wur<strong>de</strong> in drei Lie<strong>de</strong>rhandschriften überliefert, und zwar in <strong>de</strong>n Handschriften<br />

A B und C. Die Handschrift A enthält drei Strophen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s, während die<br />

Parallelhandschriften B und C es auf drei Strophen bringen. An an<strong>de</strong>rer Stelle führt C<br />

noch eine vierte Strophe an, wobei ungewiss bleibt, ob <strong>de</strong>r Schreiber sie als verspäteten<br />

Nachtrag o<strong>de</strong>r als neues einstrophiges Lied empfand. Diese uneinheitliche<br />

Überlieferung nahmen manche Forscher zum Anlass, die vier Strophen auf mehrere<br />

Varianten zu verteilen.<br />

Angesichts <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Strophenfolgen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s in seinen Handschriften<br />

und seiner unterschiedlichen Strophenbestän<strong>de</strong> haben sich LACHMANN und<br />

HAUPT(1857) in <strong>de</strong>r Ausgabe ´Des Minnesangs Frühling´ bei <strong>de</strong>r Strophenfolge für die<br />

Fassung A entschie<strong>de</strong>n. Beim Strophenbestand aber haben sie die letzte Strophe von C<br />

und B hinzugefügt und lediglich die zweite Strophe <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s aus <strong>de</strong>r Zusatzstrophe C<br />

rekonstruiert. Somit wur<strong>de</strong> das Lied als vierstrophiges Lied verstan<strong>de</strong>n. All diese<br />

Merkmale haben sie im Anhang <strong>de</strong>r Ausgabe vermerkt. Das Lied wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Lie<strong>de</strong>rn<br />

<strong>de</strong>s Minnesängers Albrecht von Johansdorf als Ton III zugeordnet und späterhin in <strong>de</strong>r<br />

Forschung als Kreuzzugslyrik interpretiert. Betrachtet man die Strophen I- IV in Folge,<br />

so sieht das Lied MF 87,29 in <strong>de</strong>r mittelhoch<strong>de</strong>utschen Lyrikforschung aus wie folgt.<br />

MF 87,29:<br />

1. Strophe:87,29<br />

Ich un<strong>de</strong> ein wip, wir haben gestriten<br />

30 Nu vil manige zit.<br />

Ich hân von ir zorne vil erliten.<br />

Noch hel<strong>de</strong>t si <strong>de</strong>n strit.<br />

Nu waenet si dvr das ich var<br />

Daz ich si lâze fri.<br />

35 Got vol <strong>de</strong>r helle niemer mich bewar<br />

Ob das min wille si<br />

Swie vil daz mer und ouch die starken ün<strong>de</strong> toben<br />

Ichn wil si niemer da verloben<br />

Der donreslege mohte ab lihte sin<br />

Dâ si mich dur lieze<br />

Nu sprechet wes si wi<strong>de</strong>r mich genieze<br />

Si kumet mir niemer tac us <strong>de</strong>m gedanken min.<br />

edition); Wolfram von Eschenbach, ´Parzival´. Eine überlieferungskritische Ausgabe in elektronischer<br />

Form. Universität Bern. seit 2001.( http://www.parzival.unibe.ch/einfuehrung.html#top).<br />

6


2. Strophe:88,5<br />

Ob ich si iemer mere gesehe<br />

<strong>de</strong>sn weis ich niht für war<br />

Dâ bî geloube mir es swes ich ir jehe<br />

Es gêht von herzen gar<br />

Ich mine si fuer alliu wip<br />

10 Und swer ir das bî gote<br />

Allie mine sinne und ouch <strong>de</strong>r lip<br />

Daz stêt in ir gebôte.<br />

Ine erwache niemer es sin min erste segen<br />

Daz gôt ir êren müose pflegen<br />

15 Und lâze ir lip mit lobe hie gêsten<br />

Dar nach êweklîche<br />

gib ir, herre, vröi<strong>de</strong> in dime riche<br />

daz ir geschehe, alsô mouse ouch mir ergên<br />

3. Strophe:88,19<br />

Swie gerne ich var, sô jâmert mich<br />

20 Wie es noch hie gestê<br />

Ich weiz wol ez verkêret alles sich<br />

Die sorge tuot mir wê<br />

Die ich hie laze wol gesunt<br />

Dern vin<strong>de</strong> ich aller niht<br />

25 <strong>de</strong>r leben sol <strong>de</strong>m wirt manig wun<strong>de</strong>r kunt<br />

Daz alle tage geschiht<br />

Wir haben in eine jâre, <strong>de</strong>r liute vil verlorn<br />

Dâ bî sô merkent gotes zorn<br />

Nu erkene sich ein ieglich herze guot<br />

30 Diu welt ist unstete<br />

Ich meine di da minnent valsche raete<br />

Dem wirt zu jungest schin wiez an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong> tout<br />

4. Strophe:88,33<br />

Swer mine minekliche treit<br />

Gar âne valsche muot<br />

35 Des sün<strong>de</strong> wirt vor got te niht geseit<br />

Si tiuret und ist guot<br />

Wan sol mi<strong>de</strong>n boesen kranc<br />

und minen reiniu wip<br />

89,1 Tue erz mit truewe so habe iemer danc<br />

Sin tugentlicher lib<br />

Kun<strong>de</strong>r si ze rehte bei diu sich bewarn<br />

Für die wil ich ze helle varn<br />

5 Die aber mit listen wellent sint<br />

Für die wil ich niht vallen<br />

Ich meine die dâ minnent âne gallen<br />

Als ich mi truewen tuon die lieben frowen min<br />

Die meisten Interpretationen benutzen die von LACHMANN und HAUPT vorgezogene<br />

Liedgestalt und basieren auf das Lied MF: 87.29. So gilt zum Beispiel<br />

EGGEBERTS(1960), PRETZEL (1962), BERGMANN (1963), THEISS (1974), HÖLZLE<br />

7


(1980) und FISCHER (1985) das Lied gleich LACHMANN und HAUPT als vierstrophig.<br />

Die Untersuchungen von EGGEBERTS und PRETZEL sind nicht ein<strong>de</strong>utig klar, warum sie<br />

die vier Strophen als ein Lied verstehen, ob wegen <strong>de</strong>s gleichen Baus o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s Inhalts<br />

(vgl. INGEBRAND, 1966: 111). Dagegen versucht BERGMANN (1963) alle vier Strophen<br />

zu interpretieren, in<strong>de</strong>m er darauf hinweist, dass die Lie<strong>de</strong>inheit aller vier Strophen und<br />

ihrer richtigen Reihenfolge mit <strong>de</strong>r formalen und inhaltlichen Interpretation zu erweisen<br />

sei: Diese Interpretation zeigt, dass alle vier Strophen durch die hervorstehen<strong>de</strong><br />

Trennung ausgelöst wer<strong>de</strong>n (BERGMANN, 1963:85). Auch THEISS(1974) legt das Lied<br />

im Rahmen ihrer Dissertation als vierstrophiges Lied dar und ist wie BERGMANN <strong>de</strong>r<br />

Meinung, dass das Lied von formaler Seite <strong>de</strong>n Beweis für <strong>de</strong>n Konnex zwischen <strong>de</strong>n<br />

vier Strophen erbringe. Ihrer Meinung nach ist es das Beispiel <strong>de</strong>s Dichters am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

letzten Strophe, das eine thematische Brücke zur ersten Strophe schlage, die auch<br />

sprachlich im Parallelismus ´´ 88,3: gedanken mîn 10´´- ´´89,9: vrouwen mîn´´ angesetzt<br />

sei. 11 HÖLZLE (1980) und FISCHER (1985) diskutierten das Thema dieses Lie<strong>de</strong>s, und<br />

zwar dahingehend ob das Lied tatsächlich einen Kreuzzugsgedanken in sich trägt, o<strong>de</strong>r<br />

ob es ein reines Liebeslied sei. Ihre Meinungen basieren auf <strong>de</strong>m vierstrophigen Lied<br />

aus <strong>de</strong>r Ausgabe <strong>de</strong>s Minnesangs Frühling, ohne irgen<strong>de</strong>ine Verän<strong>de</strong>rung dieser<br />

Ausgabe. FISCHER(1985) vertritt die Auffassung, dass das Lied als ein geniales Beispiel<br />

für Kreuzzuglyrik sei und bezieht sich auf die Einzelverse dieses Lie<strong>de</strong>s, um die<br />

Gattung <strong>de</strong>r Kreuzzugslyrik näher zu <strong>de</strong>finieren. Er behauptet, dass das Lied die<br />

Beziehung zwischen Minne und Gott thematisiere und darin bestimmte Motive <strong>de</strong>r<br />

Kreuzzugslyrik zu fin<strong>de</strong>n seien. 12 Dagegen argumentiert HÖLZLE (1980) in seiner<br />

Untersuchung über ,,Das Gattungsproblem ´Kreuzlied´ im historischen Kontext‘‘, dass<br />

10 Nach A Handschrift gedanken min; in <strong>de</strong>r C und B ist es herzen min.<br />

11 Strophe IV ist als conclusio zu werten. Sie nimmt die in <strong>de</strong>n vorhergehen<strong>de</strong>n Strophen angeschnittenen<br />

Themen auf, die Johansdorf im Begriff <strong>de</strong>r ´´minneclichen minne´´ minnetheoretisch durchreflecktiert.<br />

Die i<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r ´´minne âne gallen´´ bzw. <strong>de</strong>r ´´minne âne valschen mout´´ verklammert <strong>de</strong>n Anfang und<br />

das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Strophe gedanklich miteinan<strong>de</strong>r. Das Beispiel <strong>de</strong>s Dichters am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r letzten Strophe<br />

schlägt eine thematische Brücke zu Strophe I, die auch sprachlich im Parallelismus ´´gedanken mîn´´-<br />

´´vrouwen mîn´´ angesetzt ist. Die I<strong>de</strong>e einer ´´minne âne gallen´´ vermittelt zwischen <strong>de</strong>r persönlichen<br />

Aussage von Strophen I und II und <strong>de</strong>r minnetheoretischen Reflexion <strong>de</strong>r letzten Strophe (vgl. THEISS,<br />

1974:93).<br />

12 Die häufigsten Gedanken und Motive <strong>de</strong>r Kreuzzugslyrik sind <strong>de</strong>r Abschied von <strong>de</strong>r vrouwe und <strong>de</strong>r<br />

Heimat, die Sorge um ein tugendhaftes Leben <strong>de</strong>r zurückbleiben<strong>de</strong>n Frau (Johansdorf MF 88,14 und lâze<br />

ir lîp mit lobe hie bestên) (vgl. Maria BÖHMER, 1968:28). Johansdorf greift in seinen Lie<strong>de</strong>rn auf die<br />

üblichen Topoi <strong>de</strong>r unerfüllten Liebe zurück, hegt aber keinen fundamentalen Vorbehalt gegen die<br />

erotische Liebe und Diesseitsfreu<strong>de</strong>. Auch zieht ihn in <strong>de</strong>n Kreuzlie<strong>de</strong>rn die zeitgenössische<br />

Gewissensfrage zwischen Minne und Gott an, aber er fin<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>m Mut <strong>de</strong>s Jugendalters seine<br />

Sicherheit vor Gott. Allenthalben begegnet die Klage über die abweisen<strong>de</strong> Frau (vgl. Hubert FISCHER,<br />

1985:238).<br />

8


das Lied keinen Bezug auf einen Kreuzzugsappell aufweise. Es wer<strong>de</strong> statt<strong>de</strong>ssen einer<br />

klagen<strong>de</strong>n Frau von ihren kreuzfahren<strong>de</strong>n Geliebten Trost gespen<strong>de</strong>t. 13 Für ihn stellt es<br />

daher ein Problem dar, dieses Lied <strong>de</strong>r Gattung Kreuzlied zuzuordnen: ,,Man wird es<br />

vielmehr auf Grund <strong>de</strong>r voraufgehen<strong>de</strong>n Überlegungen wie diese Lie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Gattung<br />

Minnelied zurechnen müssen ‘‘ (HÖLZLE,1980:237). Dies rechtfertigt er damit, dass <strong>de</strong>r<br />

Dichter im Lied MF:87,29 ein an die Geliebte gerichtetes Liebes- und Treuebekenntnis<br />

sowie eine an die Gesellschaft adressierten Mahnung zu gottgefälligem Leben zeigen<br />

wolle (S. 237).<br />

Nach LACHMANN und HAUPT hat KRAUS (1939) zum ersten Mal <strong>de</strong>n<br />

Strophenbestand und die Strophenfolge <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rs gesehen als die Herausgeber<br />

<strong>de</strong>s Minnesangs Frühling. Obwohl KRAUS an <strong>de</strong>r Arbeit <strong>de</strong>s Minnesangs Frühling<br />

beteiligt war, hat er seine Vorschläge nur in <strong>de</strong>n Kommentaren dieser Ausgabe<br />

ausgedrückt. Er schließt also aus <strong>de</strong>r Überlieferungssituation dieses Lie<strong>de</strong>s auf ein<br />

ursprünglich zweistrophiges Lied (MF. 87.29: I, MF.88.5:II). Die zwei weiteren<br />

Strophen versteht er jeweils als einstrophige Lie<strong>de</strong>r. So verteilt Kraus dieses Lied auf<br />

drei Einzellie<strong>de</strong>r: Seiner Meinung nach hätten die Strophen III und IV gar nichts<br />

Gemeinsam, weil die St. III in sich geschlossen sei und inhaltlich die traurigen<br />

Gedanken <strong>de</strong>s Dichters <strong>de</strong>ute nämlich die Unbeständigkeit <strong>de</strong>r Welt; sie enthalte also<br />

kein einziges Wort, das auf Liebe hin<strong>de</strong>utet. Dagegen sei Strophe IV, wie <strong>de</strong>r<br />

Schlusssatz zeigt, <strong>de</strong>utlich auf die Frau gemünzt und inhaltlich gesehen, sei sie die<br />

Erörterung reiner Liebe. Die gleichen Meinungen vertritten schon JELLINEK und<br />

HAUPT, wie es KRAUS erwähnt (vgl.TERVOOREN, MOSER, 1981:222). Mit <strong>de</strong>r These<br />

von KRAUS war nur INGEBRANDT in <strong>de</strong>r Forschung einig. Dabei kritisiert INGEBRANDT<br />

(1966) die Analyse von BERGMANN und er bemerkt, dass die inhaltliche<br />

Zusammenfassung BERGMANNs merkwürdig, summarisch, und unorganisch wirke:<br />

Er meint, daß während im Lied 87,29 ein<strong>de</strong>utig das Verhältnis von Lieben<strong>de</strong>m und<br />

Geliebtem angesichts <strong>de</strong>s bevorstehen<strong>de</strong>n Aufbruchs zur Kreuzfahrt im Vor<strong>de</strong>rgrund stehe<br />

und sich in religiöser Überhöhung harmonisch gestalte, setze sich einmal <strong>de</strong>r sorghaftmahnen<strong>de</strong><br />

Charakter <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong>n Strophen klar davon ab. (INGEBRANDT, 1966:<br />

112)<br />

13 Einen Kreuzzugsappell sucht man in diesen Strophen vergeblich. Was man überhaupt vom Kreuzzug<br />

erfährt, beschränkt sich auf Randbemerkung, dass <strong>de</strong>r Aufbruch unmittelbar bevorzustehen scheint MF:<br />

87,33, dass <strong>de</strong>r Dichter auf <strong>de</strong>m Seeweg ins Heilige Land zu gelangen beabsichtigt MF:87,37, dass er<br />

nicht sicher ist, ob er je zurückkehren wird MF: 88,5, dass er wohl nicht zuletzt infolge seiner<br />

Kreuzzugsteilnahme und seiner Liebe zu seiner Dame für sie und sich – wie in MF:94,34- <strong>de</strong>n<br />

Kreuzfahrerlohn erbittet MF:88,16 (vgl. HÖLZLE, 1980:228).<br />

9


Für INGEBRAND ist eine Verbindung aller vier Strophen zu einem Lied äußerst<br />

be<strong>de</strong>nklich, und wenn sie überhaupt erfolge, dann sei sie ohne interpretatorischen<br />

Zwang nicht gut möglich: „Mir scheint Johansdorf <strong>de</strong>n gleichen Ton für mehrere<br />

inhaltliche verschie<strong>de</strong>ne Lie<strong>de</strong>r gebraucht zu haben“ (S.112). 14 Nach INGEBRAND sind<br />

die Strophen 88,19 und 88,33, also wie KRAUS als Einzelstrophe zu verstehen, <strong>de</strong>ren<br />

Bezug auf die Kreuzzugslyrik feststehe. Für ihn gilt, dass die bei<strong>de</strong>n Strophen formal<br />

einan<strong>de</strong>r sehr nahestehen und vermutlich unmittelbar nacheinan<strong>de</strong>r entstan<strong>de</strong>n.<br />

In <strong>de</strong>r Forschung fin<strong>de</strong>t sich ein weiterer Vorschlag von SU<strong>DE</strong>RMANN(1976), <strong>de</strong>r<br />

die Strophenfolge <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s an<strong>de</strong>rs sah, aber <strong>de</strong>n Strophenbestand wie die meisten als<br />

vierstrophiges Lied verstand. Er hat die Strophenfolge IV-I-II-III in <strong>de</strong>r Forschung<br />

vorgeschlagen, <strong>de</strong>nn die Strophenanordnung <strong>de</strong>s Minnesangs Frühling sei für ihn<br />

unhaltbar. Sein Vorschlag ist es, die vierte Strophe <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s vor die erste Strophe und<br />

die dritte Strophe nach <strong>de</strong>r zweiten zu platzieren, <strong>de</strong>nn ein Vergleich <strong>de</strong>s Inhalts <strong>de</strong>r<br />

Lie<strong>de</strong>r I und II von Johansdorf gebe zu erkennen, dass <strong>de</strong>ren Strophenabfolge ein<br />

Muster für diesen Lied III sein könnte. So beinhalten z.B. die bei<strong>de</strong>n ersten Strophen<br />

<strong>de</strong>r Lie<strong>de</strong>r I und II eine kategorische Aussage von allgemein gültiger Minne. Die vierte<br />

Strophe <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s von MF beginnt auch ähnlicher Weise. Was die letzten Strophen <strong>de</strong>r<br />

Lie<strong>de</strong>r I und II anbelangt, wer<strong>de</strong>n sie <strong>de</strong>m Abschied eines aufbrechen<strong>de</strong>n Kreuzritters<br />

gewidmet. Dies gilt auch für dieses Lied III, Str.3. 15 Hiermit führte SU<strong>DE</strong>RMANN(1976)<br />

eine weitere Strophenfolge <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r Forschung ein.<br />

Im Jahre 1988 wur<strong>de</strong> eine neue Ausgabe <strong>de</strong>s Minnesangs Frühling veröffentlicht, die<br />

durch Hugo MOSER und Helmut TERVOOREN bearbeitet wur<strong>de</strong>. Die 38. Auflage <strong>de</strong>s<br />

Buches wur<strong>de</strong> einem neuen editorischen Verfahren, <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Leithandschriftprinzipien<br />

verpflichtet. Daher bekam das Lied eine völlig an<strong>de</strong>re Strophenfolge sowie einen<br />

14 wie ja auch die Einzelstrophe 86,25 lehrt, scheint Johansdorf <strong>de</strong>n gleichen Ton für mehrere inhaltlich<br />

verschie<strong>de</strong>ne Lie<strong>de</strong>r gebraucht zu haben, was z.B. auch HAUSEN 42,1 und 43.1 zeigen, und was sich<br />

ebenso bei RUGGE fin<strong>de</strong>t. Nur auf Grund <strong>de</strong>r ähnlich lauten<strong>de</strong>n Schlussverse bei<strong>de</strong>r Strophen (´´ich<br />

meine die da minnent…´´) ein Lied bil<strong>de</strong>n zu wollen, ist nicht stichhaltig. Für 88,33 versagt die Hs. A die<br />

Auskunft, da nur BC zur Verfügung stehen, während für 88,19 die Hss BC völlig von A abweichen.-<br />

Überdies ist <strong>de</strong>r Fortgang <strong>de</strong>r Schlussverse antitetisch: ´´ ich meine die dâ minnent valsche raete´´<br />

gegen´´…âne gallen´´ (vgl, INGEBRANDT, 1966:112).<br />

15 vgl. SU<strong>DE</strong>RMANN, 1976:160-161:<br />

Ton I: St. I} mîn ērste liebe <strong>de</strong>r ich ie began,<br />

Diu selbe muoz an mir diu leste sîn<br />

Ton II: St. I} mich mac <strong>de</strong>r tôt von ir minnen wol schei<strong>de</strong>n;<br />

An<strong>de</strong>rs niemen: <strong>de</strong>s hân ich gesworn<br />

Ton III: St. I} swer minne minneclîche treit<br />

gâr valschen mout<br />

<strong>de</strong>s sün<strong>de</strong> wird vor gôte nih geseit<br />

10


an<strong>de</strong>ren Strophenbestand. In dieser Auflage hat das Lied nunmehr zwei verschie<strong>de</strong>ne<br />

Versionen. Die erste ist nach <strong>de</strong>r A Handschrift orientiert und besteht aus drei Strophen.<br />

(I. 87.29; II.88.5; III. 88,19.), während die zweite an <strong>de</strong>n C und B Handschriften<br />

orientiert ist und auch aus drei Strophen besteht, (I. 87,29; II. 88.33; III. 88,19).<br />

In <strong>de</strong>r Ausgabe ,,Die Lyrik <strong>de</strong>s frühen und hohen Mittelalters“ ist <strong>de</strong>r<br />

Strophenbestand <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s wie im Minnesang Frühling als vierstrophig dargestellt,<br />

aber die Strophenanordnung ist völlig an<strong>de</strong>rs als, wie es die frühere Forschung gesehen<br />

hatte. Die Strophenanordnung ist <strong>de</strong>r C Handschrift ähnlich; was in <strong>de</strong>r<br />

Editionsforschung ‚Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Leithandschriftprinzips‘ genannt wird. Folgen<strong>de</strong><br />

Strophen (I-MF:87,29; II- 88,33; III- 88,19; IV- 88,5) wer<strong>de</strong>n als ein Lied interpretiert<br />

und alle Strophen wer<strong>de</strong>n durch bestimmte Elemente wie minne- und<br />

Kreuzzugsthematik miteinan<strong>de</strong>r verknüpft, die jedoch sehr unterschiedliche Formen<br />

annehmen. 16<br />

Festzuhalten ist hier zunächst nur: In <strong>de</strong>r Forschung wird das Lied sehr<br />

unterschiedlich darstellt, aber meist als ein vierstrophiges Kreuzzugslied von Albrecht<br />

von Johansdorf angesehen.<br />

1.3. Struktur <strong>de</strong>r Arbeit<br />

Die Struktur <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit ergibt sich aus <strong>de</strong>r oben genannten<br />

Forschungsdiskussion über das Lied ´ich und ein wip haben gestritten´ und aus <strong>de</strong>r<br />

aktuellen Forschung <strong>de</strong>r Editionsphilologie. Die Arbeit besteht aus vier Kapiteln, wobei<br />

die Einleitung als erster Kapitel gilt. Im zweiten Kapitel wird die lyrische Varianz bzw.<br />

weitere theoretische Grundlagen dieser Arbeit dargestellt. Dabei soll <strong>de</strong>r Unterschied<br />

zwischen <strong>de</strong>r Varianz in <strong>de</strong>r Epik und jener in <strong>de</strong>r Lyrik vorgestellt wer<strong>de</strong>n. Der erste<br />

Abschnitt dieses Kapitels geht auf eine knappe Begriffsbestimmung von Varianz und<br />

Variant ein, da bei<strong>de</strong> Begriffe in <strong>de</strong>r Forschung unterschiedlich gebraucht wer<strong>de</strong>n. Der<br />

zweite Abschnitt stellt einen Exkurs über <strong>de</strong>n Begriff Mouvance dar, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r<br />

Forschung oft im Vergleich zur Varianz diskutiert wird. Danach wer<strong>de</strong>n im dritten und<br />

vierten Abschnitt <strong>de</strong>s Kapitels jeweils die Textvarianz untersucht wer<strong>de</strong>n. Das dritte<br />

Kapitel <strong>de</strong>r Arbeit bil<strong>de</strong>t dann <strong>de</strong>n Hauptteil. Zu Beginn dieses Kapitels wer<strong>de</strong>n drei<br />

Handschriften A, B und C <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s vorgestellt, um <strong>de</strong>ren Zeit- und Raumunterschie<strong>de</strong><br />

zu zeigen. Darauf folgt die Untersuchung <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>n drei Handschriften. Bei<br />

16 Voraussetzung <strong>de</strong>s Sprechens ist (mit Ausnahme von Strophe 2) in allen Strophen die Situation eines<br />

Mannes, <strong>de</strong>r zu einem Heeres- o<strong>de</strong>r Kreuzzug aufbricht. Darin besteht zunächst ein Verbin<strong>de</strong>n<strong>de</strong>s<br />

Element. Im übrigen sind fast alle Strophen bestimmt durch die Verknüpfung von minne- und<br />

Kreuzzugsthematik, die jedoch sehr unterschiedliche Formen annimmt. (Die Lyrik <strong>de</strong>s frühen und hohen<br />

Mittelalters: S. 687)<br />

11


dieser Untersuchung wird zuerst das Lied von <strong>de</strong>n Handschriften diplomatisch<br />

abgedruckt. Danach wird das Lied vorsichtig ins normalisierte Mittelhoch<strong>de</strong>utsche<br />

übertragen wer<strong>de</strong>n. Der normalisierte Text soll dann formal analysiert wer<strong>de</strong>n.<br />

Schließlich wer<strong>de</strong>n die drei handschriftlichen Fassungen interpretiert. Im vierten Kapitel<br />

wer<strong>de</strong>n die Schlussfolgerung, sowie ein Ausblick, <strong>de</strong>r sich aus <strong>de</strong>n Untersuchungen<br />

ergibt, dargestellt.<br />

2. Lyrische Varianz: Theoretische Grundlagen<br />

,,Mittelalterliche Texte sind nicht zuerst fixiert und dann nachträglich verän<strong>de</strong>rt wor<strong>de</strong>n,<br />

son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r ‚Text‘ ist von Anfang an eine verän<strong>de</strong>rliche Größe‘‘ (vgl. BUMKE, 1996:<br />

125). Eine Erklärung dafür ist, dass die volkssprachlichen mittelalterlichen Texte die<br />

Eigenschaft eines Aufführungstextes besitzen und zwischen <strong>de</strong>n Polen von<br />

Mündlichkeit und Schriftlichkeit stehen.<br />

In <strong>de</strong>n 1990 Jahren untersuchte BUMKE die Überlieferung und die Varianz <strong>de</strong>r<br />

höfischen Epik (bzw. die ‚Nibelungenklage‘) und legte einen ersten großen Entwurf zur<br />

Epenfassung vor. Dabei setzte er sich mit unterschiedlichen Begriffen wie ´Version´,<br />

´Variante´ und ´Fassung´ auseinan<strong>de</strong>r, in<strong>de</strong>m er aus verschie<strong>de</strong>nen Handschriften eines<br />

epischen Textes auffällige Varianten herausstellte und daraus eine einzige Fassung<br />

rekonstruierte. BEIN betont, dass außer BUMKE so gut wie keine solche Bemühungen in<br />

<strong>de</strong>r Forschung <strong>de</strong>r Überlieferungskritik <strong>de</strong>r höfischen Epen gab. 17<br />

Epik und Lyrik sind zwei unterschiedliche literarische Fel<strong>de</strong>r. Die Epik hat<br />

sicherlich ihre eigenen strukturellen Eigenschaften. In <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit geht es<br />

um die lyrische Varianz, <strong>de</strong>ren Inhalt ich hier bearbeiten möchte. Die Varianz wird in<br />

<strong>de</strong>r älteren Forschung als eine Art zunehmen<strong>de</strong> Fehlerhäufung in <strong>de</strong>r Übertragung<br />

betrachtet. Neuere Ansichten <strong>de</strong>r Betrachtung von Varianz distanzieren sich allerdings<br />

von <strong>de</strong>r Fehlerbetrachtung und ignorieren <strong>de</strong>n Text, <strong>de</strong>r aus verschie<strong>de</strong>nen<br />

Handschriften rekonstruiert wird. Daher rührt <strong>de</strong>r Versuch <strong>de</strong>r jüngeren Forschung,<br />

einen i<strong>de</strong>alen mittelalterlichen Rezipienten zu fin<strong>de</strong>n, um sich Existenz, Sinn und<br />

Wirkung <strong>de</strong>r varianten Handschriften erklären zu können. Doch tauchen im Umgang<br />

mit <strong>de</strong>r Varianzforschung eine Reihe von Fragen auf.<br />

In diesem Kapitel wer<strong>de</strong>n die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit dargestellt:<br />

Ich wer<strong>de</strong> mich zuerst mit <strong>de</strong>n Unterschie<strong>de</strong>n zwischen <strong>de</strong>n Begriffen Varianz und<br />

17 Was die höfische Epik angeht, so tat sich lange Zeit so gut wie überhaupt nichts. Im Grun<strong>de</strong> ist es erst<br />

Joachim BUMKE,…´ (BEIN, 1999:75).<br />

12


Variant (o<strong>de</strong>r Lesart) auseinan<strong>de</strong>rsetzten, <strong>de</strong>nn es sind zwei unterschiedliche Termini,<br />

die aber gemeinsame Beziehungen mitteilen.<br />

2.1. Varianz und Variant<br />

Variant und Varianz sind neuzeitliche literarische Fachbegriffe, die sowohl auf neuere<br />

Literatur als auch auf ältere volksprachliche Literatur angewen<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n.<br />

Als Variant o<strong>de</strong>r Lesart sind Textabweichungen mit geringerem Umfang zu<br />

verstehen. Hier fasse ich die Beschreibung von WOESLER (1997) und PLATCHA (1997)<br />

zusammen. Wenn zwischen verschie<strong>de</strong>nen Textträgern eines Werkes eine Variante o<strong>de</strong>r<br />

Lesart auftauchen wür<strong>de</strong>, kann man die Textträger noch nicht zu einer neuen Fassung<br />

konstituieren (vgl.WOESLER, 1997:401-404). PLATCHA <strong>de</strong>finiert Variante als<br />

,,Verän<strong>de</strong>rung eines Textes durch <strong>de</strong>n Autor selbst o<strong>de</strong>r von an<strong>de</strong>ren, die vom Autor<br />

beauftragt wor<strong>de</strong>n sind‘‘(PLATCHA, 1997:141). Eine Verän<strong>de</strong>rung, die nicht vom Autor<br />

bestimmt wur<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn durch Eingriffe von Abschreibern, Bearbeitern, Korrektoren<br />

o<strong>de</strong>r Setzern entstan<strong>de</strong>n ist, ordnet PLATCHA unter die Begriffe Überlieferungs- und<br />

Fremdvariante. Das Wort Variante ist im späteren 18.Jh. von <strong>de</strong>m frz. variante entlehnt<br />

wor<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Forschung <strong>de</strong>r ´New Philologie´ wer<strong>de</strong>n alle Varianten o<strong>de</strong>r Lesarten<br />

eines Werkes als eine historische Realität verstan<strong>de</strong>n, die als eine lebendige<br />

Textrezeption dokumentiert wer<strong>de</strong>n können. 18 Aus diesem Grund wur<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r jüngeren<br />

Editionsforschung eine neue Metho<strong>de</strong> entwickelt, die ´Varianzforschung´ genannt wird.<br />

Von daher ist <strong>de</strong>r Begriff Varianz in <strong>de</strong>n letzten Jahren zum Mittelpunkt theoretischer<br />

und praktischer Überlegung vielen Literatur-Forschern gewor<strong>de</strong>n, die Bezeichnung <strong>de</strong>s<br />

Gegenstands wird aber unterschiedlich dargestellt.<br />

Unter Varianz versteht man alle Abweichungen und Unterschie<strong>de</strong> in Bezug eine<br />

größere Ebene: die Verän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r inhaltlichen Be<strong>de</strong>utung. Der Begriff Varianz<br />

stammt ursprünglich aus <strong>de</strong>r mathematischen Fachsprache, die das Maß <strong>de</strong>r<br />

Abweichungen von einem Mittelwert bezeichnet wird. Im Jahr 1989 hat <strong>de</strong>r Romanist<br />

CERQUIGLINI <strong>de</strong>r Begriff Variance in <strong>de</strong>r mediävistischen Forschung aufgeworfen.<br />

CERQUIGLINI <strong>de</strong>finiert aber nicht spezifisch die Begriffe Varianz und Variante, son<strong>de</strong>rn<br />

er benutzt diese Begriffe nur, um die Merkmale <strong>de</strong>r mittelalterlichen Texte zu<br />

beschreiben. Er leugnet die Kategorie <strong>de</strong>r Autorschaft für die mittelalterlichen Werke<br />

und setzt die Überlieferungsvarianz als Normalfall ein, in<strong>de</strong>m er die Varianz<br />

verabsolutiert. Er behauptet, dass die mittelalterlichen Texte keine Varianten<br />

18 vgl. CERQUIGLINI 1989; STACKMANN 1997.<br />

13


produzieren, son<strong>de</strong>rn selbst Varianz seien:´´ or l´écriture médiévale ne produit pas <strong>de</strong>s<br />

variantes, elle est variance ´´(CERQUIGLINI, 1981:111). 19 Die Forschung versucht die<br />

I<strong>de</strong>e von CERQUIGLINI auf die literarischen Texte anzuwen<strong>de</strong>n. Zum Beispiel<br />

unternimmt es STACKMANN im Bereich <strong>de</strong>r Lyrik, das Varianzphänomen weiter zu<br />

klassifizieren, und zwar <strong>de</strong>rgestalt, dass es seinem Grundlagen-Beitrag ,,Mittelalterliche<br />

Texte als Aufgabe‘‘ die Varianten zu systematisieren und<br />

dann <strong>de</strong>n Begriff<br />

´iterieren<strong>de</strong>n Varianten´ einführt. 20 BEIN behauptet, dass es die Begriffe ‚Variante‘,<br />

‚Variabilität‘ o<strong>de</strong>r ‚Varianz‘ vielleicht inhärent sind, <strong>de</strong>shalb könnten sie nicht<br />

systematisiert wer<strong>de</strong>n. Seiner Meinung nach muss man vielleicht ´Varianz´ immer nur<br />

in Bezug auf einen Autor, auf einen Werk, auf einen Zeitraum o<strong>de</strong>r auf einen<br />

Überlieferungsmedium systematisieren und kategorisieren. 21 CRAMER legte eine erste<br />

systematische Analyse <strong>de</strong>s Phänomens <strong>de</strong>r Mouvance und Varianz dar. Dabei<br />

untersucht er alle Lie<strong>de</strong>r aus ,,Minnesangs Frühling“, die in mehr als zwei<br />

Handschriften überliefert sind. CRAMER gibt aber keine ausführliche Definition von <strong>de</strong>r<br />

Varianz, son<strong>de</strong>rn konzentriert sich nur auf das Phänomen Mouvance, <strong>de</strong>n ich im Exkurs<br />

näher erläutern wer<strong>de</strong>. Trotz<strong>de</strong>m gibt CRAMER eine Erklärung über die Varianz: Wenn<br />

die Anzahl <strong>de</strong>r überlieferten Strophen unterschiedlich, die Reihenfolge aber gleich ist,<br />

dann erscheint nach CRAMER die Kennzeichnung ,,Varianz“ (vgl. CRAMER, 1998:54).<br />

WILLEMSEN <strong>de</strong>finiert Varianz als „die Summe <strong>de</strong>r Abweichungen zwischen zwei o<strong>de</strong>r<br />

mehr Texten“(WILLEMSEN, 2006:30). Zu diesen Abweichungen rechnet er die<br />

Unterschie<strong>de</strong> von Materialvarianz, Textvarianz und Strophenvarianz. Ob eine<br />

Handschrift auf Pergament o<strong>de</strong>r Papier verfasst wur<strong>de</strong> und welches Format sie hat,<br />

spielt z.B. für die Varianz <strong>de</strong>s Materials eine wichtige Rolle. Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r<br />

Lautgestalt bis hin zu Verän<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Stropheninhaltes berühren die Textvarianz.<br />

Die Anordnung und <strong>de</strong>n Bestand <strong>de</strong>r Strophen unterordnet er in <strong>de</strong>r Strophenvarianz. 22<br />

Mir scheint die Definition von WILLEMSEN nachvollziehbarer als die an<strong>de</strong>ren<br />

Definitionen <strong>de</strong>r Varianzforschung und ich wer<strong>de</strong> daher später im nächsten Teil dieses<br />

19 BAISCH (vgl. Kritik <strong>de</strong>r Textkritik.S.26-27) BENNEWITZ und WEICHSELBAUMER (vgl. Lob <strong>de</strong>r<br />

Variante. In: Varianten – Variants – Variantes. 2005: 62-63 )<br />

20 vgl. STACKMANN, 1994: 257. Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Zum Begriff <strong>de</strong>r ´iterieren<strong>de</strong>n<br />

Varianten´.<br />

21 vgl. BEIN, Rezension zu: Jansohn, Christa; Plachta, Bodo (Hrsg.): Varianten - Variants- Variantes.<br />

Tübingen : Niemeyer 2005, (Beihefte zu Editio. 22). In: Archiv für das Studium neuerer Sprachen und<br />

Literaturen 159, Bd. 1.2007:138-141<br />

22 vgl. WILLEMSEN, 2006: 30. Nach seiner Definition untersucht er die Lie<strong>de</strong>r Walthers von <strong>de</strong>r<br />

Vogelwei<strong>de</strong>.<br />

14


Kapitels darauf zurückkommen, in <strong>de</strong>m ich die Text- und Strophenvarianz genauer<br />

darstellen wer<strong>de</strong>. Zuvor möchte ich aber einen knappen Exkurs über die Mouvance<br />

machen, <strong>de</strong>nn CERQUIGLINIs Textbegriff Variance bliebe ohne Einblick in die<br />

grundlegen<strong>de</strong>n Arbeiten von Paul ZUMTHORs unvollständig, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Begriff Mouvance<br />

aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r kulturellen Situation <strong>de</strong>s Mittelalters ('vocalité') herausgearbeitet hat. 23<br />

Bei<strong>de</strong> Begriffe Varianz und Mouvance sind zu Leitbegriffen <strong>de</strong>r ,,New Philologie‘‘<br />

gewor<strong>de</strong>n.<br />

Exkurs: Mouvance<br />

In <strong>de</strong>r Forschung wird Paul ZUMTHOR (1972) als erster Literaturwissenschaftler<br />

bezeichnet, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Begriff <strong>de</strong>r ´Performance´ auf mittelalterliche Dichtung angewen<strong>de</strong>t<br />

hat. Dabei hat er in <strong>de</strong>r Forschung drei wichtige Begriffe ´Theatralität´, ´Vokalität´ und<br />

´Beweglichkeit (Mouvance)´ vorgeschlagen. Nach ZUMTHOR sind die mittelalterlichen<br />

Texte eine Gestalt <strong>de</strong>r Performanz, <strong>de</strong>ren Produktion, Übermittlung, Rezeption,<br />

Bewahrung und Repetition berücksichtigt wer<strong>de</strong>n müssen, weshalb sich ein<br />

philologisches Verfahren zu einem mittelalterlichen Text nicht auf das geschriebene<br />

Wort fixieren soll. D.h. mittelalterliche Literatur besteht im Regelfall nicht aus festen<br />

Texten, wie sie das Zeitalter <strong>de</strong>s Buchdrucks hervorgebracht hat, son<strong>de</strong>rn durch eine<br />

bewegliche Überlieferung gekennzeichnet, die als ´Mouvance´ bezeichnet wird. Die<br />

situationsspezifischen Än<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Wortlauts eines Textes führen sogar zur<br />

Beweglichkeit <strong>de</strong>s Textes. Interessant ist es, dass aber die Mouvance im Bereich <strong>de</strong>r<br />

Lyrik viel als in <strong>de</strong>r Epik angewen<strong>de</strong>t wird. 24 Von daher wird in <strong>de</strong>r Forschung als<br />

Mouvance die Beweglichkeit von Strophen eines Lie<strong>de</strong>s bezeichnet, <strong>de</strong>ren Anzahl und<br />

Reihenfolge von Überlieferungsträgern zu Überlieferungsträgern variieren können (vgl.<br />

BOLL, 2007:134). Das Lied ´Mîn liebeste und ouch mîn êrste´ von Heinrich von<br />

Morungen fin<strong>de</strong>t sich z.B. in <strong>de</strong>n Lie<strong>de</strong>rhandschriften A und C in zwei verschie<strong>de</strong>nen<br />

Zusammenstellung mit drei Strophen in A und fünf Strophen in C in wechseln<strong>de</strong>r<br />

Anordnung. Deswegen wird das Lied unter Mouvance zugeordnet, weil seine Strophen<br />

sich bewegen.<br />

Nach CRAMER bezieht sich ´Mouvance´ ebenfalls auf die Anordnung <strong>de</strong>r<br />

Strophen eines Lie<strong>de</strong>s: Er trifft bei verän<strong>de</strong>rter Strophenreihenfolge und gleicher o<strong>de</strong>r<br />

23 vgl. BENNEWITZ, 2005:27:CERQUIGLINI geht aber über ZUMTHORs Position hinaus.<br />

24 vgl.STARKEY, 2008:49 Freilich wird dabei oft übersehen, dass die Mouvance mittelalterlicher Texte<br />

gattungsspezifisch sehr unterschiedlich ausfällt. So ist die Mouvance im Bereich <strong>de</strong>r Lyrik viel größer als<br />

in <strong>de</strong>r Epik.<br />

15


unterschiedlicher Anzahl die Kennzeichnung ,,Mouvance‘‘ S.54-124. Er versucht <strong>de</strong>n<br />

von ZUMTHOR geprägten Begriff ,,Mouvance‘‘ mit seinen eigenen Untersuchungen zu<br />

vergegenwärtigen. Nach CRAMER ist das Phänomen <strong>de</strong>r Mouvance mit <strong>de</strong>m Verän<strong>de</strong>rn,<br />

Kürzen, Erweitern o<strong>de</strong>r Umstellen von Strophenreihenfolgen nicht in <strong>de</strong>r performativen<br />

Re<strong>de</strong>praxis verankert, son<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Literaturästhetik dieser Kunstform an sich:<br />

[…] die Offenheit für variieren<strong>de</strong> Verän<strong>de</strong>rung, das kombinatorische Potential ist eine<br />

ästhetische Dimension und muss als eine Qualität <strong>de</strong>s Werkes angesehen wer<strong>de</strong>n<br />

(S.150). […]Die kontrollierte Offenheit, die Möglichkeit <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rung, die<br />

gleichwohl nicht willkürlich, vielmehr nach von uns noch nicht durchschauten Regeln<br />

von Freiheit und Gesetzmäßigkeit abläuft, ist eine Qualität <strong>de</strong>s Gedichts. Dies könnte<br />

vielleicht erklären, warum gera<strong>de</strong> Gedichte <strong>de</strong>r besten Autoren um die Wen<strong>de</strong> zum 13.<br />

Jh., Reinmars und Heinrich von Morungen, am stärksten <strong>de</strong>r Mouvance<br />

unterliegen.(S.150)<br />

Folgt man seine Darstellung sollte man die Mouvance vielmehr als ein Spiel mit<br />

Freiheiten und Regeln verstehen. Von insgesamt 48 Lie<strong>de</strong>rn aus MF liegen nach<br />

CRAMER, also bei etwa 62,5 % ´Mouvance´ vor. (S.53)<br />

Einen wesentlichen Unterschied zwischen <strong>de</strong>n philologischen Phänomenen<br />

Mouvance und Varianz kann man meines Erachtens nicht genau belegen, <strong>de</strong>nn es<br />

scheint mir, dass diese bei<strong>de</strong>n Begriffe voneinan<strong>de</strong>r untrennbar sind. Wegen <strong>de</strong>r<br />

unterschiedlichen handschriftlichen Fixierungen eines Textes behauptet die Forschung,<br />

dass die mittelalterlichen Texte ständig in Bewegung wären. Mit solcher Bewegung <strong>de</strong>r<br />

Texte sind die Varianten mitüberliefert. Gleichwohl versucht die Forschung, diese bei<strong>de</strong><br />

Begriffe ‚Beweglichkeit‘ und ‚Varianz‘ auseinan<strong>de</strong>r: Mouvance wird also meist auf die<br />

Lyrik und auf <strong>de</strong>ren Strophenanordnung angewen<strong>de</strong>t und mit <strong>de</strong>r Varianz wer<strong>de</strong>n alle<br />

Arten von Literatur und alle Textzeugen ungeachtet von Raum und Zeit gleichermaßen<br />

untersucht. Ungeachtet dieses pragmatischen Gebrauchs lösen sich doch in bei<strong>de</strong>n<br />

Begriffen Mouvance und Varianz, Werk-, Autor-und Textbegriff in bestimmten<br />

Gattungszusammenhängen wie Lyrik tatsächlich auf.<br />

2.1.1. Textvarianz<br />

Die bisherige Forschung hat die Textvarianz als ´textkritische Relevanz´ verstan<strong>de</strong>n, die<br />

man im Apparat einer kritischen Ausgabe fin<strong>de</strong>t: Verschreibungen, metrische Lapsus,<br />

grammatikalische Aberrationen, Wortumstellungen, -auslassungen, -hinzufügungen,<br />

lexikalische Alternativen usw. 25 Solche Dokumentationen von Varianz eines<br />

mittelhoch<strong>de</strong>utschen Texts wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Editionen regelmäßig dargestellt. Aber die<br />

25 vgl. Apparat einer kritischen Ausgabe: MF; Ausgabe von CORMEAU<br />

16


auftreten<strong>de</strong> Varianz bloß zu dokumentieren und die Benutzer von Editionen damit allein<br />

zu lassen, ist für die jüngere Forschung kein sinnvolles Erbegnis. Nach STACKMANN(c)<br />

(1997) müsste <strong>de</strong>r Variantenapparat zwangsläufig Rahmen eines Buches sprengen o<strong>de</strong>r<br />

zu unübersichtlichen Textsynopsen führen, wenn man die Varianz nur konsequent<br />

genug analysiere (S.131). Daher untersucht STACKMANN in seinem Beitrag ´Varianz<br />

<strong>de</strong>r Worte, <strong>de</strong>r Form und <strong>de</strong>s Sinnes´ die Textapparate <strong>de</strong>r Editionen von Heinrich von<br />

Mügelin und stellt die Textvarianz genau dar, um damit besser entschei<strong>de</strong>n zu können,<br />

wo z.B. die be<strong>de</strong>utungstragen<strong>de</strong>n Unterschie<strong>de</strong> einer variieren<strong>de</strong>n Fassung liegen. Zum<br />

Schluss kam er zum Ergebniss, dass <strong>de</strong>r Apparat nicht für die Verzeichnung <strong>de</strong>r<br />

Sinnvarianten und <strong>de</strong>r schweren Eingriffe in die Form <strong>de</strong>s Originals geeignet sei. Die<br />

jüngere Forschung versucht also, durch umfangreiche Apparate, also durch eine<br />

Typisierung <strong>de</strong>r einzelnen Varianten eine Sinn-Varianz zu gewinnen. Hierzu fin<strong>de</strong>n sich<br />

in <strong>de</strong>n letzten Jahren einige Studien, die die Varianz eines lyrischen Textes auf Textund<br />

Stropheneben analysieren. Hinweisen möchte ich auf BEINs und WILLEMSENs<br />

Differenzierung, <strong>de</strong>ren Analyse sich aus <strong>de</strong>n Lie<strong>de</strong>rn Walthers von <strong>de</strong>r Vogelwei<strong>de</strong> und<br />

<strong>de</strong>r Lie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s MF, vergleichen mit <strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Editionen, ergeben hat.<br />

BEIN (1999) verteilt das Phänomen Textvarianz auf neun Kategorien, um zum<br />

Schluss auf das Ausmaß von Sinn-Varianten zu kommen (S.78-79). Dabei nimmt er die<br />

im Apparat <strong>de</strong>r CORMEAUschen Ausgabe aufgeführten Varianten als Gegenstand:<br />

1. Schreibfehler, augenscheinliche Sinnstellung, Mechanischer Textverlust:<br />

*Flüchtigkeit/Verlesung: pruoften vs. priw ͤ eten (76 I,8; L.105,20 ); her otte vs. ich<br />

otte (11 II,8; 26,36)<br />

2. Grammatikalischer Varianz auf <strong>de</strong>r Wortebene (nur in seltenen Fällen ist die<br />

Sematik betroffen): * Kasus: die waren minne vs. <strong>de</strong>r waren minne<br />

3. Satzkonstruktionsvarianz (ohne größere semantische Konsequenz): * <strong>de</strong>r si gesegnet<br />

vs. dc <strong>de</strong>r gesegnet si<br />

4. a. Wortauslassungen bzw.-zufügungen (ohne semantische Relevanz, ggfls. mit<br />

metrischen Konsequenzen): *sprachliche Ver<strong>de</strong>utlichung (für <strong>de</strong>n Sinn aber nicht<br />

unbedingt notwendig): si meinent bei<strong>de</strong> vs. sie meinent<br />

4. b. Wortauslassungen bzw.-zufügungen (mit semantischer Relevanz): * sam <strong>de</strong>s<br />

boesen boeser barn vs. als <strong>de</strong>s boser barn<br />

5. a. Lexikalischer Varianz (ohne größere semantische Relevanz): * uf das mer vs.<br />

uber se<br />

5. b. Lexikalischer Varianz (mit größere semantische Relevanz): * fröi<strong>de</strong> vs. ere<br />

17


6. Komplexe Varianz auf Vers-/Satzebene (Syntax, Lexikon; mit semantischer<br />

Varianz): * diu milte lonet sam diu sat vs. <strong>de</strong>r milten lon ist so diu sat<br />

7. Reimstörung: berm<strong>de</strong>:armen<br />

Hiermit stellt BEIN auch eine Beispielstatistik dar, in<strong>de</strong>m er insgesamt ca 350 Varianten<br />

aus Walthers Wiener Hofton und <strong>de</strong>m König Friedrichston analysiert, die in <strong>de</strong>n<br />

Apparaten von CORMEAUs Ausgabe ediert wur<strong>de</strong>n. Nach seiner Untersuchungen treten<br />

11% <strong>de</strong>r gesamten Varianten die Sinnvarianten auf. Damit will er zeigen, dass die<br />

Textvarianz in <strong>de</strong>n mittelalterlichen Texten bei <strong>de</strong>r Sinnverän<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Texte eher eine<br />

geringere Rolle spielt, eine Erkenntnis, die aber sicherlich bei <strong>de</strong>r zukünftigen Edition<br />

sehr hilfreich sein wird:<br />

Die einzige Möglichkeit, uns von <strong>de</strong>r Fixierung auf einen Text zu befreien, ist die, eben<br />

nicht nur einen Text zu edieren, son<strong>de</strong>rn dadurch Irritation zu verursachen, dass zwei, in<br />

Extremfällen noch mehr Fassungen eines Textes gleichberechtigter Weise im so.<br />

´kritischen Teil´ einer Edition sehen. (BEIN, 1999: 82-83)<br />

Im Vergleich zu BEIN nimmt WILLEMSEN (2006) Walthers ´Kranzlied´ als Grundlage<br />

und teilt die Textvarianten in drei Kategorien ein S. 69:<br />

• Kategorie 1: enthält für einen mittelalterlichen Rezipienten erkennbare<br />

,,Fehler‘‘. Beispiel: Handschrift A, Strophe 1, Vers 7 obe ir mirs gehoubet ist<br />

sinnlos und ein<strong>de</strong>utig als ,,Schreibfehler‘‘ zu i<strong>de</strong>ntifizieren. Die ,,richtige‘‘<br />

Lesung ist obe ir mirs geloubet.<br />

• Kategorie 2: enthält Wort- o<strong>de</strong>r Satzvarianten ohne größere semantische<br />

Be<strong>de</strong>utung. Beispiel. Handschrift A, Strophe 1, Vers 2: wol getanen maget vs.<br />

Handschrift C, wol getaner maget<br />

• Kategorie 3: enthält Wort- und Satzvarianten mit semantischer Be<strong>de</strong>utung.<br />

Beispiel: In Strophe 3, Vers 8 enthalten A und C die Lesart wirt mir ze lone,<br />

während E wart mir ze lone schreibt.<br />

WILLEMSEN untersuchte die Textvarianzen in Walthers Lie<strong>de</strong>rn nach <strong>de</strong>n oben<br />

genannten drei Kategorien und kam zum Ergebnis, dass Textvarianz meistens nicht zu<br />

wesentlicher Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Aussage führe und viele Textvarianten sich als bloße,<br />

Fehler‘ erklären lassen, die beim Abschreiben einer Vorlage durch Zeilensprung,<br />

Verlesen usw. zustan<strong>de</strong> gekommen sein könnten S.176.<br />

BEIN und WILLEMSEN haben also zum Teil versucht, die variieren<strong>de</strong>n<br />

Textstellen <strong>de</strong>r mittelalterlichen lyrischen Texte systematisch aufzuzeigen und sind<br />

18


ei<strong>de</strong> damit einig, dass nur wenige be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> sinnän<strong>de</strong>rn<strong>de</strong> Varianzen auf die<br />

Textebene eines lyrischen Textes vorkommen. 26<br />

2.1.2. Strophenvarianz<br />

Im Vergleich zur Diskussion <strong>de</strong>r Textvarianz ergibt sich in <strong>de</strong>r Forschung über die<br />

Strophenvarianz eines mittelalterlichen lyrischen Textes einen größeren Klärungsbedarf.<br />

Dies wird anhand verschie<strong>de</strong>ner Forschungsansätzte <strong>de</strong>utlich. Sowohl die ältere als auch<br />

die jüngere Forschung behaupten, dass die Strophenanordnung in <strong>de</strong>n<br />

mittelhoch<strong>de</strong>utschen Lie<strong>de</strong>rhandschriften offensichtlich nicht zufällig entstan<strong>de</strong>n ist,<br />

son<strong>de</strong>rn bewusst von Schreibern vorgenommen wur<strong>de</strong>. 27 Eine Strophenanordnung kann<br />

we<strong>de</strong>r ausschließlich nach inhaltlichen noch nach äußerlichen Prinzipien bestimmt<br />

wer<strong>de</strong>n. Daraus resultieren viele Meinungen in <strong>de</strong>r Forschung: So gehen zum Beispiel<br />

SCHNEI<strong>DE</strong>R (1922/23) und KONHLE(1934) vom Concatenatio-Prinzip aus, das durch<br />

Wortbeziehungen in aufeinan<strong>de</strong>rfolgen<strong>de</strong>n Lie<strong>de</strong>rn nachwies. Einen an<strong>de</strong>ren Ansatz<br />

wählt BÜTZLER (1940), mit Blick auf <strong>de</strong>n Strophenbau und hebt er die Ordnung nach<br />

Tönen, nach Melodien im Mittelalter hervor. Aber letztendlich musste TOUBER (1966)<br />

feststellen, dass formale Gesichtspunkte beim Aufbau <strong>de</strong>r Lie<strong>de</strong>rhandschriften zwar<br />

erkennbar sind, aber keine entschei<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Rolle spielen (vgl. SEI<strong>DE</strong>L, 1999:140).<br />

Vielmehr gilt, dass die Strophenzusammengehörigkeit nach inhaltlicher Aussage<br />

verknüpft wird. Und daraus ergibt sich, dass die Kriterien für eine Reihung <strong>de</strong>r Texte<br />

vielfältig und bei <strong>de</strong>n einzelnen Handschriften durchaus verschie<strong>de</strong>n sein können.<br />

Hier soll aber die Unterglie<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Strophenvarianz genauer <strong>de</strong>finiert wer<strong>de</strong>n,<br />

damit man die Strophenvarianz besser differenzieren kann. WILLEMSEN verteilt die<br />

Strophenvarianz eines mhd. Lyrik auf Parallelstrophen, Strophenbestand- und<br />

Strophenfolgevarianz: 28<br />

• Wenn zwei o<strong>de</strong>r mehr Handschriften ein Lied mit gleicher Strophenzahl und<br />

Strophenfolge tradieren, wer<strong>de</strong>n die Strophen als Parallelstrophen bezeichnet:<br />

26 vgl: im Kapitel 3 wer<strong>de</strong> ich auch untersuchen, ob die Textvarianz eine sinntragen<strong>de</strong> größere Rolle bei<br />

<strong>de</strong>r Untersuchung <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ´ich und ein wip haben gestritten´ spielt.<br />

27 Die Schreiber selbst konnten aus verschie<strong>de</strong>nen Grün<strong>de</strong>n ihre eigenen Prinzipien vernachlässigen bzw.<br />

Fehlerhaft arbeiten. Ihre Intentionen bei <strong>de</strong>r Anordnung <strong>de</strong>r Strophen bleiben z.T. verborgen, so dass in<br />

dieser Hinsicht Klärungsbedarf besteht. O<strong>de</strong>r darf <strong>de</strong>n Sammlern bei <strong>de</strong>r Abschrift ein gewisser Freiraum<br />

in künstlerischer und auch formaler Hinsicht zugestan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n (vgl. Hans Günter MEYER. 1989.<br />

S.253-255).<br />

28 Diese Benennung wird von CRAMER abgeleitet. In <strong>de</strong>r Forschung wer<strong>de</strong>n aber teilweise an<strong>de</strong>re<br />

Benennungen verwen<strong>de</strong>t. Vgl: BEIN. Strophenreihenfolgen und Strophenanzahlen.<br />

19


z.B. alle 4 Stophen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ´si koment un<strong>de</strong>rwîlent her´ von Reinmar <strong>de</strong>r<br />

Alte wird in B und C Handschriften parallel überliefert.<br />

Die Parallelüberlieferung <strong>de</strong>r mittelhoch<strong>de</strong>utschen Lyrik bietet die meist<br />

vorkommen<strong>de</strong>n Fälle. Die 37. Auflage <strong>de</strong>s MF. ediert beispielweise 106 Lie<strong>de</strong>r<br />

<strong>de</strong>r 20 verschie<strong>de</strong>nen Autoren. In dieser Ausgabe sind 62 Lie<strong>de</strong>r von 106, also<br />

mehr als die Hälfte, parallel überliefert. 29 In <strong>de</strong>n meisten Fällen von<br />

Parallelüberlieferung gehen die ´Autorencorpora´ auf zwei Handschriften, also<br />

auf *BC o<strong>de</strong>r *AC zurück. So untersucht z.B. BEIN die Strophen <strong>de</strong>r<br />

Minnelie<strong>de</strong>r Walthers und bestätigt, dass die Konstanz <strong>de</strong>r Überlieferung<br />

zweifellos durch die handschriftliche Verwandtschaft von ABC zu begrün<strong>de</strong>n<br />

ist: Von <strong>de</strong>n insgesamt 68 Tönen, die hierzu gehören, sind 20 mehrfach und<br />

konstant überliefert; das sind also immerhin fast 30 % (zu berücksichtigen ist<br />

hier natürlich, dass diese Töne vielfach von <strong>de</strong>n verwandten Handschriften A,<br />

B und C überliefert wer<strong>de</strong>n). 30<br />

• Strophenbestandvarianz: Mit diesem Begriff wer<strong>de</strong>n hier Abweichungen<br />

bezeichnet, die allein die Zahl <strong>de</strong>r überlieferten Strophen betreffen, aber nicht<br />

die Reihenfolge. z.B. die Strophenanzahl <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ´ich sprâch, ich wollte ir<br />

iemer leben´ von Hartmann von Aue wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Hss. A, B und C<br />

unterschiedlich überliefert: A:4Strophen(1,4,5,6);B:5Strophen(3,1,2,4||5) und<br />

:6Strophen(3,1,2,6,4,5)<br />

21 Lie<strong>de</strong>r von 106 edierten Lie<strong>de</strong>r in 38. Aufl. <strong>de</strong>s MF. zeigen<br />

Strophenbestandvarianz. Dies sind etwa 20 %. Das Phänomen <strong>de</strong>r<br />

Strophenbestand tritt nicht bei allen Autoren gleichermaßen auf. Gehäuft fin<strong>de</strong>t<br />

man es bei Friedrich von Hausen und Reinmar. Für CRAMER ist nur dieser Fall<br />

<strong>de</strong>r Strophenbestand ein Phänomen <strong>de</strong>r ´Varianz´.<br />

• Strophenfolgevarianz: Diese liegt vor, wenn ein Lied in min<strong>de</strong>stens zwei<br />

Handschriften in abweichen<strong>de</strong>r Strophenreihenfolge überliefert wird.<br />

Gleichzeitig kann auch <strong>de</strong>r Bestand an Strophen variieren, d.h. Folgevarianz<br />

und Bestandvarianz können nebeneinan<strong>de</strong>r auftreten: z.B. das Lied ´wê, war<br />

umbe trûren wir´ von Hartmann ist in vier Handschriften mit unterschiedlicher<br />

Folge und Zahl überliefert: BC:5 Strophen(1-5); E:4 Strophen(1,3,4,2 Reinmar)<br />

und m:3 Strophen(3,4,2 Walther). 19 Lie<strong>de</strong>r von 106 in 38.Aufl. <strong>de</strong>s MF.<br />

29 Hier habe ich die gesamte Übersicht von CRAMER (1998) verwen<strong>de</strong>t. S.54.<br />

30 Mit Konstant meint hier BEIN die Parallelüberlieferung.<br />

20


wer<strong>de</strong>n als Strophenfolgevarianz verstan<strong>de</strong>n. Es sind etwa 18% <strong>de</strong>r gesamten<br />

Überlieferung <strong>de</strong>s mittelhoch<strong>de</strong>utschen Minnesangs.<br />

In <strong>de</strong>r oben angeführten Analyse bil<strong>de</strong>t die ´Varianz´ auf Strophenebene schon eine<br />

Menge in <strong>de</strong>r Überlieferung <strong>de</strong>r mittelhoch<strong>de</strong>utschen Lyrik, wobei die Zahl <strong>de</strong>r<br />

Parallelüberlieferung höher liegt. Kaum fraglich aber ist, inwiefern es wichtig ist, die<br />

Varianz auf Strophenebene zu untersuchen, <strong>de</strong>nn eine geän<strong>de</strong>rte Strophe eines Lie<strong>de</strong>s<br />

kann aussagekräftig sein. Die jüngere Forschung geht davon aus, dass die verschie<strong>de</strong>nen<br />

Aussagen eines Lie<strong>de</strong>s meist nur auf <strong>de</strong>r Strophenfolgevarianz vorkommen wür<strong>de</strong>.<br />

Nach WILLEMSEN (2006) führt die Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Strophenfolgevarianz eines Lie<strong>de</strong>s zu<br />

wesentlichen Än<strong>de</strong>rungen in <strong>de</strong>r Aussage: Die Untersuchung <strong>de</strong>r Lie<strong>de</strong>r von Walther<br />

haben ihm gezeigt, dass im Gegensatz zur Folgevarianz allein auftreten<strong>de</strong><br />

Bestandvarianz in <strong>de</strong>n meisten Fällen keine be<strong>de</strong>utsame Verschiebung hervorruft<br />

(S.57).<br />

Zusammenfassend: Im Allgemeinen spielt in <strong>de</strong>r Forschung die Strophenvarianz<br />

eher eine wichtigere Rolle als Textvarianz, um die Aussage eines Lie<strong>de</strong>s zu ermitteln.<br />

Mit <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ´ich und ein wip, wir haben gestritten´ im folgen<strong>de</strong>n Kapitel<br />

wer<strong>de</strong> ich aber versuchen die Frage zu beantworten, unter welchen Bedingungen sich<br />

die Aussage verschiebt, ob Strophenbestands- o<strong>de</strong>r Strophenfolgevarianz tatsächlich zu<br />

einer abweichen<strong>de</strong>n Fassung führt, o<strong>de</strong>r ob die Textvarianz zur Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>r Aussage<br />

eines Lie<strong>de</strong>s ausreicht.<br />

3. Das Lied ´ich und ein wip, wir haben gestritten´ in seinen Handschriften<br />

Wir besitzen drei Abschriften von Pergamenthandschriften <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ´ich und ein wip<br />

haben gestitten´. Darum ist dieses Lied ein passen<strong>de</strong>s Beispiel, um die Diskussion <strong>de</strong>s<br />

Varianzphänomens sowohl auf <strong>de</strong>r Strophen- als auch auf <strong>de</strong>r Textebene zu<br />

untersuchen. Bevor ich die verschie<strong>de</strong>nen Versionen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s in <strong>de</strong>n<br />

handschriftlichen Fassungen beschreibe, möchte ich einen kurzen Überblick über die<br />

jeweiligen Handschriften A, B und C geben.<br />

In <strong>de</strong>n vergangenen Jahrzehnten än<strong>de</strong>rte die mittelalterliche Literaturgeschichte<br />

grundlegend ihre Haltung zum Stellenwert <strong>de</strong>r mittelalterlichen Handschriften. Sie<br />

erfor<strong>de</strong>rt einen Überblick über die jeweiligen Eigenarten und ihrer verschie<strong>de</strong>nen<br />

Ausformungen. So kann je<strong>de</strong> Einzelhandschrift als ein möglicher Ursprung eines Textes<br />

21


etrachtet wer<strong>de</strong>n. 31 Von daher muss je<strong>de</strong> Handschrift genau beschrieben wer<strong>de</strong>n, bevor<br />

man sie bearbeitet. Die innere und äußere Einrichtung, beschriebenes Material und<br />

Schrift geben nicht nur Hinweis auf die Herkunft <strong>de</strong>r jeweiligen Handschriften, son<strong>de</strong>rn<br />

ermöglichen auch Rückschlüsse auf die Texte, die auf <strong>de</strong>m beschriebenen Material<br />

stehen.<br />

Die Forschung geht heute davon aus, dass die mittelalterliche Dichtung für die<br />

Aufführungssituation bestimmt war. 32 Das Lied ´ich und ein wip, wir haben gestritten´<br />

wur<strong>de</strong> dann vermutlich mündlich unter <strong>de</strong>r Aufführungssituation überliefert. Sehr<br />

wahrscheinlich wur<strong>de</strong> das Lied gegen 1300 erstmals schriftlich in Sammelhandschriften<br />

übertragen. Zu <strong>de</strong>n größten Sammelhandschriften <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschsprachigen Lyrik gehören<br />

die drei Haupthandschriften A, B und C, die erst in <strong>de</strong>r Spätzeit und am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

mittelhoch<strong>de</strong>utschen Minnesangs entstan<strong>de</strong>n sind. Alle drei Handschriften bewahren die<br />

Strophen dieses Lie<strong>de</strong>s:<br />

Der kleinen Hei<strong>de</strong>lberger Lie<strong>de</strong>rhandschrift A:<br />

Von <strong>de</strong>n drei Haupthandschriften zur mittelhoch<strong>de</strong>utschen Minnelyrik (A, B und C) ist<br />

die kleine Hei<strong>de</strong>lberger Lie<strong>de</strong>rhandschrift A die älteste und ihre äußerliche Einrichtung<br />

ist nicht eben i<strong>de</strong>ntisch zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren zwei Handschriften. Man fragt sich hier sodann,<br />

warum diese Handschrift die älteste sei. Aufgrund <strong>de</strong>r Schrift <strong>de</strong>s Hauptteils <strong>de</strong>s Ko<strong>de</strong>x,<br />

einer gotischen Minuskel, wird die kleine Hei<strong>de</strong>lberger Lie<strong>de</strong>rhandschrift im<br />

Allgemeinen in das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 13. Jahrhun<strong>de</strong>rts, frühestens aber in die Zeit 1275 datiert.<br />

Der genaue Entstehungsort und <strong>de</strong>r Auftraggeber <strong>de</strong>r Handschrift A lassen sich nicht<br />

genau belegen, wobei die Forschung verschie<strong>de</strong>ne Vermutungen äußerte. Aufgrund <strong>de</strong>r<br />

Dialektuntersuchungen wur<strong>de</strong> ihr Entstehungsort auf das Elsass eingegrenzt. Weiterhin<br />

wird vermutet, dass sie um 1270 in Straßburg entstan<strong>de</strong>n sei. 33 Diese Handschrift<br />

besteht aus 45 Pergamentblättern und ist 18, 5 x 13, 5 cm groß. Die Texte wur<strong>de</strong>n<br />

31 Karin SCHNEI<strong>DE</strong>R. Paläographie und Handschriftenkun<strong>de</strong> für Germanisten 1999:5: Die Handschrift<br />

rückt mit dieser neuen Betrachtungsweise vom bloßen Überlieferungsträger eines ursprünglichen<br />

Autorentextes zu einem ‚historischen Objekt‘ einmaliger Art, das eine bestimmte Ausformung eines<br />

Textes durch einen bestimmten Schreiber für ein spezielles Publikum überliefert wur<strong>de</strong>.<br />

32 vgl. Jan-Dirk MÜLLER, Aufführung und Schrift in Mittelalter und Früher Neuzeit. Stuttgart 1996: 3-7,<br />

67-93; Jan-Dirk MÜLLER. Aufführung - Autor - Werk. Zu einigen blin<strong>de</strong>n Stellen gegenwärtiger<br />

Diskussion. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse<br />

<strong>de</strong>r Berliner Tagung 9.-11.10.1997. Hg. von Nigel F. Palmer und Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 1999,<br />

149-165: die ältere Literatur als Funktion … wechseln<strong>de</strong>n Aufführung realisieren.<br />

33 vgl. Lother VOETZ, 1988:232-234. Überlieferungsformen Mittelhoch<strong>de</strong>utscher Lyrik. In: Co<strong>de</strong>x<br />

Manesse. Katalog zur Ausstellung. Hg.von Elmar MITTLER u.a. Hei<strong>de</strong>lberg. Die genannten Informationen<br />

wer<strong>de</strong>n aus dieser Ausgabe hergenommen.<br />

22


einspaltig mit 40 Zeilen (ab <strong>de</strong>r zweiten Lage 41 Zeilen) pro Seite und ist fortlaufend<br />

ohne Absätze geschrieben. Die Strophenanfänge wur<strong>de</strong>n jeweils abwechselnd mit blauund<br />

rotfarbigen Initialen hervorgehoben, aber auf <strong>de</strong>n ersten Blick lässt sich nicht<br />

erkennen, wo ein Lied beginnt und wo es en<strong>de</strong>t. Wenn aber eine Strophe am linken<br />

Rand <strong>de</strong>s Schriftspiegels beginnt, wird die Initiale etwas größer o<strong>de</strong>r aufwendiger<br />

gestaltet als im Normalfall. Und in manchen Fällen hat <strong>de</strong>r Schreiber das En<strong>de</strong> einer<br />

Zeile mit einem <strong>de</strong>korativen Schnörkel gefüllt und die nächste Strophe mit einer großen<br />

Initiale auf <strong>de</strong>r Nächsten Zeile angefangen. Das könnte darauf hin<strong>de</strong>uten, dass <strong>de</strong>r<br />

Schreiber zum Teil vielleicht versucht hat, die neuen Strophen am linken Rand zu<br />

beginnen. 34 Diese Handschrift wird in <strong>de</strong>r Forschung traditionell in einen Grundstock A<br />

(Blätter-1 r -39 v ) und einen Anhang a (Bll. 40 r - 45 v ) geschie<strong>de</strong>n. Der gesamte Grundstock<br />

stammt von einem Schreiber, während <strong>de</strong>r Anhang insgesamt fünf verschie<strong>de</strong>ne<br />

Nachtragshän<strong>de</strong> erkennen lässt und insgesamt 791 Strophen unter 34<br />

Namenssignaturen und 2 Minneleiche enthält.<br />

Die Weingartner Lie<strong>de</strong>rhandschrift B:<br />

Die Weingartner Lie<strong>de</strong>rhandschrift ist wahrscheinlich zwischen 1310-1320 angefertigt<br />

wor<strong>de</strong>n. Lei<strong>de</strong>r bleiben die genaue Entstehungsort und die Auftraggeber anonym.<br />

Zeitlich gesehen ist diese Weingartner Handschrift nach Handschrift A entstan<strong>de</strong>n und<br />

darum wird sie in <strong>de</strong>r Forschung B Handschrift genannt. Von <strong>de</strong>r Einrichtung her<br />

ergeben sich aus <strong>de</strong>r Weingartner Lie<strong>de</strong>rhandschrift vielfältige Parallelen zur<br />

manesischen Handschrift C, die man auch in <strong>de</strong>r Forschung auf eine gemeinsame<br />

Quelle *BC zurückführt. Zu Beginn <strong>de</strong>s 19. Jahrhun<strong>de</strong>rts kam diese Handschrift nach<br />

<strong>de</strong>r Aufhebung <strong>de</strong>s in <strong>de</strong>r Nähe <strong>de</strong>s Bo<strong>de</strong>nsees gelegenen Klosters Weingarten nach<br />

Stuttgart. 35 Auf <strong>de</strong>m ersten Blatt <strong>de</strong>s Sammelbuches befin<strong>de</strong>t sich ein Zitat Marx<br />

Schulthaisen/ zou Contanz gehörig, die darauf hinweist, dass es sich bei ihm um <strong>de</strong>n<br />

ersten sicheren Nachweis für die frühere Besitzgeschichte <strong>de</strong>r Handschrift han<strong>de</strong>lt.<br />

Vermutlich hat diese Handschrift um 1600 in Besitz <strong>de</strong>s Marx Schulthais in Konstanz<br />

befun<strong>de</strong>n und ist weiter <strong>de</strong>m Kloster Weingarten geschenkt wor<strong>de</strong>n. 36 Diese B<br />

Handschrift ist recht kleinformatig(15x11, 5 cm) und enthält insgesamt 33 Textblöcke<br />

auf 158 Blätter, ihre 26 Dichternamen sind vom En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s 12. bis zur Mitte <strong>de</strong>r 13.<br />

34 vgl. Lother VOETZ, Überlieferungsformen Mittelhoch<strong>de</strong>utscher Lyrik. In: Co<strong>de</strong>x Manesse. Katalog zur<br />

Ausstellung. Hg.von Elmar MITTLER u.a. Hei<strong>de</strong>lberg 1988:233.<br />

35 vgl. Ebd. S. 235<br />

36 vgl. Ebd. S. 235<br />

23


Jahrhun<strong>de</strong>rts nachzuweisen. Der jeweilige Textkorpus beginnt mit einer Miniatur, die<br />

aber nicht reichlich geschmückt ist. Die Texte sind einspaltig mit gotischer Minuskel<br />

geschrieben. Die Strophenanfänge sind wechselnd mit rot und blau Initialen verziert.<br />

Der Anfang und das En<strong>de</strong> eines Lie<strong>de</strong>s können gleiche ,,Initialfarbe‘‘ haben. 37<br />

Die manessische/ Große Hei<strong>de</strong>lberger Lie<strong>de</strong>rhandschrift C:<br />

Im Vergleich zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren bei<strong>de</strong>n Handschriften A und B wird die manessische<br />

Handschrift C als die größte und die kostbarste mittelhoch<strong>de</strong>utsche Lie<strong>de</strong>rhandschrift<br />

bezeichnet. Diese Handschrift, die aus 428 großformatigen Pergamentblättern (ca.35,5 x<br />

25 cm) besteht, wur<strong>de</strong> vermutlich zu Beginn <strong>de</strong>s 14. Jahrhun<strong>de</strong>rts in Zürich auf<br />

Initiative <strong>de</strong>r wohlhaben<strong>de</strong>n Familie Manesse angefertigt; nachfolgen<strong>de</strong> Ergänzungen<br />

sind wahrscheinlich nicht später als 1340 eingefügt wor<strong>de</strong>n. Nach <strong>de</strong>m heutigen<br />

Aufbewahrungsort, <strong>de</strong>r Universitätsbibliothek Hei<strong>de</strong>lberg, wird sie auch als Große<br />

Hei<strong>de</strong>lberger Lie<strong>de</strong>rhandschrift C bezeichnet. Diese Handschrift enthält insgesamt 140<br />

mit einem Namen gekennzeichnete Sammlungen, ungefähr 6000 Strophen. Vor 137 <strong>de</strong>r<br />

140 Dichtersammlungen steht eine ganzseitige Miniatur, welche <strong>de</strong>n jeweiligen Dichter<br />

i<strong>de</strong>alisiert bei ritterlich-höfischen Aktivitäten zeigt. Neben seinem Namen wird auch<br />

noch ein Wappen gezeigt. 38<br />

Zusammenfassend könnte man heute vermuten, dass es zwischen <strong>de</strong>r Handschrift<br />

A (um 1270-1280) und <strong>de</strong>n Handschriften B (ca. 1310-1320) und C (ca. 1300 bis ca.<br />

1340) einen Altersunterscheid von gut 40 Jahren gibt. Einen wesentlichen zeitlichen<br />

Unterschied zwischen <strong>de</strong>n B und C Handschriften gibt es nicht. Wenn die vermuteten<br />

Entstehungsorte zutreffen, wur<strong>de</strong>n die drei Handschriften im süd<strong>de</strong>utschen Raum, also<br />

nicht weit entfernt voneinan<strong>de</strong>r überliefert. Aber es stehen immerhin räumliche<br />

Distanzen zwischen <strong>de</strong>n drei Handschriften: So wur<strong>de</strong> die A-Handschrift wahrscheinlich<br />

im Elsass bearbeitet und die C-Fassung in Zürich. Es ist also eine Entfernung von gut<br />

145 km.<br />

3.1. Diplomatische Abdrücke <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s in seinen Handschriften:<br />

Ein diplomatischer Abdruck hat zum Ziel, <strong>de</strong>n handschriftlichen Text Zeichen für<br />

Zeichen zu transkribieren. Nach dieser Regel wer<strong>de</strong>n die Abschriften <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s aus<br />

<strong>de</strong>n Handschriften A, B und C transkribiert.<br />

37 Anhang: Abbild 3 Handschrift B (Text)<br />

38 Anhang: Abbild 4 Handschrift C (Miniatur)<br />

24


Handschrift A :<br />

Die kleine Hei<strong>de</strong>lberger Lie<strong>de</strong>rhandschrift enthält drei Strophen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ich und ein<br />

wip, wir haben gestritten. Das Lied beginnt auf Bl. 24 v , das unter <strong>de</strong>r Namen Nivne<br />

überliefert wur<strong>de</strong>. 39 Die Initiale <strong>de</strong>r Strophenanfänge <strong>de</strong>r ersten Strophe ist nicht<br />

aufwendiger verziert als die Strophe davor. Daher ist es auf <strong>de</strong>n ersten Blick nicht<br />

erkennbar, ob das Lied tatsächlich mit <strong>de</strong>m Vers ich und ein wip wir haben gestritten<br />

anfängt. Am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r letzten Strophe ist eine rotfarbige Schnörkel zu fin<strong>de</strong>n. Und das<br />

könnte <strong>de</strong>uten, dass das Lied tatsächlich damit been<strong>de</strong>t wird: 40<br />

Hs. A, Bl. 24 v<br />

Ich ein vñ wip wir haben geʃtritten nv vil<br />

menege zit. ich han lei<strong>de</strong>s von ir zorne vil erlitten. noch hel<strong>de</strong>t ʃi <strong>de</strong>n<br />

ʃtrit.nv wenet si dur dc ich var.dc ich ʃi laze vri.got vor <strong>de</strong>r helle niem͛<br />

mich bewar obe dc min wille ʃi.ʃwie vil dc mer vñ och die ʃtarchen vn<strong>de</strong><br />

toben ich enwil ʃi niem͛ tac verloben.<strong>de</strong>r ʃlege mochte ab ͛ lihte<br />

ʃin da ʃi mich dvr lieze nv ʃprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich grueze.ʃi kv<br />

met mir niem͛ tac vz <strong>de</strong>n gedanken min. Ich minne ʃi vur allv̍ wip<br />

alle mine ʃinne vñ och <strong>de</strong>r lip.dc ʃtet in ir gebot ine erwache niemer<br />

ez en ʃi min erʃte ʃegen.dc got ir eren můze phlegen.vñ laze ir lip mit<br />

lobe hie geʃten.darnach erwecliche nu gip ir herre vrei<strong>de</strong> in dime riche.<br />

dc ir geʃche alʃo můze och nur ergen. Swie verre ich var ʃo iamert mich<br />

wiez noch hie geʃte.ich weiz wol er verkeret alles ʃich dv̍ ʃorge tůt mir<br />

we. die ich hie laze wol geʃunt <strong>de</strong>r envind ich leid ͛ niht. d ͛ leben ʃol.<strong>de</strong>m<br />

wirt menic wun<strong>de</strong>r kunt.dc alle tage geʃchiht wir haben in eine<br />

iare d ͛ lv̍ te vil verlorn.da bi ʃo merkett gotes zorn.vñ erkenne ʃich<br />

39 In <strong>de</strong>r Forschung wird das Textcorpus, das unter <strong>de</strong>m Namen Nivne überliefert wur<strong>de</strong>, viel diskutiert<br />

und die Autorzuweisungen führen zu einem Problem. Unter diesem Namen Nivne sind insgesamt 60<br />

Liedstrophen überliefert, <strong>de</strong>ren ersten sieben Strophen in <strong>de</strong>r C Handschrift unter <strong>de</strong>m Namen Herr Niune<br />

zu fin<strong>de</strong>n sind. Weitere 36 Strophen von diesem Textcorpus verteilen sich in <strong>de</strong>r C Handschrift auf <strong>de</strong>m<br />

Namen an<strong>de</strong>rer Dichter. BLEUMER stellt fest, dass es zwei Erklärungen in <strong>de</strong>r Forschung gibt, wie die<br />

Zuschreibung <strong>de</strong>r Nuine in <strong>de</strong>r Handschrift A gekommen ist: Erstens: Das Nivne- Corpus in A gehe auf<br />

eine ältere Sammlung zurück, die Texte unterschiedlicher Autoren enthielt, vielleicht auf das Lie<strong>de</strong>rheft<br />

eines Fahren<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>ssen Repertoire sich auch aus <strong>de</strong>n Strophen an<strong>de</strong>rer Dichter zusammensetzte.<br />

Zweitens: Der Überlieferungsbefund in A sei eine Folge redaktioneller Tätigkeit und beruht auf <strong>de</strong>r<br />

fehlerhaften Zuweisung bei <strong>de</strong>r Zusammenstellung von Autorcorpora aus einer nicht primär am Oeuvre-<br />

Begriff orientierten, nicht streng nach Autoren geordneten und z.T. wohl namenlosen Sammlung.<br />

(BLEUMER, 1999: 93)<br />

40 Anhang. Abbild.1 Handschrift A<br />

25


ein ieglichez h ͛ze gůt.die werlt iʃt unʃtete ich meine die da minnent<br />

valʃche rete.<strong>de</strong>n wirt zeiungst schin wiez an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong> tůt.<br />

Handschrift B:<br />

Das Lied ´ich und ein wip, wir haben´ gestritten wird in <strong>de</strong>r Handschrift B unter <strong>de</strong>m<br />

Namen Herrn Albrechts von Johansdorf als dreistrophig aufgeschrieben. Unter diesem<br />

Namen sind insgesamt 18 Strophen überliefert. Auf <strong>de</strong>r Miniatur von Herrn Albrecht<br />

von Johansdorf sind ein Mann und eine Frau zu fin<strong>de</strong>n, die nebeneinan<strong>de</strong>r stehen. Es<br />

sieht so aus, als ob sie miteinan<strong>de</strong>r ein Gespräch führen. Die Handpositionen <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n<br />

dargestellten Figuren sind merkwürdig. Bei<strong>de</strong> haben ihre eine Hand vor sich vor ihren<br />

Brust genommen, als ob sie etwas sagen wollten. Die an<strong>de</strong>re Hand <strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n zeigen<br />

jeweils unterschiedliche Fingerzahlen. Der Mann zeigt drei Finger und die Frau zeigt<br />

zwei Finger. Auf <strong>de</strong>m Wappen ist ein Helm mit drei rote Blumen zu sehen. 41<br />

Die drei Strophen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ich und ein wip, wir haben gestritten befin<strong>de</strong>n sich<br />

auf Folio 41 <strong>de</strong>r Sammlung. Das Lie<strong>de</strong>s beginnt mit einer blaufarbigen Initiale und auch<br />

<strong>de</strong>r Anfang <strong>de</strong>r letzten Strophe beginnt mit einer blauen Initiale. Das könnte <strong>de</strong>uten,<br />

dass die drei Strophen zusammengehören: 42<br />

Hs.B, F:<br />

Ich vñ ain wip wir haben geʃtritten.nv<br />

vil manige zit.ich han von ir zorne lai<strong>de</strong>s vil erlitten.<br />

noch haltet ʃi <strong>de</strong>n ʃtrit.ʃi wenet <strong>de</strong>s dvrch das ich var.<br />

ich laʃʃe ʃi noch fri.got vor <strong>de</strong>r helle niem͛ mich bewar.<br />

obe das min wille ʃi.ʃwie ʃere das mer vñ o ͮ ch die ʃtarkē<br />

vn<strong>de</strong> toben.ich wil ʃi niem͛ da verloben.<strong>de</strong>r dornʃlege<br />

mohte ab ͛ lihte ʃin.dvrch die ʃi mich lieʃʃe.nv ʃprechēt<br />

wes ʃi wid ͛ mich genieʃʃe.ʃi kumet mir niemer tag<br />

vs <strong>de</strong>m h ͛zen min.<br />

Swer minne minnecliche trait.gar ane valʃchen<br />

můt.<strong>de</strong>s ʃv̍ n<strong>de</strong> wirt vor gotte niht geʃait.ʃi tv̍ ret<br />

vñ iʃt gůt.man ʃol mi<strong>de</strong>n bo͑ ʃen krank.vñ minnen rai<br />

nv̍ wip.tůt ers mit trv̍ wen ʃo habe dank.ʃin tugēt<br />

41 Anhang Abbild 2. Handschrift B (Miniatur)<br />

42 Anhang Abbild 3. Handschirft B (Text)<br />

26


licher lip.kun<strong>de</strong>n ʃi ze rehte baidv̍ ʃich bewarn.fv̍ r die wil<br />

ich ze helle varn.die aber mit liʃten wellent sin.fv̍ r die<br />

wil ich niht vallen.ich maine die da minnēt ane gallen.<br />

als ich mit trv̍ wen tůn die lieben vrowen min.<br />

Ƨwie gerne ich var doch iamert mich.wie es nu hie<br />

geʃte.ich wais wol es verkeret alles ʃich.dv̍ ʃorge tůt<br />

mir we.die ich hie laʃʃe wol geʃunt.d ͛ vin<strong>de</strong> ich aller niht.<br />

ʃwer leben ʃol <strong>de</strong>m wirt manig wund ͛ kvnt.das alle<br />

tage geʃchiht.wir haben in ainē iare.<strong>de</strong>r lv̍ te vil ver<br />

lorn.an <strong>de</strong>n man ʃiht <strong>de</strong>n gottes zorn.nv erkene ʃich<br />

ain ieglich herze gůt.dv̍ welt iʃt niemen ʃtete.vñ wil<br />

doch das man minne ir valʃchen rete.nv ʃiht man wol<br />

ir lon wie ʃi an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong> tůt.<br />

Handschrift C:<br />

Das Lied ´ich und ein wip, haben gestritten´ wird unter <strong>de</strong>m Namen ´Der von<br />

Johansdorf´zugeordnet. Insgesamt wer<strong>de</strong>n ihm hier 37 Strophen zugewiesen, die von<br />

Folio 179v bis 181r in zwei Spalten geschrieben sind. Je<strong>de</strong> neue Strophe beginnt am<br />

linken Rand <strong>de</strong>r Spalte mit einer farbigen Initiale. Oft wird <strong>de</strong>r Anfang eines neuen<br />

Lie<strong>de</strong>s durch einen Wechsel in <strong>de</strong>r Farbe <strong>de</strong>r Initialen gekennzeichnet. Dies besagt<br />

auch, dass die drei Strophen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ich und ein wip haben gestriten<br />

zusammengehören. Die drei Strophen befin<strong>de</strong>n sich auf Folio 180r, auf <strong>de</strong>r linken<br />

Spalte und die Initialen sind blaufarbig. 43 Seine Miniatur zeigt, dass ein Mann und eine<br />

Frau sich zärtlich stehend umarmen und ihre Wangen miteinan<strong>de</strong>r berühren. Das ist<br />

einen ein<strong>de</strong>utigen Unterschied zur Miniatur <strong>de</strong>r Weingartner Lie<strong>de</strong>rhandschrift B.<br />

Dieses Bild könnte einen Abschied o<strong>de</strong>r eine Begrüßung darstellen. Auf <strong>de</strong>m Wappen<br />

sind rote und weise Blumen zu fin<strong>de</strong>n, die aber auf einem Helm herangewachsen sind: 44<br />

Hs.C,F 180r :<br />

Ich vñ ein wib wir haben geʃtritten.nv vil<br />

manige zit.ich han von ir zorne lei<strong>de</strong>ʃ<br />

vil erlitten.noch haltet ʃi <strong>de</strong>n ʃtrit.ʃi wen<br />

43 Anhang.Abbild 5. Handschrift C (Text)<br />

44 Anhang.Abbild 4. Handschrift C (Miniatur)<br />

27


et <strong>de</strong>s dvr dc ich var.ich laʃʃe ʃi noch fri.<br />

got vor <strong>de</strong>r helle niem͛ mich bewar.ob dc<br />

min wille ʃi.ʃwie ʃere dc mer vñ o ͮ ch die<br />

ʃtarken u̍ n<strong>de</strong> toben.ich wil ʃi niem͛ da v ͛<br />

loben.<strong>de</strong>r donrʃlege mohte aber lihte ʃin.<br />

dvr die ʃi mich lieʃʃe.nv ʃprechēt wes ʃi wi<br />

<strong>de</strong>r mich genieʃʃe.ʃi kumt mir niem͛ tac<br />

vs <strong>de</strong>m herzen min.<br />

Swer mine minekliche treit.gar ane<br />

valʃchē můt.<strong>de</strong>s ʃv̍ n<strong>de</strong> wirt vor got<br />

te niht geʃait.ʃi tv̍ ret vñ iʃt gůt.man<br />

ʃol mi<strong>de</strong>n bo ͤ ʃen krank.vñ minnen reinv̍<br />

wib.tůt ers mit tru̍ wē ʃo habe iemer<br />

danc.ʃin tugentlicher lib.kun<strong>de</strong>r ʃi ze<br />

rehte beidv̍ ʃich bewarn.fu̍ r die wil ich<br />

zehelle varn.die aber mit liʃtē wellēt<br />

sin.fu̍ r die wil ich niht vallē.ich meine<br />

die da minnēt ane gallen.als ich mit<br />

trv̍ wē tůn die liebē frowen min.<br />

Swie gerne ich var doch iamert mich.<br />

wie es nv hie geʃte.ich weis wol es<br />

verkeret alles ʃich.du̍ ʃorge tůt mir we.<br />

die ich hie laʃʃe wol geʃunt.d ͛ vin<strong>de</strong> ich<br />

aller niht.ʃwer leben ʃol <strong>de</strong>m wirt me<br />

nig wun<strong>de</strong>r kvnt.das alle tage geʃchiht.<br />

wir haben in einen iare.d ͛ lv̍ te vil v͛ lorn.<br />

an <strong>de</strong>n man ʃiht <strong>de</strong>n gottes zorn.nv erkē<br />

ne ʃich ein ieglich h ͛ze gůt.du̍ welt iʃt<br />

niemen ʃtete.vñ wil doch das man min<br />

ne ir valʃchē rete.nv ʃiht man wol ir lon<br />

wie ʃi an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong> tůt.<br />

Die Alleinstehen<strong>de</strong> Strophe in Handschrift C:<br />

28


Nach zwölf Strophen befin<strong>de</strong>t sich diese Strophe auf Folio 180v. Ihr Strophenanfang ist<br />

mit einer rotfarbigen Initiale verziert und die Strophen davor und danach haben<br />

blaufarbige Initialen: 45<br />

Hs.C, 180 v :<br />

Ob ich ʃi iemer mere geʃehe <strong>de</strong>s enweiʃ<br />

ich niht fu̍ r war.da bi gelǒbe mir´s̤<br />

ʃwes ich ir iehe.es get vō herzen gar.ich<br />

mīne ʃi fu̍ r ellu̍ wib.vñ ʃwer ir <strong>de</strong>s bi<br />

gotte.dc h ͛ze min ʃin vñ al<strong>de</strong>r lip.die<br />

ʃtent in ir gebotte.ich erwache niemer<br />

es ʃi min erste segen.dc got ir eren můʃ<br />

ʃe pflegē.vñ laʃʃe ir lip mit lobe hie be<br />

ʃten.vñ iemer ewekliche.nv gib ir h ͛re<br />

fro ͤ i<strong>de</strong> in himelriche.vñ mir beʃchehe al<br />

sam als mu ͤ ʃʃe es ergen.<br />

Zusammenfassung:<br />

Wenn man diese drei Hauptlyrikhandschriften A, B und C betrachtet, vermutet man,<br />

dass es im Mittelhoch<strong>de</strong>utschen keine geregelte Orthographie gab. Es ist schwer zu<br />

beantworten, woran <strong>de</strong>r Schreiber <strong>de</strong>r einzelnen Handschriften sich orientierte. Ob sich<br />

<strong>de</strong>r Schreiber an seinem Heimatdialekt o<strong>de</strong>r an schreibsprachlichen Konventionen <strong>de</strong>r<br />

Institutionen, in <strong>de</strong>nen und für die sie Texte aufzeichneten, sich orientierte, ist fraglich.<br />

Aber es treten immerhin Gemeinsamkeiten auf in <strong>de</strong>r Schreibung <strong>de</strong>r Buchstaben und in<br />

manchen Abkürzungen. Die genauen Unterschie<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n im nächsten Schritt erläutert.<br />

3.1.1. Die normalisierte mittelhoch<strong>de</strong>utsche Texte <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s<br />

Bei <strong>de</strong>r Interpretation <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s können die diplomatischen Abdrücke allein nicht<br />

helfen. Denn es fehlen in <strong>de</strong>n Handschriften die Interpunktionen, die das Verständis <strong>de</strong>s<br />

Lie<strong>de</strong>s behilflich sein sollten. Es gibt in <strong>de</strong>r Forschung eine Möglichkeit, die<br />

diplomatischen Abdrücke ins normalisierte Mittelhoch<strong>de</strong>utsch zu übertragen. Mit<br />

LACHMANN verbind sich die bis heute übliche Praxis, mittelhoch<strong>de</strong>utsche Text in Form<br />

eines normalisierten Mittelhoch<strong>de</strong>utsch zu edieren. Das normalisierte<br />

45 Anhang.Abbild 6. Handschirft C (Text <strong>de</strong>r alleinstehen<strong>de</strong> Strophe)<br />

29


Mittelhoch<strong>de</strong>utsch ist durch die graphische Konventionen bestimmt, die das Lesen und<br />

Lernen <strong>de</strong>s Mittelhoch<strong>de</strong>utschen sehr erleichtern (vgl. SIEBERG, 2010:60). Nach diesen<br />

Konventionen wer<strong>de</strong>n im normalisierten Mhd. für Lang- und Kurzvokale<br />

unterschiedliche Zeichen verwen<strong>de</strong>t. Zu<strong>de</strong>m wer<strong>de</strong>n handschriftliche Kürzel aufgelöst;<br />

dazu tritt oft eine verständnisunterstützen<strong>de</strong> mo<strong>de</strong>rne Interpunktion. Für die New<br />

Philologen liegt darin aber die Gefahr, dass normalisierte Mhd. <strong>de</strong>n Blick auf die<br />

historische Wirklichkeit verstellt, wie sie durch die mittelalterliche Handschriften<br />

repräsentiert wird. (vgl: STACKMANN(d). 1997:421). Deswegen sollte man sicherlich die<br />

auffallen<strong>de</strong>n Schreibstile in <strong>de</strong>n Handschriften berücksichtigen. Von daher wer<strong>de</strong> ich<br />

<strong>de</strong>m Praxisweg folgen, <strong>de</strong>r BEIN und HOFMEISTER als Konzeption einer dynamischen<br />

Edition vorgeschlagen haben. 46 Das heißt, nur ein Teil <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong> <strong>de</strong>s normalisierten<br />

Mittelhoch<strong>de</strong>utschen wird in <strong>de</strong>n jeweiligen Handschriften angewandt. Ich wer<strong>de</strong> nicht<br />

die Lang- und Kurzvokale durch Zirkumflex und durch Ligaturen bzw.<br />

Vokalkombinationen markieren, da wir heute die genauen Laute <strong>de</strong>r damaligen Zeit<br />

nicht wie<strong>de</strong>rgeben kann. Aber <strong>de</strong>r Buchstabe ʃ und die Abkürzungen wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>m<br />

entsprechend <strong>de</strong>m normalisierten Mhd. aufgelöst. Ebenso wer<strong>de</strong>n einige<br />

Interpunktionen im Text rekonstruiert, die bei <strong>de</strong>r Verständigung <strong>de</strong>r Interpretation <strong>de</strong>s<br />

Lie<strong>de</strong>s behilflich sein wer<strong>de</strong>n.<br />

In allen drei Handschriften A, B und C ist folgen<strong>de</strong>s zu beobachten: ʃ - wird S<br />

bezeichnet. Abkürzungen wie vñ- als und; dc- als das o<strong>de</strong>r daz; niem r – niemer o<strong>de</strong>r<br />

ɧ r ze- herze gelesen. Die Punkte, die auf <strong>de</strong>n Handschriften stehen, sind eigentlich nur<br />

als Hinweis dienlich, dass <strong>de</strong>r Schreiber zum Teil versucht hat, die Verse abgrenzen zu<br />

wollen. Der erste Buchstabe <strong>de</strong>r jeweiligen Strophen wer<strong>de</strong>n groß geschrieben. Von<br />

daher wer<strong>de</strong> ich trotz <strong>de</strong>r zugefügten Interpunktionen die Groß-und Kleinbuchstaben so<br />

behalten, wie es in <strong>de</strong>n Handschriften entnommen wur<strong>de</strong>.<br />

A Handschrift:<br />

1.Strophe:<br />

Ich ein und wip, wir haben gestritten<br />

nu vil menege zit.<br />

ich han lei<strong>de</strong>s von ir zorne vil erlitten,<br />

noch hel<strong>de</strong>t si <strong>de</strong>n strit.<br />

nu wenet si, dur daz ich var,<br />

daz ich si laze vri.<br />

46 Vgl.BEIN 2005: 139. Stufe 1: Handschriften-Faksimile; Stufe 2:Diplomatische Transkription; Stufe 3:<br />

Leicht normalisierte Handschriften Editionen.<br />

30


got vor <strong>de</strong>r helle niemer mich bewar,<br />

obe daz min wille si.<br />

swie vil daz mer und och die starchen un<strong>de</strong> toben,<br />

ich enwil si niemer tac verloben.<br />

<strong>de</strong>r slege mochte aber lihte sin,<br />

da si mich dur lieze.<br />

nu sprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich grueze.<br />

si kumet mir niemer tac uz <strong>de</strong>n gedanken min.<br />

2.Strophe:<br />

Ich minne si vur alliu wip,<br />

alle mine sinne<br />

und och <strong>de</strong>r lip,<br />

daz stet in ir gebot.<br />

ine erwache niemer, ez en si min erste segen,<br />

daz got ir eren muoze phlegen<br />

und laze ir lip mit lobe hie gesten,<br />

darnach erwecliche.<br />

nu gip ir herre vrei<strong>de</strong> in dime riche,<br />

daz ir gesche also muoze och nur ergen.<br />

3.Strophe:<br />

Swie verre ich var, so iamert mich,<br />

wiez noch hie geste.<br />

ich weiz wol, er verkeret alles sich.<br />

diu sorge tuot mir we.<br />

die ich hie laze wol gesunt,<br />

<strong>de</strong>r envind ich lei<strong>de</strong>r niht.<br />

<strong>de</strong>r leben sol,<strong>de</strong>m wirt menic wun<strong>de</strong>r kunt,<br />

daz alle tage geschiht.<br />

wir haben in eine iare <strong>de</strong>r liute vil verloren.<br />

da bi so merkett gotes zorn,<br />

und erkenne sich ein ieglichez herze guot.<br />

die werlt ist unstete.<br />

ich meine die da minnent valsche rete<br />

<strong>de</strong>n wirt ze iungst schin wiez an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong> tut<br />

Die B- und C- Handschriften:<br />

In <strong>de</strong>r Forschung wer<strong>de</strong>n diese bei<strong>de</strong>n Handschriften oftmals parallelisiert. Der Großteil<br />

<strong>de</strong>r Strophenbestän<strong>de</strong> und die Einrichtungen wirken, als seien sie Geschwister. Die<br />

Texte <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s sehen so aus, als ob sie in <strong>de</strong>n Hss. B und C parallel überliefert<br />

wor<strong>de</strong>n wären. Der auffallen<strong>de</strong>r Unterschied zwischen <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Transkriptionen <strong>de</strong>r<br />

Handschriften ist <strong>de</strong>r Buchstabe. Folgen<strong>de</strong> Buchstaben wer<strong>de</strong>n unterschiedlich<br />

geschrieben, zeigen aber semantisch keine Unterschie<strong>de</strong>. ai (B Hs.)→ ei(C Hs.); b→p;<br />

k→c; durch→dur; v→f<br />

31


Handschrift B:<br />

I. Strophe:<br />

Ich und ain wip, wir haben gestritten<br />

nu vil manige zit.<br />

ich han von ir zorne lai<strong>de</strong>s vil erlitten,<br />

noch haltet si <strong>de</strong>n strit,<br />

si wenet <strong>de</strong>s, dvrch das ich var.<br />

ich lasse si noch fri,<br />

got vor <strong>de</strong>r helle niemer mich bewar,<br />

obe das min wille si.<br />

swie sere das mer und ouch die starken<br />

un<strong>de</strong> toben,<br />

ich wil si niemer da verloben.<br />

<strong>de</strong>r dornslege mohte aber lihte sin,<br />

durch die si mich liesse.<br />

nu sprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich geniesse.<br />

si kumet mir niemer tac us <strong>de</strong>m herzen min.<br />

Handschrift C:<br />

I. Strophe :<br />

Ich und ein wib haben gestritten<br />

nu vil manige zit.<br />

ich han von ir zorne vil leites erlitten,<br />

noch haltet si <strong>de</strong>n strit,<br />

si wenet <strong>de</strong>s dvr das ich var.<br />

ich lasse si noch fri,<br />

got vor <strong>de</strong>r helle niemer mich bewar,<br />

ob das min wille si.<br />

swie sere das mer und ouch die starke un<strong>de</strong><br />

toben,<br />

ich wil si niemer da verloben.<br />

<strong>de</strong>r dornslege mohte aber lihte sin,<br />

dur die si mich liesse.<br />

nv sprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich geniesse.<br />

si kumt mir niemer tag us <strong>de</strong>m herzen min.<br />

I. Strophe:<br />

Swer minne minnecliche trait<br />

gar ane valschen muot,<br />

das sün<strong>de</strong> wirt vor gotte niht gesait.<br />

si tueret und ist guot.<br />

wan sol mi<strong>de</strong>n boesen krank<br />

und minnen rainiu wip.<br />

tuot ers mit truewen so habe dank<br />

sin tugentlicher lip.<br />

kun<strong>de</strong>n si ze rehte baidiu sich bewarn,<br />

fu̍ r die wil ich ze helle varn.<br />

die aber mit listen wellent sin,<br />

fu̍ r die wil ich niht vallen.<br />

ich maine die da minnent ane gallen,<br />

alsich mit truewen tuon die lieben vrowen<br />

min.<br />

II. Strophe<br />

Swie gerne ich var, doch iamert mich<br />

wie es nu hie geste.<br />

ich wais wol, es verkeret alles sich.<br />

die sorge tuot mir we.<br />

die ich hie lasse wol gesunt,<br />

<strong>de</strong>r vin<strong>de</strong> ich aller niht.<br />

swer leben sol, <strong>de</strong>m wirt manig wun<strong>de</strong>r<br />

kunt,<br />

das alle tage geschiht.<br />

wir haben in ainem iare <strong>de</strong>r liute vil<br />

verlorn.<br />

an <strong>de</strong>n man siht <strong>de</strong>n gotes zorn.<br />

nu erkene sich ain ieglich herze guot.<br />

diu welt ist niemen stete<br />

und wil doch das man minne ir valschen<br />

rete<br />

nu siht man wol ir lon wie si an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong><br />

tuot.<br />

II. Strophe:<br />

Swer mine minekliche treit<br />

gar ane valschen muot,<br />

<strong>de</strong>s sün<strong>de</strong> wirt vor gotte niht geseit.<br />

si tueret und ist guot.<br />

wan sol mi<strong>de</strong>n boesen kranc und minen<br />

reiniu wib.<br />

tuot ers mit truewen so habe iemer danc<br />

sin tugentlicher lib.<br />

kun<strong>de</strong>r si ze rehte beidiu sich bewarn,<br />

fu̍ r die wil ich ze helle varn.<br />

die aber mit listen wellent sin,<br />

fu̍ r die wil ich niht vallen.<br />

ich meine die da minnent ane gallen.<br />

als ich mi truewen tuon die lieben frowen<br />

min.<br />

III. Strophe<br />

Swie gerne ich var, doch iamert mich<br />

wie es nu hie geste.<br />

ich weis wol, es verkeret alles sich.<br />

diu sorge tuot mir we.<br />

die ich hie lasse wol wol gesunt,<br />

<strong>de</strong>r vin<strong>de</strong> ich alles niht.<br />

swer leben sol, <strong>de</strong>m wirt menig wun<strong>de</strong>r<br />

kunt,<br />

das alle tage geschiht.<br />

wir haben in einem iare <strong>de</strong>r liute vil<br />

verlorn.<br />

an <strong>de</strong>n man siht <strong>de</strong>n gottes zorn.<br />

nu erkenne sich ein ieglich herze guot.<br />

diu welt ist niemen stete<br />

und wil doch das man minne ir velschen<br />

rete.<br />

nu siht ma wol ir lon wie si an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong><br />

tuot.<br />

32


Die alleinstehen<strong>de</strong> Einzelstrophe in C Handschrift:<br />

Ob ich si iemer mere gesehe,<br />

<strong>de</strong>s enweis ich niht fuer war.<br />

da bi geloebe mir es, swes ich ir iehe,<br />

es geht von herzen gar.<br />

ich mine si fuer elliu wib<br />

und swer ir das bi gotte.<br />

das herze min sin und al<strong>de</strong>r lip.<br />

die stent in ir gebotte.<br />

ich erwache niemer es sin min erste segen,<br />

das got ir eren muosse pflegen<br />

und lasse ir lip mit lobe hie besten<br />

und iemer ewekliche.<br />

nu gib ir herre froi<strong>de</strong> in himelriche<br />

und mir beschehe alsam als muosse es ergen.<br />

Im nächsten Schritt soll gezeigt wer<strong>de</strong>n, ob die Strophen <strong>de</strong>r jeweiligen<br />

handschriftlichen Fassungen A, B und C förmlich als ein Lied abgebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n<br />

können.<br />

3.1.1.1. Formale Analyse <strong>de</strong>r Strophen<br />

Die mittelhoch<strong>de</strong>utsche Lyrik bil<strong>de</strong>t eine Formenkunst. Diese Formkunst dient auch<br />

dazu, die Strophen zu einem Lied zu bringen. Die Forschung betrachtet es als gegeben,<br />

dass alle Strophen eines Lie<strong>de</strong>s gleich gebaut sein sollten, d.h. sie sollten dieselbe<br />

metrische und musikalische Form haben (SCHWEIKLE, 1995). 47<br />

Die Form <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ´ich und ein wip, wir haben gestritten´ zeigt in seinen<br />

verschie<strong>de</strong>nen Editionen fast keine Unterschie<strong>de</strong>, <strong>de</strong>nn die Untersuchungen basieren auf<br />

<strong>de</strong>m gleichen Prinzip. Nur beim Abgesang <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s gibt es einen kleinen<br />

47<br />

Der Kanzone (lat. cantio, ital. canzona = gesungenes Lied) meint im weitesten Sinn ein<br />

(mehrstrophiges) rezitiertes Gedicht o<strong>de</strong>r gesungenes Lied beliebigen Inhalts. In <strong>de</strong>r<br />

literaturwissenschaftlichen Terminologie ist jedoch mit diesem Begriff zumeist eine musikalische<br />

Strophenbauform (sog. ‘klassische Kanzone’) bezeichnet, die ihren Ausgangspunkt in <strong>de</strong>r<br />

Troubadourlyrik und <strong>de</strong>r nordfrz. Trouvèrelyrik hatte und in Deutschland rezipiert wur<strong>de</strong>. Kennzeichen<br />

dieser Kanzonenstrophe ist eine formale Teilung in zwei strophische Perio<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>n Auf- und <strong>de</strong>n<br />

Abgesang. Der Aufgesang seinerseits ist aus zwei metrisch-musikalisch i<strong>de</strong>ntischen Hälften (d.h.<br />

Übereinstimmung <strong>de</strong>r Hebungszahlen, <strong>de</strong>r Ka<strong>de</strong>nzformen und <strong>de</strong>r Reimklänge), <strong>de</strong>n Stollen, gebil<strong>de</strong>t,<br />

während <strong>de</strong>r Abgesang metrisch-musikalisch an<strong>de</strong>rs gebaut ist. Diese Grundstruktur kann auf die<br />

vielfältigste Art gefüllt wer<strong>de</strong>n. Variabel sind erstens die Verslänge, so z. B. 2 bis 7 Heber und die Art<br />

<strong>de</strong>r Verskombination. D.h. die Zusammenstellung aus gleichlangen (isometrisch) o<strong>de</strong>r ungleichlangen<br />

(Heterometrischen) Versen. Isometrie und Heterometrie können auch in einer Strophe unterschiedlich auf<br />

Auf- und Abgesang verteilt sein (vgl. SCHWEIKLE 1995: 156-166).<br />

33


Meinungsunterschied. 48<br />

Die Forschung geht davon aus, dass BERGMANN die<br />

Formanalyse <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s eher nachvollziehbarer dargestellt habe und darum stützen sich<br />

die meisten nachfolgen<strong>de</strong>n Forscher auf seine Untersuchungen.<br />

Nun wer<strong>de</strong> ich die Strophen <strong>de</strong>r jeweiligen Fassungen A, B und C analysierenn<br />

und dabei überprüfen, ob sie metrisch gleich gebaute Strophen bil<strong>de</strong>n.<br />

Handschriftliche Fassung A:<br />

1. Strophe :<br />

Ich und ein wip wir haben gestritten 4ma 1.Stollen<br />

/x´ x x / x´ / x´ x x/ x´ x x 49<br />

nu vil menege zit<br />

3mb<br />

x´ x/ x´x x`/ x´<br />

Ich han lei<strong>de</strong>s von ir zorne vil erlitten 5ma Aufgesang<br />

x´ x/ x´ x / x´ x x/ x´ x / x´x x<br />

Noch hel<strong>de</strong>t si <strong>de</strong>n strit<br />

3mb<br />

x/ x´ x / x´ x / x´<br />

Nu wenet si dur daz ich var 4mc 2. Stollen<br />

x´/ x´ x/ x´ x/ x´ x/ x´<br />

Daz ich si laze vri<br />

3md<br />

x ´ x x /x´ x/ x´<br />

Got vor <strong>de</strong>r helle niemer mich bewar<br />

5mc<br />

x´ / x´ x/ x´ x`/ x´ x x / x´ x<br />

obe daz min wille si<br />

3md<br />

x´ x x/ x´ x x/ x´<br />

Swie vil daz mer und och die starchen un<strong>de</strong> toben 6me Abgesang<br />

x´ x / x´ x/ x´ x / x´ x x`/ x´ x`/ x´ x<br />

ich enwil si niemer tac verloben<br />

5me<br />

x´ x/ x´ x/ x´ x/ x´ x/ x´ x<br />

Der__slege mochte aber lihte sin<br />

5mf<br />

x´ x x`/ x´ x/ x´x/ x´ x/ x´<br />

da si mich dur lieze<br />

3klg<br />

x´ x/ x´ x/ x´ x`<br />

nu sprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich grueze<br />

5klg<br />

x´ x / x´ x/ x´ x/ x´ x/ x´ x`<br />

Si kumet mir niemer tac uz <strong>de</strong>n gedanken min 7mf<br />

x´ x / x´ x/ x´ x/ x´ x / x´ x/ x´ x/ x´<br />

48 BERGMANN untersucht <strong>de</strong>n Abgesang: 6ve4ve6sf4kg6kg6vf, PRETZEL und FISCHER 6e 4e 5f 3g 5g 6f<br />

49 Vgl. Was nun zunächst die Metrik <strong>de</strong>s nach Silben gezählten Verses betrifft, so stellt die Zeichenschrift<br />

<strong>de</strong>r klassischen Philologie dafür hauptsächlich das Zeichen ´x´ zur Verfügung. Die Verse zeigen von<br />

Anfang an eine mehr o<strong>de</strong>r weniger stark ausgeprägte Ten<strong>de</strong>nz zur Alternation, zum Wechsel von Hebung<br />

(x´) und Senkung(x`). Die Grenzpfähle <strong>de</strong>s Taktes bil<strong>de</strong>n die Hebungen, so dass ein Takt mit einer<br />

Hebung beginnt und die Senkungssilben umschließt.<br />

34


2. Strophe:<br />

Stollen 1. 4ma<br />

3klb<br />

Stollen 2<br />

3ma<br />

5klb<br />

5mc<br />

4mc<br />

Abgesang 4md<br />

3kle<br />

5kle<br />

6md<br />

3. Strophe:<br />

Stollen 1. 4ma<br />

3wb<br />

3ma<br />

3wb<br />

Stollen 2. 4mc<br />

3md<br />

5mc<br />

3md<br />

6me<br />

5me<br />

Abgesang 6mf<br />

3klg<br />

5klg<br />

7mf<br />

Die erste und die dritte Strophe dieser A Fassung bil<strong>de</strong>n eine metrische Einheit. Sie<br />

bestehen aus 14 Zeilen mit einem doppelten Aufgesangkursus. abab cdcd. Die Stollen<br />

bestehen aus einem vier- und fünfhebigen ersten Vers mit männlicher Ka<strong>de</strong>nz und<br />

einem zweiten dreihebigen mit männlichem Versschluss. Die Stollen sind durch<br />

Kreuzreime abab cdcd verbun<strong>de</strong>n. 50 Der Abgesang besteht aus einer sechs-, einer fünf,<br />

einer drei und einer siebenhebigen Zeile, die männlichen und klingen<strong>de</strong>n Ka<strong>de</strong>nzen, die<br />

die Reime ee fggf aufweisen. Aber die zweite Strophe ist nicht wie die erste; die dritte<br />

Strophe ist als doppelten Aufgesangkursus zu sehen. Eine Erklärung dafür könnte sein,<br />

dass die zweite Strophe inhaltlich nicht zwei Objekte reflektiert wie die erste und dritte<br />

Strophen. Vielmehr ist die Re<strong>de</strong> nur von einem Objekt. Das heißt, <strong>de</strong>r Ich-Sprecher<br />

bezieht sich direkt auf die Frau und erzählt nicht direkt wie es ihm selbst geht. Die<br />

zweite Strophe dieser Fassung ist zehnzeilig. Und daher ist es nicht <strong>de</strong>r doppelte<br />

Aufgesangkursus, son<strong>de</strong>rn wie die einfachste Bauform einer Stollenstrophe, <strong>de</strong>ren erste<br />

vier Zeilen <strong>de</strong>n Aufgesang bil<strong>de</strong>n. Die Stollen bestehen aus einer vier- und einer<br />

dreihebigen Zeile mit männlichen Ka<strong>de</strong>nzen und einem zweiten drei- und fünfhebigen<br />

Vers mit klingen<strong>de</strong>n Ka<strong>de</strong>nzen, die durch Kreuzreime abab miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n<br />

sind. Der Abgesang besteht aus einer fünf-, einer vier-, einer drei- und sechshebigen<br />

Zeile, die männliche und klingen<strong>de</strong> Ka<strong>de</strong>nzen und an<strong>de</strong>re Paarreime und umarmen<strong>de</strong><br />

Reime cc <strong>de</strong>ed aufweisen.<br />

Handschriftliche Fassungen B und C:<br />

Alle drei Strophen <strong>de</strong>r B und C Fassungen bestehen aus 14 Zeilen mit einem doppelten<br />

Aufgesangkursus: abab cdcd. Die Stollen bestehen aus einem vier- und fünfhebigen<br />

50 Die Reimstellungen wer<strong>de</strong>n immer stärker differenziert, so dass sich im Minnesang schließlich alle<br />

<strong>de</strong>nkbaren Reimstellungen und Reimkünste fin<strong>de</strong>n. Paarreime o<strong>de</strong>r auch umschließen<strong>de</strong> Reime können<br />

z.B. in <strong>de</strong>r mittelhoch<strong>de</strong>utschen Lyrik auftauchen.<br />

35


ersten Vers mit weibliche Ka<strong>de</strong>nz und einem zweiten dreihebigen mit männlichem<br />

Versschluss. Die Stollen sind durch Kreuzreime abab cdcd verbun<strong>de</strong>n. Der Abgesang<br />

besteht aus einer sechs-, vier-, drei und einer sieben hebigen Zeile, die männliche und<br />

klingen<strong>de</strong>n Ka<strong>de</strong>nzen und die Reimen ee fggf aufweisen. Im Vergleich zur A Fassung<br />

weisen alle drei Strophen gleich gebauten metrischen Formen auf.<br />

Handschrift B:<br />

1.Strophe:<br />

Ich und ain wip wir haben gestritten 4ma 1. Stollen<br />

x´ x / x´ x / x´ x x/ x´ x x`<br />

Nu vil manige zit<br />

3mb<br />

x´ x/ x x x`/x`<br />

Ich han von ir zorne lai<strong>de</strong>s vil erlitten 5ma Aufgesang<br />

x´ x/ x x/ x x/ x´ x / x´ x x x`<br />

Noch haltet si <strong>de</strong>n strit<br />

3mb<br />

x´ x x/ x´ x/ x´<br />

Si wenet <strong>de</strong>s dvrch das ich var 4mc 2. Stollen<br />

x´ x x`/ x´ x/ x´ x/ x´<br />

Ich lasse si noch fri<br />

3md<br />

x´ x x`/x´ x/ x´<br />

Got vor <strong>de</strong>r helle niemer mich bewar<br />

5mc<br />

x´ x x/ x´ x`/ x´ x`/ x`/ x´ x<br />

Obe das min wille si<br />

3md<br />

x´ x x/ x´ x x/ x´<br />

Swie sere das mer und ouch die starken un<strong>de</strong> toben 6me Abgesang<br />

x´ x x`/ x´ x/ x´ x/ x´ x x/ x´ x/ x´ x<br />

Ich wil si niemer da verloben<br />

4me<br />

x´ x x`/ x` x/ x`/ x´ x x<br />

Der dornslege mohte aber lihte sin<br />

6mf<br />

x´ / x` x x`/ x´ x/x´ x/ x´x/ x´<br />

durch die si mich liesse<br />

3wg<br />

x´ x/ x´ x/ x´ x`<br />

Nu sprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich geniesse<br />

5wg<br />

x´ x x`/ x´ x/ x´x` / x´ / x´ x x`<br />

Si kumet mir niemer tac us <strong>de</strong>m herzen min<br />

6mf<br />

x´ x x`/ x`/ x´ x/ x´ x x`/ x´ x`/ x´<br />

Handschrift C:<br />

1.Strophe:<br />

Ich und ein wib, haben gestritten 4ma 1. Stollen<br />

x´ x / x´ x / x´ x/ x´ x x`<br />

zit Nu vil manige<br />

3mb<br />

x´ x/ x x x`/x`<br />

Ich han von ir zorne leites vil erlitten 5ma Aufgesang<br />

x´ x/ x x/ x x/ x´ x / x´ x x x`<br />

Noch haltet si <strong>de</strong>n strit<br />

3mb<br />

x´ x x/ x´ x/ x´<br />

Si wenet <strong>de</strong>s dur das ich var 4mc 2. Stollen<br />

x´ x x`/ x´ x/ x´ x/ x´<br />

Ich lasse si noch fri<br />

3md<br />

x´ x x`/x´ x/ x´<br />

Got vor <strong>de</strong>r helle niemer mich bewar<br />

5mc<br />

x´ x x/ x´ x`/ x´ x`/ x`/ x´ x<br />

Ob das min wille si<br />

3md<br />

x´ x/ x´ / x´ x/ x´<br />

Swie sere das mer und ouch die starken un<strong>de</strong> toben 6me Abgesang<br />

x´ x x`/ x´ x/ x´ x/ x´ x x/ x´ x/ x´ x<br />

36


Ich wil si niemer da verloben<br />

x´ x x`/ x` x/ x`/ x´ x x<br />

Der donrslege mohte aber lihte sin<br />

x´ / x` x x`/ x´ x/x´ x/ x´x/ x´<br />

dur die si mich liesse<br />

x´ x/ x´ x/ x´ x`<br />

Nu sprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich geniesse<br />

x´ x x`/ x´ x/ x´x` / x´ / x´ x x`<br />

Si kumt mir niemer tac us <strong>de</strong>m herzen min<br />

x´ x / x`/ x´ x/ x´ x x`/ x´ x`/ x´<br />

4me<br />

6mf<br />

3wg<br />

5wg<br />

6mf<br />

Nach meiner Untersuchungen ist die Form <strong>de</strong>r zwei Strophen <strong>de</strong>r A Fassung und <strong>de</strong>r<br />

drei Strophen <strong>de</strong>r B und C Fassungen ebenfalls i<strong>de</strong>ntisch wie die Form <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s in<br />

<strong>de</strong>n Editionen, wobei sie auch unterschiedlich sein könnte, da viele Wörter voneinan<strong>de</strong>r<br />

abweichen. Der Aufgesang dieser Fassungen ist <strong>de</strong>r dargestellten Form in <strong>de</strong>n<br />

Editionen gleich und <strong>de</strong>r Abgesang etwa an<strong>de</strong>rs gestaltet. So wird z.B. in <strong>de</strong>r Ausgabe<br />

<strong>de</strong>r ´Minnelyrik <strong>de</strong>s Mittelalters´ die Form <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s als ungewöhnlich lange<br />

Stollenstrophe mit einem Aufgesang aus zwei Kreuzreimperio<strong>de</strong>n gleichen Baus<br />

dargestellt. Das Grundschema <strong>de</strong>s Aufgesangs lautet 4a3b5a3b4c3d5c3d und hat einen<br />

metrisch auffallend variieren<strong>de</strong>n Abgesang 6e4e6f3g5g6f.<br />

A Fassung Minnelyrik <strong>de</strong>s Mittelalters Ausgabe<br />

(S.686)<br />

Aufgesang: 4a3b5a3b4c3d5c3d<br />

4a3b5a3b4c3d5c3d<br />

Abgesang: 6e5e6f3g5g7f<br />

6e4e6f3g5g6f.<br />

Allein stehen<strong>de</strong> einzel Strophe in <strong>de</strong>r C Handschrift:<br />

Ob ich si iemer mere gesehe, 4kla 1.Stollen<br />

x´ x/ x´ x x/ x´ x/ x´ x x`<br />

<strong>de</strong>s enweis ich niht fuer war.<br />

3mb<br />

x´ x / x´ x x/ x´ x<br />

da bi geloebe mir es, swes ich ir iehe, 5kla Aufegsang<br />

x´ x/ x´ x x`/ x´ x/ x´ x/ x´ x x`<br />

es geht von herzen gar.<br />

3mb<br />

x´ x´/ x´ x x/ x´<br />

ich mine si fuer elliu wib 4mc 2.Stollen<br />

x´ x x´/ x´ x/ x´ x/ x´<br />

und swer ir das bi gotte.<br />

3kld<br />

x´ x/ x´ x/ x´ x x`<br />

das herze min sin und al<strong>de</strong>r lip.<br />

5mc<br />

x´ /x´ x`/ x´ x/ x´ x x` / x´<br />

die stent in ir gebotte.<br />

3kld<br />

x´ x/ x´ x/ x´ x x`<br />

ich erwache niemer es sin min erste segen, 6me Abgesang<br />

x´ / x´ x x`/ x´ x/ x´ x / x´ x x`/ x´ x<br />

das got ir eren muosse pflegen<br />

4me<br />

x´ x/ x´ x x/ x´ x`/ x´ x<br />

und lasse ir lip mit lobe hie besten<br />

5mf<br />

x´ / x´ x´/x´ x/ x´ x x`/ x´ x x<br />

und iemer ewekliche.<br />

3mg<br />

x´ x x/ x´ x / x´ x`<br />

37


nu gib ir herre froi<strong>de</strong> in himelriche<br />

x´ x/ x´ x x`/ x´ x`/ x´ x x/ x´ x`<br />

und mir beschehe alsam als muosse es ergen.<br />

x´ x´/ x´ x x`/ x´x x/ x´ x` x/ x´ x<br />

5klg<br />

5mf<br />

Obwohl diese Strophe metrisch wie die an<strong>de</strong>ren drei Strophen <strong>de</strong>r C Fassung<br />

gleichgebaut ist, wur<strong>de</strong> diese Strophe nach mehreren Strophen, auf einer an<strong>de</strong>ren Seite<br />

<strong>de</strong>r C Handschrift übertragen. Diese Strophe wird in <strong>de</strong>r Forschung meist als die<br />

nachübertragen<strong>de</strong> Zusatzstrophe <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s verstan<strong>de</strong>n. 51 Aber aus <strong>de</strong>r heutigen Sicht<br />

können wir nur einige Hypothesen über diese Strophe ermitteln. Wir können lei<strong>de</strong>r<br />

keine genauen Belege wie<strong>de</strong>rgeben. Ich wer<strong>de</strong> darum diese Strophe als Einzelstrophe<br />

betrachten. Wir wissen nicht, warum <strong>de</strong>r Schreiber diese nicht gleich mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

Strophen zusammen aufgeschrieben hat.<br />

Es ergeben sich somit vier mögliche Liedgestalten, die untersucht wer<strong>de</strong>n<br />

müssen. Von daher wer<strong>de</strong>n die handschriftliche Versionen A, B und C jeweils als<br />

Fassungen genannt:<br />

a. Dreistrophige A Fassung<br />

b. Dreistrophige B Fassung<br />

c. Dreistrophige C Fassung<br />

d. Einstrophige C Fassung<br />

3.1.1.2. Inhaltliche Interpretation <strong>de</strong>r handschriftlichen Fassungen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s<br />

Die handschriftlichen Fassungen A, B und C <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ´ich und ein wip, wir haben<br />

gestritten´ bestätigen durch die äußeren und metrischen Formen jeweils eine mögliche<br />

Liedgestalt. Das heißt, die Strophen <strong>de</strong>r jeweiligen Fassungen stellen äußere und innere<br />

Bezüge her. Im Folgen<strong>de</strong>n soll untersucht wer<strong>de</strong>n, ob es tatsächlich möglich wäre, die<br />

drei Fassungen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s inhaltlich auf <strong>de</strong>r Text-und Strophenebene jeweils als ein<br />

Lied zu interpretieren. Außer<strong>de</strong>m sollen die verschie<strong>de</strong>nen Bearbeitungen <strong>de</strong>r<br />

Forschung <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ´ich und ein wip, wir haben gestritten´ nicht unerwähnt bleiben,<br />

weil ich eine vergleichen<strong>de</strong> Analyse zwischen <strong>de</strong>n Editionen und <strong>de</strong>n handschriftlichen<br />

Fassungen darstellen möchte. Dabei ist zu beachten, dass die erste und die dritte Strophe<br />

<strong>de</strong>r drei Fassungen in gleicher Reihenfolge überliefert wur<strong>de</strong>n. Beson<strong>de</strong>r Augenmerk<br />

soll auf die zweite Strophe <strong>de</strong>r Fassungen und die Zusammenfassung aller Strophen <strong>de</strong>r<br />

jeweiligen handschriftlichen Fassungen gelegt wer<strong>de</strong>n.<br />

51 In <strong>de</strong>r Ausgabe <strong>de</strong>s Minnesangs Frühling und in <strong>de</strong>r Ausgabe <strong>de</strong>r Lyrik <strong>de</strong>s frühen und hohen<br />

Mittelalters wur<strong>de</strong> diese Strophe rekonstruiert.<br />

38


Die erste Strophe:<br />

Die erste Strophe in allen drei Fassungen habe ich vierteilig angelegt, damit die<br />

Interpretation dieser Strophe verständlicher wird und vor allem die unterschiedlichen<br />

Handlungen <strong>de</strong>utlicher wer<strong>de</strong>n. Die Aufteilung habe ich mit vier verschie<strong>de</strong>nen Farben<br />

markiert:<br />

A Handschrift:<br />

1.Strophe<br />

Ich ein und wip, wir haben<br />

gestritten nu vil menege zit.<br />

ich han lei<strong>de</strong>s von ir zorne vil<br />

erlitten,<br />

noch hel<strong>de</strong>t si <strong>de</strong>n strit.<br />

nu wenet si, dur daz ich var,<br />

daz ich si laze vri.<br />

got vor <strong>de</strong>r helle niemer mich<br />

bewar,<br />

obe daz min wille si.<br />

swie vil daz mer und och die<br />

starchen un<strong>de</strong> toben,<br />

ich enwil si niemer tac verloben.<br />

<strong>de</strong>r slege mochte aber lihte sin,<br />

da si mich dur lieze.<br />

nu sprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich<br />

grueze.<br />

si kumet mir niemer tac uz <strong>de</strong>n<br />

gedanken min.<br />

Handschrift B:<br />

1. Strophe:<br />

Ich und ain wip, wir haben<br />

gestritten<br />

nu vil manige zit.<br />

ich han von ir zorne lai<strong>de</strong>s vil<br />

erlitten,<br />

noch haltet si <strong>de</strong>n strit.<br />

si wenet <strong>de</strong>s, dvrch das ich var.<br />

ich lasse si noch fri,<br />

got vor <strong>de</strong>r helle niemer mich<br />

bewar,<br />

obe das min wille si.<br />

swie sere das mer und ouch die<br />

starken un<strong>de</strong> toben,<br />

ich wil si niemer da verloben.<br />

<strong>de</strong>r dornslege mohte aber lihte sin,<br />

durch die si mich liesse.<br />

nu sprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich<br />

geniesse.<br />

si kumet mir niemer tac us <strong>de</strong>m<br />

herzen min.<br />

Handschrift C:<br />

1. Strophe :<br />

Ich und ein wib haben gestritten<br />

nu vil manige zit.<br />

ich han von ir zorne vil leites<br />

erlitten,<br />

noch haltet si <strong>de</strong>n strit.<br />

si wenet <strong>de</strong>s dvr das ich var.<br />

ich lasse si noch fri,<br />

got vor <strong>de</strong>r helle niemer mich<br />

bewar,<br />

ob das min wille si.<br />

swie sere das mer und ouch die<br />

starke un<strong>de</strong> toben,<br />

ich wil si niemer da verloben.<br />

<strong>de</strong>r dornslege mohte aber lihte sin,<br />

dur die si mich liesse.<br />

nv sprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich<br />

geniesse.<br />

si kumt mir niemer tag us <strong>de</strong>m<br />

herzen min.<br />

Der erste Teil beschäftigt sich mit <strong>de</strong>n ersten drei Versen und ist als Einführung <strong>de</strong>s<br />

ganzen Lie<strong>de</strong>s zu verstehen, da darin die Handlung in <strong>de</strong>r Vergangenheit geschil<strong>de</strong>rt<br />

wird: haben gestritten und han erlitten. Für die mhd. Wörter gestitten und erlitten gibt<br />

es unterschiedliche Schreibungen. Vor <strong>de</strong>r 38. Auflage <strong>de</strong>s MF. wer<strong>de</strong>n diese Wörter als<br />

gestriten und erli<strong>de</strong>n ediert und seit<strong>de</strong>m als getriten und erliten, also mit einem t<br />

geschrieben. In <strong>de</strong>r Ausgabe von Kasten sind sie auch mit einem t geschrieben. In <strong>de</strong>n<br />

Handschriften wer<strong>de</strong>n die Wörter aber mit doppelt t geschrieben (was aber in <strong>de</strong>n mhd.<br />

Wörterbüchern nicht fin<strong>de</strong>n.)<br />

Der erste Vers in allen drei Fassungen stellt die Rolleneinführung eines lyrischen<br />

Ichs dar, in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Ich-Sprecher darauf hinweist, dass er mit einem wip seit langer Zeit<br />

gestritten hat:<br />

HS.A.<br />

Ich ein und wip, wir haben<br />

gestritten<br />

nu vil menege zit.<br />

HS.B.<br />

Ich und ain wip, wir haben<br />

gestritten<br />

nu vil manige zit.<br />

HS.C.<br />

Ich und ein wib haben gestritten<br />

nu vil manige zit.<br />

Dabei stehen sich zwei Rollen gegenüber, ein Mann (ich) und eine Frau, <strong>de</strong>ren sozialen<br />

Status aber im Text selbst nicht angezeigt wird. Es steht einerseits ein Mann, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n<br />

Editionsinterpretationen als ein Ritter bezeichnet wird, und an<strong>de</strong>rerseits steht ein wip,<br />

39


<strong>de</strong>ssen Be<strong>de</strong>utungsspektrum in mhd. unterschiedlich <strong>de</strong>finiert wird. Obwohl das Wort<br />

wip in <strong>de</strong>n meisten Einträgen als einer allgemeine Begriff für ´Frau´ gebraucht wird,<br />

halten manche Verfasser das Wort wip für ´Ehefrau´ o<strong>de</strong>r eine Frau von geringerem<br />

Stand. 52 Doch schon Verse wie sus sollten clagen altiu wîp (Wolfram: <br />

298/14) und min frowe ist ein ungenaedic wip (Walther: L. 52/13) belegen, dass auch<br />

<strong>de</strong>r Grad <strong>de</strong>r Negativität bei Frauen unterschiedlich sein könnte. Wur<strong>de</strong> etwas<br />

Schlechtes über Frauen gesagt, dann wählte man ´wip´, aber das muss so nicht<br />

unbedingt stimmen. 53 In <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>r Höflichkeit kann eine Person weiblichen<br />

Geschlechts als vrouwe genannt wer<strong>de</strong>n. Beson<strong>de</strong>rs bezeichnet man damit aber auch die<br />

vornehmere Frau o<strong>de</strong>r Gebieterin <strong>de</strong>s Lan<strong>de</strong>s, also so wie Fürstin. 54 Die Frau in diesem<br />

Lied ist aber keine vrouwe, son<strong>de</strong>rn ein wip. Wie ich es hier dargestellt habe, taucht im<br />

ersten Vers <strong>de</strong>r drei Fassungen eine Form <strong>de</strong>r Wortvarianz auf, die in <strong>de</strong>r<br />

Varianzforschung als Textvarianz bezeichnet wird. Das Wort wir, das sich in <strong>de</strong>n<br />

Fassungen A und B befin<strong>de</strong>t, wird in <strong>de</strong>r C Fassung nicht geschrieben. In <strong>de</strong>r Forschung<br />

gibt es für diesen Fall keine ausführliche Erklärung und es wird als ein Fehler<br />

betrachtet, dass in <strong>de</strong>r C Hs. das Wort wir nicht aufgeschrieben hat. Alle Auflagen <strong>de</strong>s<br />

MF. edieren diesen Vers mit wir und nur in <strong>de</strong>m Apparat <strong>de</strong>r 38.Auflage <strong>de</strong>s MF. wird<br />

dieser Fall belegt. KASTEN entschei<strong>de</strong>t sich in ihrer Ausgabe für das Wort wir, obwohl<br />

sie die C Hs. als Leithandschrift gewählt hat. Also liegt auch für Kasten ein Fehler vor.<br />

Die Interpreten dieses Lie<strong>de</strong>s basieren auf <strong>de</strong>r Edition von MF. Deswegen wird das<br />

Problem ,,ohne wir‘‘ versus ,,mit wir‘‘ überhaupt nicht berücksichtigt. Ich betrachte es<br />

auf je<strong>de</strong>n Falls nicht als einen ´erkennbaren ,,Fehler“´, dass die Hs. C <strong>de</strong>n Satzt ´ich und<br />

ein wip haben gestritten´ ohne wir überliefert hat, <strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Satz bil<strong>de</strong>t eine an<strong>de</strong>re<br />

Frormulierung im Vergleich zu <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Fassungen, die auch<br />

52 vgl: Im Kleinen Mittelhoch<strong>de</strong>utschen Wörterbuch von Beate Henning hat das Wort "wîp" folgen<strong>de</strong><br />

Be<strong>de</strong>utungen: Frau; Ehefrau; Frau von niedrigem Stand; (altes/böses)Weib; (Tier-)Weibchen. Matthias<br />

Lexer konnte diesen Eintragungen noch gemahlin: euphem. kebsweib und Gegensatz zu vrouwe<br />

hinzufügen. In seinem Handwörterbuch ließen sich folgen<strong>de</strong> Ergänzungen fin<strong>de</strong>n: 1. Weib als Gegensatz<br />

zu Mann, "ein wîp heizt einer, <strong>de</strong>r niht zürnen kann" 2. außer<strong>de</strong>m kann wîp auch ‚Tierweibchen'<br />

be<strong>de</strong>uten. 3. ein wîp ist eine verheiratete Frau, eine Gemahlin und stellt somit das Gegenteil von Jungfrau<br />

o<strong>de</strong>r vrouwe dar, was herrin o<strong>de</strong>r dame be<strong>de</strong>utet. Im Werk von Benecke, Müller und Zarncke lassen sich<br />

die differenziertesten Einträge zu "wîp" fin<strong>de</strong>n: 1. eine Person wiblichen Geschlechts, ohne Rücksicht auf<br />

Vornehmern o<strong>de</strong>r Geren, verheirateten o<strong>de</strong>r unverheirateten stand: Weib im Gegensatze zu <strong>de</strong>m manne.<br />

2. Gegensatz zu vrouwe: von einem geringeren Stan<strong>de</strong>, o<strong>de</strong>r wîp wie<strong>de</strong>r in allgemeinerer Be<strong>de</strong>utng, so<br />

dass die vrouwen mit darunter begriffen sind. 3. Gegensatz zu Maget (Jungfrau). 4. Ehefrau, Gattin.<br />

53 vgl. EHRISMANN. Ehre und Mut Âventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus <strong>de</strong>m Mittelalter.<br />

1995: 231<br />

54 vgl. Mathias Lexer : frau o<strong>de</strong>r jungfrau von stan<strong>de</strong>, dame gegens. zu wip;gemahlin; weib im gegens. zu<br />

jungfrau.<br />

40


grammatikalisch nicht falsch sind. Trotz<strong>de</strong>m kann man aber ohne das Wort wir nur<br />

schwer sagen, wie die Beziehungsverhältnisse zwischen <strong>de</strong>m Ich-Srechen und <strong>de</strong>m wip<br />

ist. Dagegen hebt <strong>de</strong>r Ich-Sprecher in <strong>de</strong>n Fss A und B das Wort wir auf und will damit<br />

zeigen, dass es sich hierbei um eine in sich geschlossene Beziehung, vielleicht die eines<br />

Liebespaares, han<strong>de</strong>lt. Von daher wür<strong>de</strong> ich diese Stelle als sinntragen<strong>de</strong> Textvarianz<br />

zuordnen, weil sie doch eine semantische Be<strong>de</strong>utung aufweist. 55<br />

Die Wortstellung <strong>de</strong>s dritten Verses <strong>de</strong>r Fassungen A, B und C unterschei<strong>de</strong>n sich.<br />

In <strong>de</strong>r Fs. A wird das Wort lei<strong>de</strong>s vor <strong>de</strong>m Nomen zorn geschrieben und in Fss. B und C<br />

wird es danach geschrieben:<br />

Fs. A: ich han lei<strong>de</strong>s von ir zorne vil erlitten,<br />

Fs. B: ich han von ir zorne lai<strong>de</strong>s vil erlitten,<br />

Fs. C: ich han von ir zorne vil leites erlitten<br />

In <strong>de</strong>n früheren Ausgaben <strong>de</strong>s MF. wird diese Versstelle durch HAUPT und VOGT ganz<br />

unformuliert, in<strong>de</strong>m sie das Wort lei<strong>de</strong>s durschstreichen: ich han von ir zorne vil<br />

erlitten (MF.1870). Nach CARL (1935) wirkt diese Än<strong>de</strong>rung unbefriedigend: vil<br />

erli<strong>de</strong>n wirkt leer, da man im Mhd. ja Angenehmes (er)li<strong>de</strong>n kann (S.223). Von daher<br />

sollte man nach CARL die Umformulierung von SCHÖNBACH edieren: Statt lei<strong>de</strong>s<br />

(ABC) zu streichen, stellt man daher besser mit SCHÖNBACH vil um: ich han vil lei<strong>de</strong>s<br />

von ir zorne erliten (ebd). Bis zur 38. Auflage <strong>de</strong>s MF. wur<strong>de</strong> diese Versstelle nach<br />

SCHÖNBACHs Umformulierung ediert. Die 38. Auflage gibt dagegen zwei<br />

unterschiedliche Versionen dieser Verstelle, nämlich die Versionen nach A und B, weil<br />

diese Edition <strong>de</strong>m Leithandschriftsprinzip verpflichtet ist. KASTEN ediert diese Stelle<br />

nach <strong>de</strong>r B Handschrift; sie gibt aber keine Hinweise darauf, warum sie diese Stelle<br />

nach Handschrift B ediert. Die drei handschriftlichen Fassungen übermitteln in<strong>de</strong>s drei<br />

unterschiedliche Aussagen dieser Versstelle, die auch keinen grammatikalischen Fehler<br />

aufweisen. In Fs. A steht das Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Ich-Sprechers im Mittelpunkt <strong>de</strong>s Verses,<br />

in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Ich-Sprecher seine Trauer, durch die er viel lei<strong>de</strong>n müsse, stärker ausdrücken<br />

möchte. Dagegen liegt in <strong>de</strong>r B Handschrift <strong>de</strong>r Zorn <strong>de</strong>r Frau, unter <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Ichsprecher<br />

lei<strong>de</strong>t, im Mittelpunkt. In <strong>de</strong>r C Handschrift aber stehen das Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Ich-<br />

Sprechers sowie <strong>de</strong>r Zorn <strong>de</strong>r Frau im Mittelpunkt dieser Versstelle. Somit ergibt sich<br />

auch hier eine sinntragen<strong>de</strong> Varianz.<br />

Der zweite Teil umfasst meines Erachtens <strong>de</strong>n vierten bis zum achten Vers <strong>de</strong>r<br />

Strophe, weil die Handlung nach <strong>de</strong>r vergangenen Einführung, also ab <strong>de</strong>m vierten<br />

55 vgl. Im 2.Kapitel <strong>de</strong>r Arbeit wird die Kategorisierung <strong>de</strong>r Textvarianz ausführlicher dargestellt. Diesen<br />

Fall nennt man Wortauslassungen bzw.-zufügungen (mit semantischer Relevanz): s.18<br />

41


Vers, in allen drei Fassungen in <strong>de</strong>r Gegenwartsform erscheint, und es wird zwar<br />

dargestellt, wie <strong>de</strong>r Ich-Sprecher mit einer klagen<strong>de</strong>n Aussage spricht, dass die Frau<br />

immer noch am Streiten ist:<br />

Fs.A: noch hel<strong>de</strong>t si <strong>de</strong>n strit. Fs.B:noch haltet si <strong>de</strong>n strit, Fs.C:noch haltet si <strong>de</strong>n strit,<br />

In <strong>de</strong>r zweiten Stolle wird es dann <strong>de</strong>utlich, worin jener ´strit´ besteht: Die Abfahrt <strong>de</strong>s<br />

Mannes scheint, für die Frau eine Gefahrt darzustellen. Die Frau meint ja, dass sie<br />

dadurch vom Mann verlassen wer<strong>de</strong>:<br />

Fs.A:<br />

nu wenet si, dur daz ich var,<br />

daz ich si laze vri.<br />

Fs.B: si wenet <strong>de</strong>s, dvrch das ich<br />

var, daz ich si laze vri.<br />

Fs.C: si wenet <strong>de</strong>s dvr das ich var,<br />

daz ich si laze vri.<br />

Mit <strong>de</strong>m mhd. Wort nu, das in <strong>de</strong>r Fs.A steht und nicht in <strong>de</strong>n Fss.B und C, wird in <strong>de</strong>n<br />

Editionen unterschiedlicherweise umgegangen. Manche Editoren bewahren das Wort,<br />

an<strong>de</strong>re nicht, ohne jedoch keinen Verweis darauf zu geben, warum das Wort ediert<br />

wur<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r nicht. So wur<strong>de</strong> z.B. in <strong>de</strong>r früheren Ausgabe <strong>de</strong>s MF. diese Stelle mit nu<br />

ediert. Die Interpreten, die auf <strong>de</strong>r früheren Ausgabe <strong>de</strong>s MF. basieren, geben für diese<br />

Versstelle unterschiedliche Interpretationen. BERGMANN (1963) z.B. akzentuiert nicht<br />

das Wort nu. Er problematisiert statt<strong>de</strong>ssen eher das Wort wenet: die Frau ´waenet´, <strong>de</strong>r<br />

Ritter könnte während <strong>de</strong>r Kreuzfahrt seine Liebe zu ihr aufgeben (S.74). HÖLZLE<br />

(1980) und THEISS (1974) dagegen akzentuieren das Wort nu und halten es für<br />

be<strong>de</strong>utend. Nach THEISS (1974) lenkt die zweite Stolle mit ´nu´ auf <strong>de</strong>n gegenwärtigen<br />

Zeitpunkt: ´nu´ <strong>de</strong>ute durch seinen aktualisieren<strong>de</strong>n Sinn auf <strong>de</strong>n Neueinsatz einer<br />

Handlung (S.79). Nach HÖLZLE (1980): nu übernimmt hier jetzt aber quasi als Antwort<br />

auf die Klage <strong>de</strong>r Dame (S.226). In <strong>de</strong>r 38. Auflage <strong>de</strong>s MF. wird dieser Versstelle<br />

einmal mit nu, wie in <strong>de</strong>r Hs.A und einmal ohne, wie in <strong>de</strong>r Hs.B ediert, ohne aber im<br />

Apparat etwas darüber zu sagen. Das gleiche ist auch bei <strong>de</strong>r Ausgabe von KASTEN zu<br />

fin<strong>de</strong>n, sie ediert diesen Vers ohne nu, gibt aber auch keine Hinweise, dass dieser Vers<br />

in <strong>de</strong>r Hs.A mit nu überliefert wur<strong>de</strong>. Meiner Meinung nach ergibt sich aus bei<strong>de</strong>n<br />

Fällen (mit nu, ohne nu) ein Sinn. So hat z.B. die Frau, die in <strong>de</strong>r Fs.A immer noch am<br />

Streiten ist (noch haltet si <strong>de</strong>n strit), eine direkte Verbindung mit <strong>de</strong>n ersten drei<br />

Versen, hat also nicht mit <strong>de</strong>m nächsten Vers zu tun. D.h, <strong>de</strong>r vierte Vers (noch haltet si<br />

<strong>de</strong>n strit) ist eher <strong>de</strong>r Hinweis eines lang dauern<strong>de</strong>n Streites, unter <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Ich-Sprecher<br />

lei<strong>de</strong>t. Darum habe ich nach <strong>de</strong>m vierten Vers ´noch haltet si <strong>de</strong>n strit´ einen Punkt<br />

gesetzt, weil <strong>de</strong>r nächste Vers mit nu anfängt. Nach meinem Erachten be<strong>de</strong>utet das mhd.<br />

Wort ´nu´ wie das nhd. Wort ´nun´, dass eine bestimmte Vergangenheit abgehoben und<br />

danach <strong>de</strong>r gegenwärtige Zeitpunkt ausgedrückt wird. Also: die Frau in <strong>de</strong>r Fs. A meint<br />

42


nun, dass <strong>de</strong>r Mann sie verlassen wird, weil er fährt. Hierbei wird mit <strong>de</strong>m Wort nu<br />

nicht <strong>de</strong>r Streit, son<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r Zweifel <strong>de</strong>r Frau schärfer ausgedrückt. Ohne das Wort nu<br />

in <strong>de</strong>n Fss. B und C ist diese Versstelle auch verständlich, aber eben eine an<strong>de</strong>re<br />

Aussage im Vergleich zur Fs. A. Ich habe statt ein Punkt nach <strong>de</strong>m vierten Vers zu<br />

setzten, ein komma gesetzt, mit <strong>de</strong>m ich eine Verbindung zum nächsten Vers si wenet<br />

… herstellen möchte. Hier, in <strong>de</strong>n Fss. B und C, ist die Frau immer noch mit ihrem<br />

Mann im Streit. Also ohne das Wort nu ist es so zu verstehen, dass die Protagonisten<br />

immer noch im Streit befindlich sind und die Aufhetzung <strong>de</strong>r Frau im Mittelpunkt zeigt.<br />

Unterschie<strong>de</strong>:<br />

Die Aussage <strong>de</strong>s nächsten Verses in <strong>de</strong>n drei Hss. zeigt auch semantische<br />

Fs.A:<br />

got vor <strong>de</strong>r helle niemer mich<br />

bewar,<br />

obe daz min wille si<br />

Fs.B:<br />

got vor <strong>de</strong>r helle niemer mich<br />

bewar,<br />

obe daz min wille si<br />

Fs.C:<br />

got vor <strong>de</strong>r helle niemer mich<br />

bewar,<br />

ob daz min wille si?<br />

Obwohl das mhd. Wort obe und ob hier in <strong>de</strong>n Handschriften unterschiedlich dargestellt<br />

wird, geht die frühere Forschung davon aus, dass es zwischen bei<strong>de</strong>n Wörtern keinen<br />

Unterschied gibt. Die meisten Editionen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s haben <strong>de</strong>swegen das Wort ob ediert<br />

und das obe ignoriert. Bei<strong>de</strong> Wörter sind eine Konjunktion, die man ins Nhd. mit<br />

‚wenn‘, ‚als‘, ‚wie wenn‘ o<strong>de</strong>r mit ‚vielleicht‘ übersetzen kann. Die 38. Auflage <strong>de</strong>r<br />

LEXER Wörterbuch zeigt, dass es zwischen <strong>de</strong>n Wörtern einen kleinen Unterschied<br />

geben kann: waz obe (wie wenn) und ob (in abhäng. Zweifelsfrage, kann auch<br />

fortfallen) (vgl. LEXER, S.154). Das heißt, einerseits kann das Wort als irrealer<br />

Vergleich (als ob) und an<strong>de</strong>rerseits als Zweifelfrage (ob?) übersetzt wer<strong>de</strong>n. Die<br />

38.Auflage <strong>de</strong>s MF. ediert das Wort obe wie nach Hss. A und B und es wird im Apparat<br />

gezeigt, dass es in Hs. C als ob zu fin<strong>de</strong>n ist. Ich sehe zwischen <strong>de</strong>n Wörtern obe und<br />

ob einen Unterschied, <strong>de</strong>r die Aussage dieser Stelle differieren lassen könnte. In <strong>de</strong>n<br />

Hss. A und B erklärt sich <strong>de</strong>r Ich-Sprecher unschuldig. Er ta<strong>de</strong>lt die Frau wegen ihres<br />

falschen Gedankens, in <strong>de</strong>m er erwi<strong>de</strong>rt, dass ihn Gott vor <strong>de</strong>r Hölle nicht retten sollte,<br />

obe, also, wenn es seine Absicht wäre, sie zu verlassen. Hier verteidigt sich <strong>de</strong>r Ich-<br />

Sprecher und antwortet seiner Frau, dass er nicht <strong>de</strong>r Schuldige ist. In <strong>de</strong>r Hs. C aber<br />

spricht <strong>de</strong>r Ich-Sprecher für sich selbst und stellt zweifelend die Frage, ob das seine<br />

Absicht sei, seine Frau zu verlassen. Diese Geschehnisse wecken Zweifel im Kopf <strong>de</strong>s<br />

indirekt angesprochenen Publikums, weil <strong>de</strong>r Mann nicht sagt, wohin und warum er<br />

geht. So kann man nicht auf <strong>de</strong>m ersten Blick sofort verstehen, dass er vor einem<br />

Kreuzzug steht, wie die Forschung diese Stelle <strong>de</strong>utet. BERGMANN interpretiert z.B.<br />

43


diese Stelle als Kreuzzugsaufbruch <strong>de</strong>s Dichters, <strong>de</strong>r das Seelenheil am wichtigsten<br />

fin<strong>de</strong>t: Gegen <strong>de</strong>n Verdacht <strong>de</strong>r Frau setzt <strong>de</strong>r Kreuzritter sein höchstes Gut, das<br />

Seelenheil (BERGMANN: 1963, S. 74). Seiner Meinung nach habe <strong>de</strong>r Ritter auf die<br />

gleiche Weise im Kreuzlied II 87,10 sein Seelenheil für die Treue bis in <strong>de</strong>n Tod<br />

verpfän<strong>de</strong>t. Nach THEISS hält <strong>de</strong>r Dichter jedoch an seiner irdischen Minne fest, <strong>de</strong>r mit<br />

seiner Kreuznahme seiner Pflicht Gott gegenüber nachkommt (THEISS: 1974, S.79).<br />

Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Kreuzzugsannahme in diesem Lied möchte ich beiseite lassen, weil ich es<br />

nicht historisieren möchte, und auch weil <strong>de</strong>r Text davon nichts sagt.<br />

Der dritte Teil dieser Strophe bezieht sich auf die Verse 9 bis 11. Mit <strong>de</strong>n Versen<br />

9 und 10 bereitet <strong>de</strong>r Ich-Sprecher eine Absage vor. An dieser Stelle <strong>de</strong>r Strophe<br />

kommen zwischen <strong>de</strong>n Fss. A und Fss. B, C merkwürdige Wortvarianten vor:<br />

Fs.A:<br />

Swie vil daz mer und och die<br />

starchen un<strong>de</strong> toben<br />

ich enwil si niemer tac verloben<br />

Fs.B:<br />

Swie sere das mer und ouch die<br />

starken un<strong>de</strong> toben<br />

Ich wil si niemer da verloben<br />

Fs.c:<br />

Swie sere das mer und ouch die<br />

starken un<strong>de</strong> toben<br />

Ich wil si niemer da verloben<br />

Der Konjunktiv in <strong>de</strong>m Vers Swie legt die Erwartung nahe, als erwäge das lyrische Ich<br />

und zeige, dass er seine Frau nicht aufgeben wür<strong>de</strong>, egal swie viel o<strong>de</strong>r swie sere das<br />

Meer und die starken Wellen tobten. In <strong>de</strong>n früheren Ausgabe von MF. wird diese Stelle<br />

mit swie vil ediert und es wird gar nichts ange<strong>de</strong>utet, dass es in Hss. B und C als swie<br />

sere zu fin<strong>de</strong>n ist. Die Interpreten, die diese Ausgabe benützten, wussten vielleicht von<br />

daher auch nicht, dass es in an<strong>de</strong>ren Hss. das Wort sere gibt. Erst mit <strong>de</strong>r 38. Auflage<br />

<strong>de</strong>s MF. wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>m von Editionen abhängigen Publikum bekannt, dass es eine an<strong>de</strong>re<br />

Formulierung dieser Versstelle gibt. Die mhd. Wörter vil und sere sind zwei<br />

unterschiedliche Adverbien, <strong>de</strong>ren unterschiedliche Funktionen auch in diesem Lied<br />

ersichtlich sind. Wenn <strong>de</strong>r Ich-Sprecher in <strong>de</strong>r Fs.A von einem viel toben<strong>de</strong>n Meer<br />

spricht, meint er damit die Fülle und die Menge <strong>de</strong>s Meeres, die auch mit <strong>de</strong>r zeitlichen<br />

Frequenz, also mit <strong>de</strong>r Häufigkeit verstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n können. Der Vers „ich enwil si<br />

niemer tac verloben“ ist von daher eine Anspielung auf vil toben<strong>de</strong> Meer und beweist,<br />

dass <strong>de</strong>r Ich-Sprecher keinen einzigen Tag aufhören wür<strong>de</strong>, seine Frau zu lieben, egal<br />

wie oft und wie viel das Meer und die starken Wellen tobten. Dagegen, in <strong>de</strong>n Hss. B<br />

und C meint <strong>de</strong>r Ich-Sprecher mit <strong>de</strong>m Wort sere etwas Schmerzhaftes und Gewaltiges.<br />

Denn das mhd. Wort sere be<strong>de</strong>utet im Nhd. schmerzlich, gewaltig und heftig. Obwohl<br />

das schmerzhafte und gewaltige Meer auf <strong>de</strong>n Ich-Sprecher kommen wird, wird er seine<br />

Frau niemals verlassen, wo immer sie sich gera<strong>de</strong> befin<strong>de</strong>t: ich will si nimer da<br />

verloben. Der Vers „ich will si nimer da verloben“, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Hss. B und C steht, wird<br />

von <strong>de</strong>n Interpreten gar nicht berücksichtigt, weil in <strong>de</strong>n früheren Edition von MF. nur<br />

44


<strong>de</strong>r Vers aus <strong>de</strong>r Hs A übernommen wur<strong>de</strong>. Diese Stelle wird in <strong>de</strong>r Forschung mit <strong>de</strong>m<br />

Gedanken <strong>de</strong>s Kreuzzugs zusammengeknüpft: Obwohl er die Gefahren einer Seefahrt<br />

voraus sieht, die auf <strong>de</strong>r bewaffneten Pilgerreise vorkommen könnten, wie z.B. das<br />

aufgewühlte Meer und die auf das Schiff stürzen<strong>de</strong>n Brecher, versichert er die Liebe zu<br />

seiner Frau. 56 Eine solche Interpretation ist durchaus möglich.<br />

Im nächsten Vers bedauert <strong>de</strong>r Ich-Sprecher, dass ihn seine Frau verlassen<br />

könnte. In <strong>de</strong>n handschriftlichen Fassungen wird diese Versstelle in unterschiedlichen<br />

Formen dargestellt, die auch einen großen semantischen Unterschied zeigen können:<br />

Fs.A:<br />

Der slege mochte aber lihte sin<br />

da si mich dur lieze<br />

Fs.B:<br />

Der donrslege mohte aber lihte sin<br />

durch die si mich liesse<br />

Fs.C:<br />

Der dornslege mohte aber lihte sin<br />

durch die si mich liesse<br />

Aus <strong>de</strong>r Hs. A ist es ein<strong>de</strong>utig zu sehen, dass <strong>de</strong>r Schreiber vor <strong>de</strong>m Wort ( ) slege<br />

einen leeren Platz gelassen hat. Darüber kann man nur eine banale Feststellung treffen,<br />

dass <strong>de</strong>r Schreiber vielleicht das genaue Wort vergessen hat, o<strong>de</strong>r dass er absichtlich nur<br />

das Wort slege schreiben wollte. Das mhd. Wort ´slege´ kann im Nhd. mit ´die Art und<br />

Weise´ übersetzt wer<strong>de</strong>n. 57 Diese Übersetzung ist im Fall <strong>de</strong>r Fs. A gut nachvollziehbar,<br />

weil das Wort die Situation <strong>de</strong>r Handlung charakterisiert. Das häufig und viel toben<strong>de</strong><br />

Meer und die starken Wellen, worum es sich im vorherigen Vers <strong>de</strong>r Fs. A han<strong>de</strong>lt, ist<br />

ein metaphorischer Ausdruck, dass als ein Zeichen für <strong>de</strong>n Streit bei<strong>de</strong>r Protagonisten<br />

ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n könnte. Diese Situation wird durch das mhd. Wort slege (Art und<br />

Weise) charakterisiert: <strong>de</strong>r slege mohte aber lihte sin. Wie die Protagonisten streiten,<br />

könnte <strong>de</strong>r Grund sein, aus welchem die Frau ihren Mann verlassen wür<strong>de</strong>: da sie mich<br />

dur lieze. Dagegen könnte aber in <strong>de</strong>n Fss. B und C mit <strong>de</strong>m schrecklich toben<strong>de</strong>n Meer<br />

etwas an<strong>de</strong>rs ange<strong>de</strong>utet sein. Gleich, was Schreckliches passieren könnte, wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />

Mann seine Frau nie verlassen. Daraus resultiert <strong>de</strong>r nächste Satz, dass im Gegensatz<br />

zur Bindung <strong>de</strong>s Mannes, nur ein donrslege für die Frau genug sein könnte, ihren Mann<br />

56 vgl: BERGMANN: Er meint, dass Albrecht zur Beginn <strong>de</strong>s Abgesangs sein Treuversprechen wie<strong>de</strong>rholt<br />

und bedient sich dabei eines sehr lebhaften Bil<strong>de</strong>s. Während er vorher an die Ewigkeit dachte, richtet er<br />

jetzt einen Blick auf die nähere Zukunft. Er sieht die Gefahren einer Seefahrt voraus nämlich das<br />

aufgewühlte Meer, die auf das Schiff stürzen<strong>de</strong>n Brecher. Vgl. HÖLZLE: in<strong>de</strong>m er sie – <strong>de</strong>r Kreuzfahrt<br />

und <strong>de</strong>r auf ihr lauern<strong>de</strong>n Gefahren zum Trotz- seiner Liebe versichert.<br />

57 vgl, DU<strong>DE</strong>N: Schlag (in <strong>de</strong>r Art, im Wesen; im Aussehen jmnd.ähnlich wer<strong>de</strong>n).<br />

45


zu verlassen. In <strong>de</strong>r Fs. B ist das mhd. Wort dornslege zu fin<strong>de</strong>n. Ich sehe hier keinen<br />

ein<strong>de</strong>utigen Fehler <strong>de</strong>s Schreibers, wonach <strong>de</strong>r Schreiber donrslege schreiben wollte<br />

anstatt dornslege. Der Mann <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s kann die schmerzhaften Ereignisse überwin<strong>de</strong>n,<br />

die Frau dagegen wür<strong>de</strong> aber schon einen Dornstich nicht ertragen können und wür<strong>de</strong><br />

ihren Mann verlassen.<br />

Alle Ausgaben <strong>de</strong>s MF. edieren das Wort donreslege. Darüber wird es nicht<br />

ange<strong>de</strong>utet, warum die Editoren die Wörter slege, donrslege und dornslege als<br />

fehlerhaft betrachten und eher donreslege wie<strong>de</strong>rgeben. Weil alle Interpreten auf das<br />

gleiche Wort donreslege hinauslaufen, treten unter ihnen bei dieser Stelle keine<br />

Meinungsunterschie<strong>de</strong> hervor.<br />

Die letzten zwei Verse sind als <strong>de</strong>r vierten Teil dieser Strophe zu verstehen.<br />

Denn <strong>de</strong>r Ich-Sprecher wen<strong>de</strong>t sich an das Publikum und stellt sich als klagen<strong>de</strong>r Sänger<br />

vor, in<strong>de</strong>m er <strong>de</strong>m Publikum verzweifelt eine Frage stellt:<br />

Fs.A:<br />

nu sprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich grueze?<br />

si kumet mir niemer tac zu <strong>de</strong>n gedanken min<br />

Fs.B:<br />

Nu sprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich geniesse?<br />

Si kumet mir niemer tac us <strong>de</strong>m herzen min<br />

Fs.C:<br />

Nu sprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich geniesse?<br />

Si kumet mir niemer tac us <strong>de</strong>m herzen min<br />

Obwohl es in <strong>de</strong>n Hss. zwischen <strong>de</strong>n Wörtern geniesse und grueze o<strong>de</strong>r herz und<br />

gedanke einen wesentlichen Unterschied gibt, hat die frühere Forschung <strong>de</strong>ren<br />

Selbständigkeit nicht ernstgenommen. Die ersten Herausgeber <strong>de</strong>s MF. haben sich für<br />

das mhd. Wort genieze 58 und gedanke entschie<strong>de</strong>n. Das heißt, sie haben diese Verstelle<br />

rekonstruiert: MF. 88, 3-4: nu sprechent wes si wi<strong>de</strong>r mich genieze/si kumet niemer tac<br />

aus <strong>de</strong>n gedanken min. Erst mit <strong>de</strong>r neuen Editionsmetho<strong>de</strong>, also nach <strong>de</strong>n<br />

Leithandschriftenprinzipien, wur<strong>de</strong> es uns ersichtlich, dass diese Stelle eigentlich in <strong>de</strong>n<br />

Hss. an<strong>de</strong>rs präsentiert ist. KASTEN hat zum Beispiel in ihrer Ausgabe die Version von<br />

B und C ediert und die Version von A in Apparat gestellt.<br />

Es gibt in <strong>de</strong>r Forschung seit <strong>de</strong>r neuen Ausgabe von MF. keine Interpretetion <strong>de</strong>s<br />

Lie<strong>de</strong>s. Alle Interpretationen basieren auf <strong>de</strong>r früheren Ausgabe <strong>de</strong>s MF. Die meisten<br />

58 In <strong>de</strong>n Hss. B und C gibt es aber kein genieze, son<strong>de</strong>rn geniesse.<br />

46


Interpreten thematisieren nicht speziell das mhd. Wort genieze, son<strong>de</strong>rn eher das Wort<br />

gedanken min. (BERGMANNs: 1963, S. 76) und (THEISS: 1974, S. 80) gehen z.B. davon<br />

aus, dass <strong>de</strong>r Dichter an <strong>de</strong>r Minne zu seiner Dame festhalten und alle Zeiten an die<br />

daheim Gebliebene <strong>de</strong>nken wird. Sie geben aber sie keine Erklärung davon, was sie<br />

unter genieze verstehen. PRETZEL und SU<strong>DE</strong>RMANN dagegen problematisieren eher das<br />

Wort wi<strong>de</strong>r. Sie meinen, dass wi<strong>de</strong>r mich hier in dieser Stelle ´im Gegensatzt zu mir´<br />

be<strong>de</strong>utet, die man aus <strong>de</strong>m Kontext herauslösen kann (vgl. SU<strong>DE</strong>RMANN: .S.170). Die<br />

bei<strong>de</strong>n Fragen „sagt mir, warum sie gegen (wi<strong>de</strong>r) mich angreift (grueze)? in Fs. A und<br />

„warum sie sich im Vergleich zu mir (wi<strong>de</strong>r) freuen soll (geniesse)?“ in <strong>de</strong>n Fss. B und<br />

C sind die Beschwer<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Mannes. Trotz<strong>de</strong>m beinhalten bei<strong>de</strong> Fragen unterschiedliche<br />

Aussagen. Diese Fragen sind aber nur dann verständlich, wenn man <strong>de</strong>n nächsten Vers<br />

in Verbindung stellt. In <strong>de</strong>r Fs. A bedauert <strong>de</strong>r Ich- Sprecher, dass seine Frau keinen<br />

einzigen Tag aus seinem Gedanken tritt (gedankin min), bestimmt weil sie ihn mit<br />

feindlichen Worten angegriffen hat. Hierbei lei<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Ich-Sprecher vielleicht unter<br />

seiner Frau und er versteht nicht, warum sie mit ihm streitet. In <strong>de</strong>n Fss. B und C drückt<br />

dagegen die Aussage „si kumet mir niemer tac us <strong>de</strong>m herzen min“ etwas Intimeres aus<br />

als die Fs. A. Der Ich-Sprecher klagt hier, obwohl er nichts Besseres als seine Frau hat.<br />

Er <strong>de</strong>nkt immer an sie.<br />

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die erste Strophe <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s in<br />

allen drei Handschriften sinntragen<strong>de</strong> Abweichungen aufzeigt. Die Fs. A unterschei<strong>de</strong>t<br />

sich sehr stark von <strong>de</strong>n Fss. B und C, um aber auch in einigen Stellen <strong>de</strong>r Fs. B sehr<br />

nahzukommen. Zwischen <strong>de</strong>n Fss. B und C sind nicht so große sinntragen<strong>de</strong><br />

Unterschie<strong>de</strong> zu spüren. In <strong>de</strong>r Fs. A wird <strong>de</strong>r Streit <strong>de</strong>r Protagonisten und <strong>de</strong>s dabei<br />

lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Mannes in <strong>de</strong>n Mittelpunkt gerückt, in<strong>de</strong>m immer wie<strong>de</strong>r die Aufhetztung <strong>de</strong>r<br />

Frau problematisiert und das Lei<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Mannes am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Strophe betont wird<br />

Dagegen wird in <strong>de</strong>n Fss. B und C <strong>de</strong>r Zweifel <strong>de</strong>s Mannes an seiner Frau und seine<br />

feste Liebe zu ihr als Hauptproblem dargestellt. Denn <strong>de</strong>r letzte Satz <strong>de</strong>utet daraufhin,<br />

dass <strong>de</strong>r Mann viel an seine Frau <strong>de</strong>nkt, obwohl sie ihn wahrscheinlich schon verlassen<br />

hat und nicht so lei<strong>de</strong>t, wie <strong>de</strong>r Mann.<br />

Die zweite Strophe:<br />

In <strong>de</strong>r Fs.A wird die zweite Strophe im Vergleich zu an<strong>de</strong>ren Strophen dieser Fassung<br />

metrisch auffallend unterschiedlich dargestellt. Die zweite Strophe <strong>de</strong>r Fss. B und C<br />

befin<strong>de</strong>t sich nicht in <strong>de</strong>r Fs.A. Aus diesem Umstand ergeben sich in <strong>de</strong>r Forschung<br />

47


verschie<strong>de</strong>ne Rekonstruktionen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s: Die zweite Strophe <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ist ein<br />

Problemfeld <strong>de</strong>r Forschung:<br />

Fs.A:<br />

2.Strophe:<br />

Ich minne si vur alliu wip,<br />

alle mine sinne<br />

und och <strong>de</strong>r lip,<br />

daz stet in ir gebot.<br />

ine erwache niemer, ez en si min erste<br />

segen,<br />

daz got ir eren muoze phlegen<br />

und laze ir lip mit lobe hie gesten,<br />

darnach erwecliche.<br />

nu gip ir herre vrei<strong>de</strong> in dime riche,<br />

daz ir gesche also muoze och nur ergen.<br />

Fss.B:<br />

2.Strophe:<br />

Swer minne minnecliche trait<br />

gar ane valschen muot,<br />

das sün<strong>de</strong> wirt vor gotte niht gesait.<br />

si tueret und ist guot.<br />

wan sol mi<strong>de</strong>n boesen krank<br />

und minnen rainiu wip.<br />

tuot ers mit truewen so habe dank<br />

sin tugentlicher lip.<br />

kun<strong>de</strong>n si ze rehte baidiu sich bewarn,<br />

fu̍ r die wil ich ze helle varn.<br />

die aber mit listen wellent sin,<br />

fu̍ r die wil ich niht vallen.<br />

ich maine die da minnent ane gallen,<br />

alsich mit truewen tuon die lieben vrowen<br />

min.<br />

Fs.C:<br />

2.Strophe:<br />

Swer minne minnecliche trait<br />

gar ane valschen muot,<br />

das sün<strong>de</strong> wirt vor gotte niht gesait.<br />

si tueret und ist guot.<br />

wan sol mi<strong>de</strong>n boesen krank<br />

und minnen rainiu wip.<br />

tuot ers mit truewen so habe dank<br />

sin tugentlicher lip.<br />

kun<strong>de</strong>n si ze rehte baidiu sich bewarn,<br />

fu̍ r die wil ich ze helle varn.<br />

die aber mit listen wellent sin,<br />

fu̍ r die wil ich niht vallen.<br />

ich maine die da minnent ane gallen,<br />

alsich mit truewen tuon die lieben vrowen<br />

min.<br />

In diesem Teil möchte ich die zweite Strophe <strong>de</strong>r Fassungen nicht parallel interpretieren<br />

wie bei <strong>de</strong>n ersten und dritten Strophen. Hierbei ist es notwendig die jeweiligen<br />

Interpretationen <strong>de</strong>r Strophen zu geben, weil es hier um zwei unterschiedliche Strophen<br />

han<strong>de</strong>lt:<br />

Die zweite Strophe <strong>de</strong>r Fs. A: Alle Ausgaben <strong>de</strong>s MF. fügen am Anfang dieser<br />

zweiten Strophe <strong>de</strong>r Fs. A vier Versen hinzu, und zwar wer<strong>de</strong>n sie aus <strong>de</strong>r<br />

alleinstehen<strong>de</strong>n Strophe in C Handschrift herausgegriffen und rekonstruiert. Die<br />

restlichen Verse wer<strong>de</strong>n ungefähr so gestaltet, wie es hier in <strong>de</strong>r Fs A steht:<br />

MF:88,5-8:<br />

Ob ich si iemer mere gesehe<br />

<strong>de</strong>sn weis ich niht für war<br />

dâ bî geloube mir es swes ich ir jehe<br />

Es gêht von herzen gar<br />

Ich mine si fuer alliu wip…<br />

Mein Ziel in <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit ist es jedoch, das Lied so darzustellen, wie es in<br />

<strong>de</strong>n Handschriften nie<strong>de</strong>rgeschrieben wur<strong>de</strong> und daraus einen Sinn nachzuvollziehen,<br />

wie von <strong>de</strong>r Varianzforschung bevorzugt. Wir wissen nicht, warum <strong>de</strong>r Schreiber <strong>de</strong>n<br />

Anfang dieser Strophe so gestaltet hat, wie es in dieser Handschrift steht:<br />

Fs.A:<br />

Ich minne si vur alliu wip,<br />

alle mine sinne …<br />

Heute kann man hierzu nur vermuten, dass <strong>de</strong>r Schreiber vielleicht aus Platzmangel die<br />

vollständige Strophe nicht geschrieben hat. Das könnte man als einen Fehler <strong>de</strong>r<br />

Überlieferung betrachten o<strong>de</strong>r auch nicht.<br />

Aber <strong>de</strong>r direkte Anfang mit <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e, dass <strong>de</strong>r Mann seine Frau so sehr liebt,<br />

stört eigentlich we<strong>de</strong>r Strophenanordnung <strong>de</strong>r Fassung noch <strong>de</strong>n Inhalt dieser Fassung.<br />

Der Anfang dieser Strophe knüpft an das Stichwort wip <strong>de</strong>r ersten Strophe direkt an. Es<br />

48


geht hier um die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Frau für <strong>de</strong>n Mann. Der erste Vers Ich minne si vur<br />

alliu wip spitzt sich also auf eine Bestätigung zu, dass er nur sie liebt und formuliert <strong>de</strong>n<br />

nächsten Vers mit eine Verstärkung: alle mine sinne und och <strong>de</strong>r lip. Er liebt sie von<br />

ganzem Herzen und für ihn be<strong>de</strong>utet sie alles, weil sie ein Potenzial innehat, das mit<br />

einer Anziehungskraft verglichen wer<strong>de</strong>n könnte: daz stet in ir gebot. Aus diesen<br />

Versen erfahren wir, dass die Liebe allein von <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>s Mannes kommt. Auch in<br />

<strong>de</strong>r ersten Strophe wird gesagt, dass <strong>de</strong>r Mann sie nie verlassen wür<strong>de</strong>, während sie ihn<br />

verlassen könnte. Dieser Fall ist das kanonische Muster <strong>de</strong>r Hoheminne, <strong>de</strong>m zufolge<br />

die Liebe von einer Seite kommt und sie keine gegenseitig ist.<br />

Der Abgesang öffnet ein an<strong>de</strong>res Verhalten <strong>de</strong>s Ich-Sprechers:<br />

Fs.A:<br />

ine erwache niemer, ez en si min erste segen,<br />

daz got ir eren muoze phlegen<br />

und laze ir lip mit lobe hie gesten,<br />

darnach erwecliche.<br />

Wenn er morgens aufsteht, betet er als erstes für seine Frau und wünscht ihr, dass Gott<br />

um ihre Ehre und ihren Leib hier auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> sorgen solle. Und das soll in Ewigkeit<br />

geschehen. Diese Versstelle wird in <strong>de</strong>r Forschung als Abschiedsgebet <strong>de</strong>s Ritters für<br />

die Dame gesehen. Der Dichter stelle vor seiner Ausfahrt zum Kreuzzug die Dame unter<br />

Gottes Schutz. 59 Aber er betet für seine Frau nicht nur bei diesem Augenblick, son<strong>de</strong>rn<br />

seine Gebete sind regelmäßig und er praktiziert sie je<strong>de</strong>n Tag: ine erwache niemer, ez en<br />

si min erste segen. Seine Fürbitte für seine Frau hat einen zweifachen Inhalt. Zum einen<br />

richtet sich sein Gebet auf die gesellschaftlich wohlergehen<strong>de</strong> Frau hier auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>,<br />

also auf ihre ere und lip mit lobe; zum an<strong>de</strong>ren richtet es sich auf die vrei<strong>de</strong> im Gottes<br />

Reich. Im Mittelalter war die Ehrenhaftigkeit <strong>de</strong>r Frau eine zentrale Be<strong>de</strong>utung. Sie ist<br />

die Bezeichnung <strong>de</strong>s Verhaltens einer Frau, die sich durch ihre hohe Moral, ihre<br />

Keuschheit, ihre guten Taten, und ihre Beständigkeit auszeichnen sollte. Der Leib eines<br />

Menschen kann durch Ehre gelobt wer<strong>de</strong>n, aber auch geschädigt. In <strong>de</strong>r ersten Strophe<br />

dieser Fs.A wird die Frau als zornig und unbeständig dargestellt, worüber <strong>de</strong>r Mann<br />

immer nach<strong>de</strong>nkt. Für etwas beten, heißt auch etwas wünschen. Sein Wunsch ist es also<br />

dann, dass seine Frau durch ihren argen Charakter ihre Ehre nicht verlieren möge. Das<br />

Gebet <strong>de</strong>s Ich-Sprechers wird aber erst am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Strophe formuliert:<br />

Fs.A:<br />

59 vgl. BEGRMANN: durch kommen<strong>de</strong> Ungewissheit, für seine vrouwe zu Gott betet. KASTEN: schließlich<br />

ist wie<strong>de</strong>r das Thema mit einer Beteuerung <strong>de</strong>r Liebe und Aufrichtigkeit sowie mit Segenswünschen für<br />

die Frau verbun<strong>de</strong>n.<br />

49


nu gip ir herre vrei<strong>de</strong> in dime riche,<br />

daz ir gesche also muoze och nur ergen.<br />

Die früheren Forscher versuchten nu durch du zu ersetzten, <strong>de</strong>nn sie meinten, wenn man<br />

nu in seiner engeren Be<strong>de</strong>utung als ´jetzt´ verstehen wür<strong>de</strong>, wäre die Stelle allerdings<br />

wi<strong>de</strong>rsinnig, <strong>de</strong>nn es wür<strong>de</strong> in diesem Fall so klingeln, als ob <strong>de</strong>r Ich-Sprecher die<br />

Geliebte als Verstorbene betrachte (vgl.KRAUS, 1981:223). Ich glaube aber, dass das<br />

Wort ´nu´ auch einen Sinn machen könnte. Denn zuerst sorgt <strong>de</strong>r Mann für das irdische<br />

Leben seiner Frau und ´nu´ dann für ihr Leben nach <strong>de</strong>m Tod. Diese Strophe ist eine<br />

Gebetsstrophe und en<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>r typischen Aussage eines Gebets. Es sollte geschehen,<br />

wie es auch geschehen sollte: daz ir gesche also muoze och nur ergen.<br />

In <strong>de</strong>r ersten Strophe <strong>de</strong>r Fs. A waren die bei<strong>de</strong>n Protagonisten in <strong>de</strong>r Handlung<br />

aktiv. Aber in dieser Strophe ist <strong>de</strong>r Mann allein in <strong>de</strong>r Handlung aktiv, obwohl die<br />

Re<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r Frau ist. Bei<strong>de</strong> Strophen unterschei<strong>de</strong>n sich also formlich und inhaltlich.<br />

Aber es gibt trotz<strong>de</strong>m eine inhaltliche Verbindung zwischen <strong>de</strong>r ersten und dieser<br />

zweiten Strophe. In <strong>de</strong>r ersten Strophe haben sich die Protagonisten wegen eines<br />

Streites voneinan<strong>de</strong>r getrennt und <strong>de</strong>r Mann kann nur an sie <strong>de</strong>nken. Hier in <strong>de</strong>r zweiten<br />

Strophe kann er sie dann im Gebet segnen.<br />

Die zweite Strophe <strong>de</strong>r Fss. B und C: Außer SU<strong>DE</strong>RMANN hat die frühere Forschung<br />

diese Strophe als vierte Strophe <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s verstan<strong>de</strong>n. SU<strong>DE</strong>RMANN versteht sie als die<br />

erste Strophe <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s. Denn er stellt eine Verbindung zu an<strong>de</strong>ren zwei Lie<strong>de</strong>rn von<br />

Johansdorf her und meint, dass diese Lie<strong>de</strong>r nach gleichem Schema behan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n<br />

könnten. Nach SU<strong>DE</strong>RMANN sollte dieses Lied mit dieser Strophe anfangen, weil <strong>de</strong>ren<br />

Ausdruck <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren zwei Lie<strong>de</strong>rn von Johansdorf sehr nah komme. Seit <strong>de</strong>r neuen<br />

Ausgabe <strong>de</strong>s Minnesangs Frühling aber wird diese Strophe als zweite Strophe <strong>de</strong>s<br />

Lie<strong>de</strong>s betrachtet, weil es tatsächlich in <strong>de</strong>n Hss. B und C als zweite Strophe<br />

geschrieben wur<strong>de</strong>. Zwischen <strong>de</strong>n Fss. B und C sind keine Textabweichungen zu<br />

fin<strong>de</strong>n. Nun ist es wichtig zu untersuchen, ob die Reihenfolge dieser Strophe zu <strong>de</strong>r<br />

ersten und letzten Strophe inhaltlich passt.<br />

Nach <strong>de</strong>r Trennung <strong>de</strong>r Lieben<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r ersten Strophe <strong>de</strong>r B- und C- Fassung<br />

stellt man sich die Frage, was danach mit <strong>de</strong>n Portagonisten passieren wür<strong>de</strong>. Doch<br />

beginnt die zweite Strophe mit <strong>de</strong>m Ausdruck swer, <strong>de</strong>r sich auf keine bestimmte<br />

Person bezieht. Der Sprecher eröffnet <strong>de</strong>n ersten Vers mit einer allgemeinen Erklärung<br />

<strong>de</strong>r minne:<br />

Fs.B:<br />

Swer minne minnecliche trait<br />

50


gar ane valschen muot<br />

swer minne minekliche treit<br />

das sün<strong>de</strong> wirt vor gotte niht gesait<br />

gar ane valschen muot<br />

si tueret und ist guot<br />

das sün<strong>de</strong> wirt vor gotte niht geseit<br />

si tueret und ist guot<br />

Fs.C:<br />

Die erste Stolle beschreibt die Minne aphoristisch. Und zwar geht es hier um die<br />

Verhältnisse zwischen Liebe ohne Falschheit und <strong>de</strong>rer Qualität vor Gott. Minne kann<br />

nur Bestand haben, wo Aufrichtigkeit und rückhaltlose, einfältig lieben<strong>de</strong> Zuneigung<br />

herrschen (gar ane valschen muot).<br />

In <strong>de</strong>r zweiten Stolle tritt ein weiterer Aspekt <strong>de</strong>r minne auf, <strong>de</strong>r sich als eine<br />

moralische Ermahnung erweist:<br />

Fs.B:<br />

man sol mi<strong>de</strong>n boesen krank<br />

und minnen rainiu wip<br />

tuot ers mit truewen so habe dank<br />

sin tugentlicher lip<br />

Fs.C:<br />

man sol mi<strong>de</strong>n boesen krank<br />

und minnen reiniu wip<br />

tuot ers mit truewen so habe dank<br />

sin tugentlicher lip<br />

´boesen krank mi<strong>de</strong>n´ ist Ausdruck <strong>de</strong>r Kehrseite von ´minne minnecliche tragen´ und<br />

´mit truiwen´ und kommt als das Äquivalent zu ´ane valschen muot´ vor. Ab <strong>de</strong>r<br />

zweiten Stolle wird es <strong>de</strong>utlich, auf wen sich das Wort swer bezieht, und zwar auf einen<br />

Mann und eine Frau. Eine reiniu wip ist das Objekt einer i<strong>de</strong>alen Minne, <strong>de</strong>nn eine<br />

solche Frau vereint sowohl die innere als auch die äußere Perfektion. Das Fundament<br />

einer sün<strong>de</strong>nlosen Liebe ist triuwe, die als seelische Qualität <strong>de</strong>s Mannes zu for<strong>de</strong>rn ist.<br />

Dann kann <strong>de</strong>r Mann mit Recht als tugentlicher lip bezeichnet wer<strong>de</strong>n. Die erste Stolle<br />

beschreibt <strong>de</strong>n Prozess <strong>de</strong>r moralischen Verbesserung <strong>de</strong>r Minne und die zweite Stolle<br />

ist <strong>de</strong>ssen Ergebnis.<br />

Der Abgesang gibt das Thema Minne wie<strong>de</strong>r. Während <strong>de</strong>r Erzähler in <strong>de</strong>m<br />

Aufgesang zur allgemein gelten<strong>de</strong>n Minne mahnt, spiegelt <strong>de</strong>r Abgesang die<br />

persönlichen Reaktionen eines Ichs: ich will…, ich will niht…, ich meine…. :<br />

Fs.B:<br />

kun<strong>de</strong>n si ze rehte baidiu sich bewarn,<br />

fu̍ r die wil ich ze helle varn.<br />

die aber mit listen wellent sin,<br />

fu̍ r die wil ich niht vallen.<br />

ich maine die da minnent ane gallen,<br />

als ich mit truewen tuon die lieben vrowen<br />

min.<br />

Fs.C:<br />

kun<strong>de</strong>n si ze rehte beidiu sich bewarn,<br />

fu̍ r die wil ich ze helle varn.<br />

die aber mit listen wellent sin,<br />

fu̍ r die wil ich niht vallen.<br />

ich maine die da minnent ane gallen,<br />

als ich mit truewen tuon die lieben vrowen<br />

Der erste Vers <strong>de</strong>s Abgesangs thematisiert eine vorbildliche Beziehung, die eine<br />

gegenseitige Anstrengung sein sollte. Die Minne-Partner müssen ze rehte beidiu sich<br />

bewarn. Die Ich-Rolle meint damit, dass die Minne nicht einseitig sein, son<strong>de</strong>rn eher<br />

min.<br />

51


zweiseitig bzw. gegenseitig zum Ausdruck kommen sollte. Deswegen ist er bereit von<br />

seiner Seite ze helle vallen. Wenn aber eine Minne ohne staete o<strong>de</strong>r triuwe mit valschen<br />

listen ausgeübt wird, dann geht er nicht ze helle. Durch diese lyrische<br />

Wortwie<strong>de</strong>rholung stellt <strong>de</strong>r Ich-Sprecher einen Kontrast zwischen einer richtigen und<br />

einer falschen Minne her. Eine richtige Liebe kommt nicht von einer Seite und soll auch<br />

keine Untreue von <strong>de</strong>n Lieben<strong>de</strong>n zeigen. Der letzte Vers drückt eigentlich <strong>de</strong>n<br />

Hauptsinn dieser Strophe aus. Zuerst gibt <strong>de</strong>r Ich-Sprecher einen kleinen Ausblick über<br />

die richtige Minne und dann stellt er einen Vergleich zwischen sich selbst und seiner<br />

Erklärung über die Minne:<br />

Fs.B:<br />

Als ich mit truewen tuon die lieben vrowen min.<br />

Fs.C:<br />

Als ich mit truewen tuon die lieben vrowen min.<br />

Es gab verschie<strong>de</strong>ne Meinungen in <strong>de</strong>r früheren Forschung über die<br />

Zusammengehörigkeit dieser Strophe mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren. BERGMANN und THEISS gehen<br />

davon aus, dass diese oben erwähnte Strophe ein<strong>de</strong>utig die vierte Strophe sei, <strong>de</strong>nn sie<br />

sei durch Reimresponsion an Strophe III gebun<strong>de</strong>n:<br />

Der erste Stollen knüpft <strong>de</strong>utlich an die Schlussgruppe <strong>de</strong>r dritten Strophe an:<br />

<strong>de</strong>m Reim <strong>de</strong>r umschließen<strong>de</strong>n Verse: guot-tout entspricht jetzt <strong>de</strong>r b reim ´moutguot´;<br />

´ane valschen spielt auf ´valschen raete´an, wobei bei<strong>de</strong> Male ´valsch´ an<br />

vorletzter Stelle <strong>de</strong>s Verses steht. (BERGMANN, 1963:81)<br />

Durch einen Vergleich <strong>de</strong>s Inhalts <strong>de</strong>r Lie<strong>de</strong>r I mîn ērste liebe <strong>de</strong>r ich ie began und II<br />

mich mac <strong>de</strong>r tôt von ir minnen wol schei<strong>de</strong>n von Albrecht von Johansdorf hat<br />

SU<strong>DE</strong>RMANN diese letzte Strophe als die erste <strong>de</strong>s ganzen Lie<strong>de</strong>s verstan<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>nn die<br />

Strophenabfolge <strong>de</strong>r Lie<strong>de</strong>r I und II könnte ein Muster für das Lied ´ich und ein wip wir<br />

haben gestritten´ sein. So beinhalten z.B. die bei<strong>de</strong>n ersten Strophen <strong>de</strong>r Lie<strong>de</strong>r I und II<br />

kategorische Aussagen über allgemeingültige Minne, die auch ein Thema dieser zweiten<br />

Strophe ist. KRAUS und INGEBRANDT meinen aber, dass diese Strophe inhaltlich nicht<br />

zu <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Strophen passt und gehen <strong>de</strong>shalb davon aus, dass diese eine allein<br />

stehen<strong>de</strong> Strophe, also ein Lied sein könnte.<br />

Ich sehe aber einen Zusammenhang zwischen <strong>de</strong>n ersten und <strong>de</strong>n zweiten<br />

Strophen <strong>de</strong>r B und C Fassungen. Der Zusammenhang besteht darin, dass die Treue <strong>de</strong>s<br />

Mannes seiner Frau gegenüber in bei<strong>de</strong>n Strophen fester ist. In <strong>de</strong>r ersten Strophe wird<br />

geschil<strong>de</strong>rt, dass die Lieben<strong>de</strong>n sich trennen. Wir haben aber auch erfahren, dass die<br />

Treue allein von <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>s Mannes kommt: Egal, was auch geschehen mag, wird er<br />

seine Frau niemals aufgeben. Deswegen ist die zweite Strophe eine Anspielung auf die<br />

erste Strophe. Es gibt auch eine Verknüpfung zu <strong>de</strong>n ersten Strophen <strong>de</strong>r Fs.B und C,<br />

52


die durch <strong>de</strong>n Parallelismus <strong>de</strong>r Schlussworte ´´herzen min´´ und ´´vrouwen min´´ an<br />

erste Strophe gebun<strong>de</strong>n ist.<br />

Die dritte Strophe:<br />

Es gibt in <strong>de</strong>r Forschung unterschiedliche Meinungen über die dritte Strophe <strong>de</strong>r Fss. A,<br />

B und C. Die dritte Strophe zeigt auch auffallen<strong>de</strong> Abweichungen in <strong>de</strong>n<br />

handschriftlichen Fassungen:<br />

Fs.A:<br />

3.Strophe<br />

Swie verre ich var, so iamert mich,<br />

wiez noch hie geste.<br />

ich weiz wol, er verkeret alles sich.<br />

diu sorge tuot mir we.<br />

die ich hie laze wol gesunt,<br />

<strong>de</strong>r envind ich lei<strong>de</strong>r niht.<br />

<strong>de</strong>r leben sol, <strong>de</strong>m wirt menic wun<strong>de</strong>r<br />

kunt,<br />

daz alle tage geschiht.<br />

wir haben in eine iare <strong>de</strong>r liute vil<br />

verloren.<br />

da bi so merkett gotes zorn,<br />

und erkenne sich ein ieglichez herze guot.<br />

die werlt ist unstete.<br />

ich meine die da minnent valsche rete<br />

<strong>de</strong>n wirt ze iungst schin wiez an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong><br />

tut<br />

Fs.B:<br />

3.Strophe<br />

Swie gerne ich var, doch iamert mich<br />

wie es nu hie geste.<br />

ich wais wol, es verkeret alles sich.<br />

die sorge tuot mir we.<br />

die ich hie lasse wol gesunt,<br />

<strong>de</strong>r vin<strong>de</strong> ich aller niht.<br />

swer leben sol, <strong>de</strong>m wirt manig wun<strong>de</strong>r<br />

kunt,<br />

das alle tage geschiht.<br />

wir haben in ainem iare <strong>de</strong>r liute vil<br />

verlorn.<br />

an <strong>de</strong>n man siht <strong>de</strong>n gotes zorn.<br />

nu erkene sich ain ieglich herze guot.<br />

diu welt ist niemen stete<br />

und wil doch das man minne ir valschen<br />

rete<br />

nu siht man wol ir lon wie si an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong><br />

tuot.<br />

Fs.C:<br />

3.Strophe<br />

Swie gerne ich var, doch iamert mich<br />

wie es nu hie geste.<br />

ich weis wol, es verkeret alles sich.<br />

die sorge tuot mir we.<br />

die ich hie lasse wol gesunt,<br />

<strong>de</strong>r vin<strong>de</strong> ich aller niht.<br />

swer leben sol, <strong>de</strong>m wirt manig wun<strong>de</strong>r<br />

kunt,<br />

das alle tage geschiht.<br />

wir haben in einem iare <strong>de</strong>r liute vil<br />

verlorn.<br />

an <strong>de</strong>n man siht <strong>de</strong>n gotes zorn.<br />

nu erkene sich ain ieglich herze guot.<br />

diu welt ist niemen stete<br />

und wil doch das man minne ir valschen<br />

rete<br />

nu siht man wol ir lon wie si an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong><br />

tuot.<br />

LACHMANN und viele an<strong>de</strong>re meinen, dass diese Strophe die dritte Strophe <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s<br />

sei. 60 So erhebt Johansdorf in Strophe III z.B. nach THEISS (1974) seine Stimme als<br />

überpersönliche Mahner (S.93). Nach BERGMANN übernimmt <strong>de</strong>r Dichter die<br />

pessimistische Stimmung <strong>de</strong>r zweiten Strophe in <strong>de</strong>r dritten Strophe erneut und heftiger<br />

<strong>de</strong>nn je (S.78). Für KASTEN ist diese Strophe als dritte Strophe <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s zu verstehen,<br />

obwohl es kein direkte Verbindung zur Frau gibt: Nach ihr tritt in <strong>de</strong>r dritten Strophe<br />

die Beziehung zur Frau hinter eine allgemeine Zeitklage über die Unbeständigkeit <strong>de</strong>r<br />

Welt, die ohne Bezug auf das vorangehen<strong>de</strong> Lob <strong>de</strong>r Liebe bleibt (S.687). Für KRAUS<br />

und INGEBRANDT hat diese Strophe überhaupt keine Verbindung zu <strong>de</strong>n ersten bei<strong>de</strong>n<br />

Strophen: Nach KRAUS ist diese Strophe in sich geschlossen und beinhaltet die<br />

traurigen Gedanken <strong>de</strong>s Dichters, die Unbeständigkeit <strong>de</strong>r Welt, also kein einziges<br />

Wort, das auf Liebe hin<strong>de</strong>utet (S.222). INGEBRANDT versteht diese Strophe wie KRAUS<br />

als Einzelstrophe (S.111). SU<strong>DE</strong>RMANN interpretiert diese Strophe als vierte Strophe <strong>de</strong>s<br />

Lie<strong>de</strong>s. Denn er geht davon aus, dass Johansdorf für dieses Lied ich und ein wip, wir<br />

haben gestritten, eine ähnliche Mo<strong>de</strong>l wie die Lie<strong>de</strong>r I und II benutz haben könnte.<br />

60 BERGMANN; THEIS und KASTEN interpretieren diese Strophe als die dritte Strophe <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s.<br />

53


Deswegen sollte ihm zufolge dieses Lied mit einer für allgemein gesprochene Strophe<br />

(diese dritte Strophe) wie die Lie<strong>de</strong>r I und II been<strong>de</strong>t sein (S.161).<br />

Diese Strophe durchbricht die Erzählrahmen eines vergangenen Ereignisses <strong>de</strong>r<br />

ersten und zweiten Strophen <strong>de</strong>r Fassungen und berichtet statt<strong>de</strong>ssen von Auswirkung<br />

auf <strong>de</strong>n Ich-Sprecher in <strong>de</strong>r Gegenwart:<br />

Fs.A:<br />

Swie verre ich var so iamert mich.<br />

Fs.B:<br />

Swie gerne ich var doch iamert mich<br />

Fs.C:<br />

Swie gerne ich var doch iamert mich<br />

Vor <strong>de</strong>r 38.Auflage <strong>de</strong>s MF. wur<strong>de</strong> diese Stelle komplett an<strong>de</strong>rs ediert als in <strong>de</strong>n<br />

Handschriften: MF: Swie gerne ich var, sô jâmert mich. KRAUS meint, dass <strong>de</strong>r Dichter<br />

in <strong>de</strong>n Hss. B und C einen Gegensatz zu jamert gesucht habe, daher wird <strong>de</strong>r Satz swie<br />

gerne ich var geschrieben, und um <strong>de</strong>n Gegensatz recht <strong>de</strong>utlich zu machen, doch statt<br />

sô gestezt (vgl. KRAUS, 1981:223-224). In allen Fss. A B und C bereitet die Fahrt <strong>de</strong>m<br />

Mann ein unangenehmes Gefühl. Der Ich-Sprecher in Fs.A beschwert sich, dass er weit<br />

fahren muss. Dagegen klagt <strong>de</strong>r Ich-Sprecher in Fss. B und C, dass es ihn schmerzt,<br />

obwohl er sehr gerne fährt. Es sind also zwei unterschiedliche Positionen <strong>de</strong>s Ich-<br />

Sprechers.<br />

Im nächsten Satz fürchtet sich <strong>de</strong>r Ich-Sprecher vor zukünftigen Ereignissen,<br />

und zwar er macht sich Sorgen um <strong>de</strong>n Ort, <strong>de</strong>n er verlässt:<br />

Fs. A:<br />

wiez noch hie geste,<br />

ich weiz wol er verkeret alles<br />

sich,<br />

diu sorge tuot mir we.<br />

Fs. B:<br />

wiez noch hie geste<br />

ich wais wol es verkeret alles<br />

sich,<br />

die sorge tuot mir we.<br />

Fs. C:<br />

wiez noch hie geste<br />

ich weis wol es verkeret alles<br />

sich,<br />

die sorge tuot mir we.<br />

In <strong>de</strong>r Fs. A wird das Pronomen ´er´ verwen<strong>de</strong>t, während die Fss. B und C das<br />

unbestimmte Pronomen´ez´ verwen<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Forschung wird das ´er´ als einen Fehler<br />

betrachtet, weil ´ez´ mehr Sinn mache als ´er´. Daher wird in allen Editionen nur das<br />

´ez´ verwen<strong>de</strong>t. Man könnte aber versuchen zu zeigen, inwiefern sich aus <strong>de</strong>m Gebrauch<br />

<strong>de</strong>s Pronomens ´er´ in <strong>de</strong>r Fs. A ein Sinn ergeben könnte. Meiner Meinung nach könnte<br />

dieses ´er´ ein Bezug auf Gott sein, weil es am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Strophe steht, dass Gott sich<br />

ärgert. Dagegen ver<strong>de</strong>utlicht das ´es´ in <strong>de</strong>n Fss. B unc C, dass die Sache von sich<br />

Selbst an <strong>de</strong>m Ort, <strong>de</strong>n er verlässt, verschlimmern wird.<br />

Die Sorge <strong>de</strong>s Mannes steigert in <strong>de</strong>r zweiten Stollen. Hierbei bezieht sich seine<br />

Sorge auf die Zurückgebliebene:<br />

54


Fss. A:<br />

die ich hie laze wol gesunt<br />

<strong>de</strong>r envind ich lei<strong>de</strong>r niht<br />

Fss. B:<br />

die ich hie lasse wol gesunt,<br />

<strong>de</strong>r vin<strong>de</strong> ich aller niht<br />

Fss. C:<br />

die ich hie lasse wol gesunt,<br />

<strong>de</strong>r vin<strong>de</strong> ich aller niht.<br />

Die frühere Auflage <strong>de</strong>s MF. ediert diese Stelle gleich wie die handschriftlichen<br />

Fassungen B und C. Und dass <strong>de</strong>r Ich-Sprecher in Fs. A <strong>de</strong>njenige, <strong>de</strong>n er verlässt,<br />

lei<strong>de</strong>r nicht wie<strong>de</strong>r fin<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>, wird dann als einen Fehler betrachtet: die ich hie laze<br />

wol gesunt, <strong>de</strong>r envind ich lei<strong>de</strong>r niht (Fs.A). Diese Versstelle wird in <strong>de</strong>r Forschung<br />

unterschiedlich interpretiert. BERGMANN versteht das ´die´ als einen ´verhüllen<strong>de</strong>n<br />

Plural´, womit die Geliebte gemeint wird. 61 Dagegen stellen INGEBRANDT und viele<br />

an<strong>de</strong>re fest, dass mit ´die´ die Personen sind, die <strong>de</strong>r Dichter in <strong>de</strong>r Heimat<br />

zurückgelassen hat. 62 Diese Meinungsunterschie<strong>de</strong> tauchen auch in <strong>de</strong>n Fassungen A<br />

und BC auf. Es gibt also einen wesentlichen Unterschied zwischen <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>r niht<br />

vin<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>r alle niht vin<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>r Fs. A meint <strong>de</strong>r Ich-Sprecher die Frau. Dagegen<br />

wird aber <strong>de</strong>r Ich-Sprecher in <strong>de</strong>n Fss.B und C alle Personen, die er dort verlässt, bei<br />

seiner Rückkehr nicht wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n.<br />

Der nächste Vers stellt eine Brücke zum Abgesang:<br />

Fs.A:<br />

<strong>de</strong>r leben sol <strong>de</strong>m wirt menic wun<strong>de</strong>r kunt.<br />

daz alle tage geschiht<br />

Fs.B:<br />

swer leben sol, <strong>de</strong>m wirt manig wun<strong>de</strong>r kunt,<br />

das alle tage geschiht<br />

Fs.C:<br />

swer leben sol, <strong>de</strong>m wirt manig wun<strong>de</strong>r kunt,<br />

das alle tage geschiht<br />

Der Schluss <strong>de</strong>s Aufgesangs schlägt mit ´´manic wun<strong>de</strong>r´´ eine Brücke zum Abgesang,<br />

in<strong>de</strong>m er auf ein Ereignis hinweist, <strong>de</strong>ssen inhaltliche Präzisierung <strong>de</strong>m ersten Vers <strong>de</strong>s<br />

Abgesangs vorbehalten ist. Und zwar wan<strong>de</strong>lt sich <strong>de</strong>r besorgte Ich-Sprecher in eine<br />

adhortative Person und betont, dass <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r weiter leben sollte, viele Wun<strong>de</strong>r<br />

sehen wür<strong>de</strong>. Die frühere Ausgabe <strong>de</strong>s MF. wählte ´<strong>de</strong>r´ anstatt ´swer´. Zwischen diesen<br />

Wörtern gibt es keinen großen inhaltlichen Unterschied. Der Ich-Sprecher zielt in <strong>de</strong>r<br />

Fs. A vielleicht mit <strong>de</strong>m mhd. Artikel ´<strong>de</strong>r´ auf eine bestimmte Person. In <strong>de</strong>n Fss. B<br />

und C ist es nicht sichtbar, welche Person <strong>de</strong>r Ich-Sprecher meint, weil er<br />

verallgemeinert das mhd. Wort ´swer´ benutzt. Die hier gemeinten wun<strong>de</strong>r haben keine<br />

positive Deutung. Es besteht vielmehr einen Zusammenhang mit <strong>de</strong>m nächsten Vers, in<br />

61 vgl. Näher als die Be<strong>de</strong>utung BERGMANNS liegt die Parallele zu Hartmanns 3. Kreuzzug.<br />

62 vgl. INGEBRANDT, 1965: 114: konkret geäußert wird die Klage um die ihm Nahestehen<strong>de</strong>n, die <strong>de</strong>r Tod<br />

während seiner Abwesenheit nun in <strong>de</strong>r Heimat abberufen wird.<br />

55


<strong>de</strong>m es die Re<strong>de</strong> vom Tod ist. Der Ich-Sprecher wan<strong>de</strong>lt sich im Abgesang zur ersten<br />

Person <strong>de</strong>s Plurals ‚wir‘. Es wird dann betont wie viele Menschen verloren wur<strong>de</strong>n:<br />

Fs.A:<br />

wir haben in eine iare <strong>de</strong>r liute vil<br />

verloren.<br />

da bi so merkett gotes zorn,<br />

und erkenne sich ein ieglichez herze guot.<br />

die werlt ist unstete.<br />

ich meine die da minnent valsche rete<br />

<strong>de</strong>n wirt ze iungst schin wiez an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong><br />

tut<br />

Fs. B:<br />

wir haben in ainem iare <strong>de</strong>r liute vil<br />

verlorn.<br />

an <strong>de</strong>n man siht <strong>de</strong>n gotes zorn.<br />

nu erkene sich ain ieglich herze guot.<br />

diu welt ist niemen stete<br />

und wil doch das man minne ir valschen<br />

rete<br />

nu siht man wol ir lon wie si an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong><br />

tuot.<br />

Fs. C:<br />

wir haben in ainem iare <strong>de</strong>r liute vil<br />

verlorn.<br />

an <strong>de</strong>n man siht <strong>de</strong>n gotes zorn.<br />

nu erkene sich ain ieglich herze guot.<br />

diu welt ist niemen stete<br />

und wil doch das man minne ir valschen<br />

rete<br />

nu siht man wol ir lon wie si an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong><br />

tuot.<br />

Die frühere Forschung interpretiert diese Versstelle als eine Anspielung auf <strong>de</strong>n großen<br />

Verlust, die Nie<strong>de</strong>rlage von Hattin am 4. Juli 1187, wie es von G. WOLFRAM belegt<br />

wur<strong>de</strong> 63 . Mit <strong>de</strong>r These von WOLFRAM war ein Großteil <strong>de</strong>r späteren Forschung<br />

einverstan<strong>de</strong>n. 64 Dagegen aber stimmte HÖLZLE nicht ganz zu, <strong>de</strong>nn er meinte, dass es<br />

keine Verbindung mit <strong>de</strong>n nächsten Versen gibt:<br />

Insofern wird man entgegen <strong>de</strong>r von Wolfram vertretenen Meinung nur mit<br />

großem Vorbehalt von einem in die Strophe eingestreuten Kreuzzugsaufbehalt<br />

sprechen können, <strong>de</strong>r sich auch durch die restlichen Verse <strong>de</strong>r Strophe nicht<br />

erklären lässt. (HÖLZLE,1980 :232)<br />

Einen sicheren Anhaltspunkt zur Datierung <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s sehe ich nicht, <strong>de</strong>nn solche<br />

Versuche geschichtlicher Verortung einzelner Textstellen sind wenig wissenschaftlich,<br />

da sich die Textstellen in aller Regel nicht auf konkreten historischen Ereignisse<br />

fokussieren. Deswegen sollte man von diesem Lied geschichtliche Wirklichkeit nicht<br />

abverlangen. Der Verlust, <strong>de</strong>r ihm ´´sorge´´ bereitet, wird mit <strong>de</strong>m Zorn Gottes in<br />

Verbindung gestellt:<br />

Fs.A:<br />

da bi so merkett gotes zorn,<br />

Fs. B:<br />

an <strong>de</strong>n man siht <strong>de</strong>n gotes zorn.<br />

Fs. C:<br />

an <strong>de</strong>n man siht <strong>de</strong>n gotes zorn.<br />

Die frühere Ausgabe <strong>de</strong>s MF. ediert bei dieser Stelle die Version von Fs.A. Aber diese<br />

Stelle wird in MF. durch einen Punkt von <strong>de</strong>r vorherigen Strophe abgetrennt.<br />

BERGMANN u.a. hält aber ein Komma o<strong>de</strong>r Semikolen für textgerechter<br />

63 vgl. Wolfram, G.: Kreuzpredigt und Kreuzlied. In: Zeitschrift für <strong>de</strong>utsches Altertum und <strong>de</strong>utsche<br />

Literatur (ZfdA) 30 (1886). S. 89- 132<br />

64 vgl. G. Wolfram hatte bereits Vers 88,27 auf die Nie<strong>de</strong>rlage <strong>de</strong>s christlichen Heeres bei Hattin am 4.<br />

Juli 1187 ge<strong>de</strong>utet. Mir scheint auch <strong>de</strong>r Vers 89,6 nur im Hinblick auf <strong>de</strong>n Tod im Kampf während <strong>de</strong>s<br />

Kreuzzugs verständlich zu sein, während in Vers 89,4 freilich nicht Sterben und ewige Verdammnis zu<br />

verstehen sind; dies stün<strong>de</strong> in krassem Wi<strong>de</strong>rspruch zur Jenseits-Hoffnung und Heilsgewissheit, mit <strong>de</strong>r<br />

Albrecht <strong>de</strong>n Kreuzzug antritt.<br />

56


(vgl.BERGMANN, 1963:79). Denn diese Stelle <strong>de</strong>utet die Begründung <strong>de</strong>s umfassen<strong>de</strong>n<br />

Mißgeschicks an, meint BERGMANN (ebd.). Es gibt in <strong>de</strong>r Forschung zwischen <strong>de</strong>n<br />

unterschiedlich dargestellten Verbingungswörter da bi und an <strong>de</strong>n/ merkett und siht<br />

keine Erklärung. Grammatikalisch gesehen, passt da bi zum Verb merkett in Fs. A, also<br />

an <strong>de</strong>n wäre nicht geeignet gewesen. Wie<strong>de</strong>rum wenn die Fss. B und C das Verb siht<br />

benutzten, kann man da bi nicht gebrauchen. Der Ausdruck da bi (merken) in Fs.A<br />

be<strong>de</strong>utet etwas erkennen. Dabei ist <strong>de</strong>r Ich-Sprecher hier in Fs.A ganz sicher, dass man<br />

Gottes Ärger zu spüren bekommt. Dagegen stellt <strong>de</strong>r Ich-Sprecher in Fss. B und C<br />

neutral fest, dass es sein könnte, dass Gott zürnt.<br />

Im nächsten Vers gibt <strong>de</strong>r Ich-sprecher <strong>de</strong>n Befehl, dass je<strong>de</strong>s Herz das Gute<br />

vom Schlechten unterschei<strong>de</strong>n sollte, da die Welt vergänglich ist:<br />

Fs.A:<br />

und erkenne sich ein ieglichez<br />

herze guot<br />

die werlt ist unstete.<br />

Fs.B:<br />

nu erkenne sich ein ieglichez<br />

herze guot<br />

die werlt ist niemen stete.<br />

Fs.C:<br />

nu erkenne sich ein ieglichez<br />

herze guot<br />

die werlt ist niemen stete.<br />

LACHMANN nimmt das mhd. nu aus <strong>de</strong>n Hss. B und C und lässt die restlichen<br />

Versstellen wie die Fs.A. Ich sehe aber zwischen <strong>de</strong>n Wörtern und und nu einen<br />

Unterschied. In <strong>de</strong>r Fs. A mahnt <strong>de</strong>r Ich-Sprecher nicht, dass je<strong>de</strong>s Herz sich überprüfen<br />

sollte, son<strong>de</strong>rn stellt die Frage, ob je<strong>de</strong>r anerkennt, dass die Welt vergeblich ist. Darum<br />

habe ich keinen Punkt nach <strong>de</strong>m Vers da bi so merkett gotes zorn gesetzt, damit<br />

<strong>de</strong>utlich wird, dass diese Verse zusammengehören und <strong>de</strong>r Ich-Sprecher eine Frage<br />

stellt. Aber in <strong>de</strong>n Fss. B und C meint <strong>de</strong>r Ich-Sprecher, in<strong>de</strong>m er ´nu´ ausspricht, dass<br />

er damit das Wort erkenne akzentuieren möchte. So ist auch <strong>de</strong>r Ausdruck nimen stete<br />

passend zu dieser Strophe, weil die Welt niemals vertrauenswürdig ist.<br />

In <strong>de</strong>m vorletzten Vers dieser Strophe <strong>de</strong>utet <strong>de</strong>r Ich-Sprecher, was er unter <strong>de</strong>r<br />

unstete werlt o<strong>de</strong>r niemen stete versteht:<br />

Fs.A:<br />

ich meine die da minnent valsche rete<br />

<strong>de</strong>n wirt ze iungst schin wiez an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong><br />

tut<br />

Fs.B:<br />

und wil doch das man minne ir valschen<br />

rete<br />

nu siht man wol ir lon wie si an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong><br />

tuot.<br />

Fs.C:<br />

und wil doch das man minne ir valschen<br />

rete<br />

nu siht man wol ir lon wie si an <strong>de</strong>m en<strong>de</strong><br />

tuot<br />

.<br />

Bei dieser Stelle ist <strong>de</strong>r Satz in <strong>de</strong>n Fss. unterschiedlich dagestellt. In Fs. A stellt <strong>de</strong>r<br />

Ich-Sprecher die Frage, ob je<strong>de</strong>r weiss, wie die Welt ist. Seine Frage richtet sich an<br />

diejenigen, die die falsche Seite <strong>de</strong>r Welt ehren. Für diese Leute wird in kürzer <strong>de</strong>utlich<br />

wer<strong>de</strong>n, wie es (ihnen) am En<strong>de</strong> ergehen wird. Dagegen mahnt <strong>de</strong>r Ich-Sprecher in Fss.<br />

B und C, dass man aufpassen sollte, weil die Welt nicht zuverlässig sei. Die Welt<br />

versucht ihre falsche Seite zu folgen. In bei<strong>de</strong>n Fällen wird die negative Seite <strong>de</strong>r Welt<br />

57


problematisiert. Aber die Ermittelungen <strong>de</strong>r Fss. sind unterschiedlich dargestellt. In<br />

Fs.A kritisiert <strong>de</strong>r Ich-Sprecher und in <strong>de</strong>n Fss. B und C mahnt er. Am En<strong>de</strong> dieser<br />

Strophe wird in allen Fss. das Schicksal <strong>de</strong>rjenigen gezeigt, die nach <strong>de</strong>n Prinzipien <strong>de</strong>r<br />

Welt leben. Hier wird wahrscheinlich <strong>de</strong>n ewigen Tod in <strong>de</strong>r Hölle gemeint, weil in<br />

dieser Strophe <strong>de</strong>r Verlust von Menschen betont wird.<br />

Diese dritte Strophe <strong>de</strong>r Fassungen A und BC bieten jeweils unterschiedliche<br />

Darstellungen an. Während <strong>de</strong>r Ich-Sprecher in Fs. A nach <strong>de</strong>r langen Reise seine Frau<br />

nicht mehr zurückfin<strong>de</strong>n könnte, könnte <strong>de</strong>r in Fss. B und C nicht nur seine Frau,<br />

son<strong>de</strong>rn auch alle Leute, die er verlässt, mehr nicht wie<strong>de</strong>rfin<strong>de</strong>n, obwohl er sehr gerne<br />

fährt. Der Ich-Sprecher kritisiert in Fs. A die bestimmten Personen, die <strong>de</strong>r falschen<br />

Seite <strong>de</strong>r Welt nachfolgen. Dagegen mahnt <strong>de</strong>r Ich-Sprecher in Fss. B und C die<br />

Menschen, ihren Verstand zu achten. Daraus könnte man schließen, dass die Klage und<br />

Sorge <strong>de</strong>s Mannes in Fs. A eher persönlicher als die in <strong>de</strong>n Fss. B und C gestaltet sind.<br />

In Fss. B und C sind die Sorge und die Klage <strong>de</strong>s Mannes an die Gesellschaft gerichtet,<br />

also an ein größeres Publikum. In allen Fassungen allerdings ist diese Strophe ein<br />

düsterer Schluss <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ich und ein wip wir haben gestritten.<br />

Alleinstehen<strong>de</strong> Strophe in C Handschrift:<br />

Als Konsequenz entstand eine editorische Praxis, in <strong>de</strong>r die einzeln überlieferten<br />

Strophen mit an<strong>de</strong>ren Strophen umgestellt wer<strong>de</strong>n und <strong>de</strong>ren metrische Form<br />

angeglichen wird. Die Strophe C: Ob ich si iemer mere gesehe ist in solche<br />

Editionsstrategie integriert wor<strong>de</strong>n:<br />

Ob ich si iemer mere gesehe,<br />

<strong>de</strong>s enweis ich niht fuer war.<br />

da bi geloebe mir es, swes ich ir iehe,<br />

es geht von herzen gar.<br />

ich mine si fuer elliu wib<br />

und swer ir das bi gotte.<br />

das herze min sin und al<strong>de</strong>r lip.<br />

die stent in ir gebotte.<br />

ich erwache niemer es sin min erste segen,<br />

das got ir eren muosse pflegen<br />

und lasse ir lip mit lobe hie besten<br />

und iemer ewekliche.<br />

nu gib ir herre froi<strong>de</strong> in himelriche<br />

und mir beschehe alsam als muosse es ergen.<br />

In <strong>de</strong>r erhaltenen Überlieferung <strong>de</strong>r C Handschrift tritt diese Strophe zwischen <strong>de</strong>n nicht<br />

metrisch anpassen<strong>de</strong>n Strophen auf. Ihre metrisch gleichen Strophen befin<strong>de</strong>n sich auf<br />

einen an<strong>de</strong>ren Platz vor mehreren Strophen. Diese Strophe wird in <strong>de</strong>r Forschung als<br />

einen Abschreibefehler betrachtet. Nur in <strong>de</strong>r Ausgabe von KASTEN wird diese Strophe<br />

58


vollständig dargestellt und als die vierte Strophe <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ich und ein wip, wir haben<br />

gestritten gesehen. In an<strong>de</strong>ren Editionen wur<strong>de</strong>n ihre ersten vier Zeile herausgeholt und<br />

zu <strong>de</strong>r zweiten Strophe <strong>de</strong>r A Handschrift hinzugefügt. Diese Editionspraxis erscheint<br />

mir problematisch hinsichtlich <strong>de</strong>r Frage, ob die Strophe überhaupt mit <strong>de</strong>m Lied ich<br />

und ein wip haben gestritten zu tun hat.<br />

Der erste Satz dieser Strophe beginnt mit einem unsicheren Gedanken <strong>de</strong>s Ich-<br />

Sprechers, <strong>de</strong>r nicht bestätigen kann, ob er seine Frau überhaupt wie<strong>de</strong>r sehen wird:<br />

Ob ich si iemer mere gesehe,<br />

<strong>de</strong>s enweis ich niht fuer war.<br />

Diese Stelle bringt das Leid zur Sprache, das aus <strong>de</strong>r Distanz, durch die Trennung von<br />

<strong>de</strong>r geliebten Frau, entsteht. Der zweite Satz ist ein Kontrast zu <strong>de</strong>m ersten Satz:<br />

da bi geloebe mir es,<br />

swes ich ir iehe,<br />

es geht von herzen gar.<br />

Das, was er sagt, kommt von Herzen. Er ist bewusst, dass er seine Frau über allen<br />

Frauen liebt:<br />

ich mine si fuer elliu wib.<br />

Dabei schwört er bei Gott und dadurch bestätigt er, dass sein ganzer Sinn und ganzes<br />

Leben unter ihrer Macht sind:<br />

und swer ir das bi gotte.<br />

das herze min sin und al<strong>de</strong>r lip.<br />

die stent in ir gebotte.<br />

Im Abgesang bestätigt <strong>de</strong>r Ich-Sprecher, warum er seine Frau liebt. Sein erster<br />

Gebetssegen richtet sich allererstes auf seine Frau: Gott möge um ihre Ehre sorgen muss<br />

und ihr Leben hier auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> und bis in die Ewigkeit ehrenhaftig aufbewahren. Seine<br />

Gebete praktiziert er je<strong>de</strong>n Tag:<br />

ich erwache niemer es sin min erste segen,<br />

das got ir eren muosse pflegen<br />

und lasse ir lip mit lobe hie besten<br />

und iemer ewekliche.<br />

Mit <strong>de</strong>r letzten zwei Zeilen en<strong>de</strong>t er mit seinem Gebet, das sich auf ein Diesseits<br />

bezieht. Undzwar sorgt er sich nicht um ihr Leben hier auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn im<br />

Himmelreich, sodass sie dort Freu<strong>de</strong> haben wer<strong>de</strong>:<br />

nu gib ir herre froi<strong>de</strong> in himelriche<br />

und mir beschehe alsam als muosse es ergen.<br />

Dieses En<strong>de</strong> könnte auf eine gestorbene Frau hinweisen. Denn dieses ´nu´ führt zu eine<br />

an<strong>de</strong>ren Handlung <strong>de</strong>s Ich-Sprechers. Mit dieser ´nu´ drückt er aus, dass seine Frau<br />

nicht mehr hier auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> ist, son<strong>de</strong>rn im Gottesreich.<br />

59


Wie ich hier diese Strophe interpretiert habe, könnte sie als eine in sich geschlossene<br />

Einzelstrophe aufgefasst wer<strong>de</strong>n, obwohl sie in <strong>de</strong>r Forschung noch nie als solche<br />

betrachtet wur<strong>de</strong>. Dafür gibt es nachvollziehbare Grün<strong>de</strong>. Erstens, bei <strong>de</strong>r zweiten<br />

Strophe <strong>de</strong>r Fassung A - formlich gesehen - fehlt ein<strong>de</strong>utig eine Stolle, <strong>de</strong>nn die<br />

an<strong>de</strong>ren zwei Strophen bestehen aus einem doppelten Aufgesangskursus. Für die<br />

fehlen<strong>de</strong> Stolle eignet sich natürlich diese einzelne Strophe, weil außer <strong>de</strong>r ersten Stolle<br />

die restlichen Verse ähnlich wie die zweite Strophe <strong>de</strong>r A Fassung sind. Zweitens, die<br />

handschriftlichen Fassungen sind Abschriften und entsprechen von daher nicht <strong>de</strong>m<br />

Orginal. Historisch gesehen ist die A Handschrift die älteste von <strong>de</strong>n drei<br />

Haupthandschriften.<br />

Heute kann lei<strong>de</strong>r niemand die Frage beantworten, was <strong>de</strong>r Grund für die<br />

Tradierung gera<strong>de</strong> dieser Einzelstrophe in C Handschrift gewesen sein könnte. Ich habe<br />

vorliegend versucht, die handschriftliche Fassung dieser Strophe darzustellen und mir<br />

war es dabei möglich, diese Strophe als Einzelstrophe zu betrachten.<br />

3.1.1.3. Zusammenfassungen<br />

Es soll zunächst zusammengefasst wer<strong>de</strong>n, wie die handschriftlichen Fassungen <strong>de</strong>s<br />

Lie<strong>de</strong>s ´ich und ein wip haben gestritten´ in ihrer überlieferten Gestalt zu verstehen<br />

sind. Ich habe versucht, mit <strong>de</strong>r formalen und inhaltlichen Interpretation <strong>de</strong>r drei<br />

Strophen <strong>de</strong>r Fassung A, B und C jeweils zu einem Lied auszuweisen. Die<br />

alleinstehen<strong>de</strong> Strophe in <strong>de</strong>r C Handschrift betrachte ich als Einzelstrophe.<br />

Die Anordnung <strong>de</strong>r drei Strophen in <strong>de</strong>n Fss. A, B und C ergibt einen<br />

nachvollziehbaren Handlungsablauf. Problematisch ist jedoch die zweite Strophe <strong>de</strong>r Fs.<br />

A, weil diese Strophe von <strong>de</strong>r Zeilenzahl her nicht die gleiche Metrik entsprechend <strong>de</strong>n<br />

an<strong>de</strong>ren Strophen bil<strong>de</strong>t. Aber auch nicht unwahrscheinlich, dass ein mittelalterlicher<br />

Rezipient versucht haben sollte, diese Strophe in <strong>de</strong>r dargebotenen Gestalt zu verstehen.<br />

Deshalb habe ich geprüpft, ob trotz <strong>de</strong>r vielfach geäußerten Be<strong>de</strong>nken in <strong>de</strong>r Forschung<br />

keine Möglichkeit besteht, dieser Strophengestalt einen Sinn abzugewinnen.<br />

Alle drei Strophen <strong>de</strong>r Fassungen A, B und C thematisieren die Trennung <strong>de</strong>r<br />

Lieben<strong>de</strong>n und die damit verbun<strong>de</strong>ne Klage <strong>de</strong>s Mannes. Ich habe versucht die drei<br />

unterschiedlichen Fassungen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ins Neuhoch<strong>de</strong>utsche zu übersetzten, weil die<br />

drei handschriftlichen Fassungen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s formal und inhaltlich jeweils zu einem<br />

Lied gebil<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n könnten:<br />

60


Die drei Strophen <strong>de</strong>r Fassung.A:<br />

Streit/Leid <strong>de</strong>s Mannes; Letzte Gebet <strong>de</strong>s Mannes für seine Frau und Kritik <strong>de</strong>s Mannes<br />

an seine Frau<br />

Die erste Strophe <strong>de</strong>r Fs. A drückt <strong>de</strong>n Streit <strong>de</strong>r Protagonisten und das Leid <strong>de</strong>s<br />

Mannes im Mittelpunkt aus, in<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Ich-Sprecher immer wie<strong>de</strong>r die Aufhetzung <strong>de</strong>r<br />

Frau problematisiert, weswegen er am En<strong>de</strong> selber lei<strong>de</strong>t. In <strong>de</strong>r zweiten Strophe <strong>de</strong>r Fs.<br />

A sind die Protagonisten offensichtlich getrennt, weil <strong>de</strong>r Mann für sich alleine spricht,<br />

und auch weil er die Frau nur im Gebet segnen kann. In <strong>de</strong>r dritten Strophe spitzt sich<br />

die Sorge <strong>de</strong>s Mannes auf ein weiteres Niveau zu, in<strong>de</strong>m er seine Klage mit einer<br />

persönlichen Aussage ausdrückt, <strong>de</strong>rgestalt, dass wenn die Frau <strong>de</strong>r unstaete <strong>de</strong>r werlt<br />

folgen wür<strong>de</strong>, wür<strong>de</strong> sie zum ewigen Tod verurteilt wer<strong>de</strong>n.<br />

Übersetzung <strong>de</strong>r A handschriftlichen Fassung:<br />

1.Strophe<br />

Ich und eine Frau, wir haben<br />

seit langer Zeit gestritten.<br />

Ich habe an Leid durch ihren Zorn viel erlitten.<br />

Noch haltet sie <strong>de</strong>n Streit fest.<br />

Nun meint sie, wegen meiner Fahrt,<br />

dass ich sie verlasse.<br />

Gott schütze mich niemals vor <strong>de</strong>r Hölle,<br />

es ist aber nicht meine Absicht.<br />

Wie oft das Meer und die starken Wellen toben,<br />

ich will keinen einzigen Tag auf sie verzichten.<br />

Aber diese Art und Weise könnte leicht sein,<br />

weil sie mich durch diese Trennung verlässt.<br />

Nun sagt mir, warum sie mich angreift?<br />

Sie kommt mir keinen einzigen Tag aus meinen Gedanken.<br />

2.Strophe<br />

Ich liebe sie über alle Frauen,<br />

mit all meinen Sinn und auch mit meinem Leben,<br />

das steht in ihrer Macht. Ich wache niemals auf,<br />

ohne mein erster Segenwunsch,<br />

dass Gott für ihre Ehre sorge<br />

und lasse ihr Leben in Ehren hier bestehen,<br />

danach in Ewigkeit.<br />

Nun gib Herr ihr Freu<strong>de</strong> in <strong>de</strong>inem Reich,<br />

dass ihr so geschehe wie es auch nur ergehen möge.<br />

3.Strophe<br />

Wie weit ich fahre, das jammert mich,<br />

was noch hier geschehen wird.<br />

Ich weiß wohl, er verkehrt alles zu sich.<br />

Die Sorge schmerzt mich.<br />

61


Diejenigen, die ich hier lebendig verlasse,<br />

die fin<strong>de</strong> ich lei<strong>de</strong>r nicht.<br />

Diejenige, die leben soll, <strong>de</strong>r wird Wun<strong>de</strong>rliches passieren,<br />

und das geschieht je<strong>de</strong>n Tag.<br />

In einem Jahr haben wir viele Leute verloren.<br />

Dabei merkt man so <strong>de</strong>n Zorn Gottes,<br />

und das erkennt sich je<strong>de</strong>s Herz gut,<br />

dass die Welt untreu ist.<br />

Ich <strong>de</strong>nke an diejenigen, die <strong>de</strong>ren falsche Seite lieben,<br />

<strong>de</strong>nen wird es so schnell passieren, wie es am En<strong>de</strong> geschehen wird.<br />

Die drei Strophen <strong>de</strong>r Fassungen B und C:<br />

Zweifel <strong>de</strong>s Mannes an seine Frau/die feste Liebe <strong>de</strong>s Mannes; Auseinan<strong>de</strong>rsetztung <strong>de</strong>r<br />

Minne und Mahnung an die Gesellschaft<br />

Von <strong>de</strong>r formalen und inhaltlichen Seite her zeigen die drei Strophen <strong>de</strong>r<br />

Fassungen B und C Parallelen auf. Aber in <strong>de</strong>r ersten Strophe sind einige<br />

Textabweichungen zu merken, die die Inhalte <strong>de</strong>r Verse än<strong>de</strong>rn, die aber nicht <strong>de</strong>n<br />

gesamten Sinn <strong>de</strong>r ersten Strophen berühren. In <strong>de</strong>n Fss. B und C wird <strong>de</strong>r Zweifel <strong>de</strong>s<br />

Mannes an seiner Frau und die feste Liebe <strong>de</strong>s Mannes seiner Frau gegenüber als<br />

Hauptproblem dargestellt. Denn <strong>de</strong>r letzte Satz <strong>de</strong>utet darauf hin, dass <strong>de</strong>r Mann an<br />

seine Frau viel <strong>de</strong>nkt, obwohl sie wahrscheinlich ihn schon verlassen haben könnte und<br />

nicht wie <strong>de</strong>r Mann lei<strong>de</strong>t. In <strong>de</strong>r zweiten Strophe setzt sich <strong>de</strong>r Ich-Sprecher mit <strong>de</strong>r<br />

Minne auseinan<strong>de</strong>r. In <strong>de</strong>r dritten Strophe wird das erstrahlte Bild <strong>de</strong>r ´minnecliche<br />

minnent´ aber verdunkelt, in<strong>de</strong>m die unstaete werlt als eine valsche raete dargestellt<br />

wird. Dabei stellt diese Strophe einen Kontrast zu <strong>de</strong>r zweiten dar. Es wird in <strong>de</strong>r dritten<br />

Strophe über Minne nicht thematesiert; <strong>de</strong>r Ich-Sprecher for<strong>de</strong>rt die ganze Gesellschaft<br />

auf, zu unterschei<strong>de</strong>n, wie die Welt niemen stete ist.<br />

B und C handschriftliche Fassung:<br />

Sowohl die Form, als auch <strong>de</strong>r Inhalt <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s in bei<strong>de</strong>n Handschriften B und C<br />

zeigen keine auffallen<strong>de</strong>n Unterschie<strong>de</strong>. Trotz<strong>de</strong>m ist es sinnvoll, die Fassungen B und<br />

C getrennt zu übersetzten, weil in <strong>de</strong>r ersten Strophe doch paar Textabweichungen<br />

vorkommen, die hier gezeigt wer<strong>de</strong>n sollten:<br />

62


Fassung B:<br />

1. Strophe:<br />

Ich und eine Frau, wir haben gestritten<br />

schon seit langer Zeit.<br />

Ich habe durch ihren Zorn Leid viel erlitten.<br />

Noch haltet sie <strong>de</strong>n Streit,<br />

sie meint, ich fahre,<br />

<strong>de</strong>swegen ich sie verlasse.<br />

Gott schütze mich nicht vor <strong>de</strong>r Hölle,<br />

ist das meine Absicht?<br />

Wie stark das Meer und auch die starken Wellen<br />

toben,<br />

ich will sie niemals da verlassen.<br />

Der Dornstich könnte aber leicht sein,<br />

in<strong>de</strong>m sie mich verlässt.<br />

Nun sagt, im Vergleich zu mir, warum sie sich<br />

freuen soll.<br />

Sie kommt keinen einzigen Tag aus meinem<br />

Herzen.<br />

2.Strophe<br />

Wer Liebe liebevoll auftreten<br />

ganz ohne falsches Empfin<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>ssen Sün<strong>de</strong> wird vor Gott nicht gesehen.<br />

Sie ist wertvoll und gut.<br />

Man soll böses und sündhaftes vermei<strong>de</strong>n<br />

und lieben ehrenhafte Frauen.<br />

Tut er es in Treue so habe ich<br />

je<strong>de</strong>r Zeit seine Vortrefflichkeit zu danken.<br />

Könnte sie bei<strong>de</strong> sich zu ehrlich schützen,<br />

für sie will ich zu Hölle fahren.<br />

Die aber mit argen Willen sind,<br />

für die will ich nicht fallen.<br />

Ich meine diejenigen, die ohne Falschheit lieben<br />

Wie ich zu meiner lieblichen Frau meine Treue<br />

zeige<br />

3.Strophe<br />

Wie gerne ich fahre, trotz<strong>de</strong>m bedruckt mich<br />

wie es nun hier geschehen wer<strong>de</strong>.<br />

Ich weiss wohl, alles geht än<strong>de</strong>rn.<br />

Die sorge tut mir weh.<br />

Die ich hier wohl am Leben verlasse,<br />

die alles wer<strong>de</strong> ich nicht fin<strong>de</strong>n.<br />

Wer leben soll, <strong>de</strong>m wird wenig Wun<strong>de</strong>r<br />

kommen,<br />

das geschieht je<strong>de</strong>n Tag.<br />

Wir haben in einem Jahr viele Leute verloren.<br />

Daran erkennt man Gottes Zorn.<br />

Nun sollte sich je<strong>de</strong>s gute Herz erkennen!<br />

Die Welt ist niemals treu und will doch, dass<br />

man ihre falschen Ränke liebt.<br />

Nun sieht man ganz schön ihren Lohn, was sie<br />

am En<strong>de</strong> bekommt<br />

Fassung C:<br />

1. Strophe:<br />

Ich und eine Frau haben gestritten<br />

schon seit langer Zeit.<br />

Ich habe durch ihren Zorn viel Leid erlitten.<br />

Noch haltet sie <strong>de</strong>n Streit,<br />

sie meint, ich fahre,<br />

<strong>de</strong>swegen ich sie verlasse.<br />

Gott schütze mich nicht vor <strong>de</strong>r Hölle,<br />

ist das meine Absicht?<br />

Wie sehr das Meer und auch die starken Wellen<br />

toben,<br />

ich will sie niemals da verlassen.<br />

Der Donnerschlag könnte aber leicht sein,<br />

in<strong>de</strong>m sie mich verlässt.<br />

Nun sagt, im Vergleich zu mir, warum sie sich<br />

freuen soll.<br />

Sie kommt keinen einzigen Tag aus meinem<br />

Herzen.<br />

2.Strophe<br />

Wer Liebe liebevoll auftreten<br />

ganz ohne falsches Empfin<strong>de</strong>n,<br />

<strong>de</strong>ssen Sün<strong>de</strong> wird vor Gott nicht gesehen.<br />

Sie ist wertvoll und gut.<br />

Man soll böses und sündhaftes vermei<strong>de</strong>n<br />

und lieben ehrenhafte Frauen.<br />

Tut er es in Treue so habe ich<br />

je<strong>de</strong>r Zeit seine Vortrefflichkeit zu danken.<br />

Könnte sie bei<strong>de</strong> sich zu ehrlich schützen,<br />

für sie will ich zu Hölle fahren.<br />

Die aber mit argen Willen sind,<br />

für die will ich nicht fallen.<br />

Ich meine diejenigen, die ohne Falschheit lieben<br />

Wie ich zu meiner lieblichen Frau meine Treue<br />

zeige<br />

Strophe 3:<br />

Wie gerne ich fahre, trotz<strong>de</strong>m bedruckt mich<br />

wie es nun hier geschehen wer<strong>de</strong>.<br />

Ich weiss wohl, alles geht än<strong>de</strong>rn.<br />

Die sorge tut mir weh.<br />

Die ich hier wohl am Leben verlasse,<br />

die alles wer<strong>de</strong> ich nicht fin<strong>de</strong>n.<br />

Wer leben soll, <strong>de</strong>m wird wenig Wun<strong>de</strong>r<br />

kommen,<br />

das geschieht je<strong>de</strong>n Tag.<br />

Wir haben in einem Jahr viele Leute verloren.<br />

Daran erkennt man Gottes Zorn.<br />

Nun sollte sich je<strong>de</strong>s gute Herz erkennen!<br />

Die Welt ist niemals treu und will doch, dass<br />

man ihre falschen Ränke liebt.<br />

Nun sieht man ganz schön ihren Lohn, was sie<br />

am En<strong>de</strong> bekommt<br />

63


Allein stehen<strong>de</strong> Strophe in C Handschrift:<br />

Warum <strong>de</strong>r Schreiber <strong>de</strong>r C Handschrift diese Strophe nicht gleich mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

Strophen zusammenschreibt, o<strong>de</strong>r ob er diese Strophe tatsächlich als Einzelstrophe zu<br />

betrachten ist, ist aus heutiger Sicht schwer zu beantworten. Obwohl ihre metrische<br />

Form <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Strophen <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ´ich und ein wip, wir haben gestritte´ gleicht,<br />

betrachte ich diese Strophe als eine Einzelstrophe, weil es möglich ist, sie allein für sich<br />

zu betrachten und dabei einen Sinn zu ermitteln.<br />

Überstezung dieser Strophe:<br />

Ob ich sie jemals wie<strong>de</strong>rsehe,<br />

das weiß ich wahrlich nicht.<br />

Da bei glaube mir: was ich ihr sage,<br />

es kommt ganz von Herzen.<br />

Ich liebe sie vor allen Frauen<br />

und schwöre ihr es zu bei Gott.<br />

Mein Sinn und mein ganzer Leben,<br />

die stehen in ihrem Gebot.<br />

Ich wache niemals auf, dass nicht mein<br />

erster Segenswunsch sei,<br />

dass Gott für ihr Lob sorge<br />

und lasse sie in Ehren hier bestehn<br />

und in Ewigkeit<br />

Nun gib ihr, Herr, Freu<strong>de</strong>, in Himmelreich,<br />

und wie mir geschehe,<br />

muss es ebenfalls also ergehen.<br />

4. Schlussfolgerung und Ausblick<br />

Ziel <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit war es, eine Analyse und Interpretation <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s ´ich und<br />

ein wip, wir haben gestritten´ von Albrecht von Johansdorf in seinen Handschriften auf<br />

<strong>de</strong>r Basis <strong>de</strong>r Varianzforschung <strong>de</strong>r mittelalterlichen Lyrik zu machen. Das methodiche<br />

Vorgehen wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>r folgen<strong>de</strong>n Überlegung <strong>de</strong>r Forschung angeleitet:<br />

Die Literaturgeschichtsschreibung muss auf die Verän<strong>de</strong>rung reagieren, die unsere<br />

Vorstellung von Literaturproduktion und - distribution im Mittelalter erfahren<br />

haben(STACKMANN, 2002:122).<br />

Im Hinblick auf die beson<strong>de</strong>ren medialen Überlieferungsbedingungen <strong>de</strong>s Mittelalters,<br />

<strong>de</strong>ren Signum- vor <strong>de</strong>r Erfindung <strong>de</strong>s Buchdrucks - gera<strong>de</strong> die starke Varianz <strong>de</strong>r<br />

überlieferten Texte darstellt, sucht die jüngere Forschung neue philologische Verfahren,<br />

die die in varianten überlieferten Texte <strong>de</strong>m heutigen Publikum möglichst getreuer<br />

Form darzustellen, erlauben. Dabei sehen sich die Herausgeber, die sich mit<br />

mittelalterlichen Texten beschäftigen, <strong>de</strong>n Prinzipien <strong>de</strong>r sog. ´New Philologie´<br />

64


verpflichtet. Dabei müssen die Herausgeber die handschriftliche Varianz als<br />

Ausgangspunkt je<strong>de</strong>r Text betrachten: Alle Editoren müssen sich zunächst mit <strong>de</strong>n<br />

handschriftlichen überlieferten Texten befassen (BEIN, 2005:137). Somit wird die<br />

Varianz nach <strong>de</strong>r Überzeugung <strong>de</strong>r ´New Philologie´ keinesfalls als durch Fehler<br />

verursacht, son<strong>de</strong>rn wird als Ausdruck eines möglichen Literatur- und<br />

Textverständnisses <strong>de</strong>s Mittelalters angesehen.<br />

An diese Überlegung <strong>de</strong>r Forschung anknüpfend habe ich versucht, mich im<br />

Kapitel 2 mit <strong>de</strong>n folgen<strong>de</strong> Fragen auseinan<strong>de</strong>rzusetzten:<br />

1. Was ist eine lyrische Varianz? Epik und Lyrik sind zwei unterschiedliche Bereiche,<br />

<strong>de</strong>ren Varianzforschung auch unterschiedlich dargestellt wer<strong>de</strong>n muss. Dabei habe<br />

ich auch versucht die Begriffe Mouvance und Varianz <strong>de</strong>r lyrischen Texte <strong>de</strong>s<br />

Mittelalters zu unterschei<strong>de</strong>n, um ihren Gebrauch in <strong>de</strong>r Forschung besser zu<br />

ver<strong>de</strong>utlichen. Eine Lyrische Varianz beschäftigt sich in <strong>de</strong>r Regel mit <strong>de</strong>r Text- und<br />

Strophenvarianz.<br />

2. Wie wichtig ist es, die Textvarianz zu untersuchen? Das Forschungsergebniss von<br />

STACKMANN, BEIN, CRAMER und WILLEMSEN hat gezeigt, dass die Textvarianz am<br />

Sinn eines gesamten Liedtextes nicht viel än<strong>de</strong>rte. 65 Es war aber gleichwohl wichtig<br />

gewesen, die Textvarianz zu systematisieren, um zu zeigen, wie die Verhältnisse<br />

zwischen <strong>de</strong>n sinntragen<strong>de</strong>n Textvarianz und <strong>de</strong>n nicht <strong>de</strong>n sinnberühren<strong>de</strong>n<br />

Textvarianz sind.<br />

3. Kann die Strophenvarianz tatsächlich <strong>de</strong>n Sinn eines Liedtextes än<strong>de</strong>rn? 38% von<br />

106 edierten Lie<strong>de</strong>rn in 38. Aufl. <strong>de</strong>s MF. zeigen Strophenbestandvarianz und<br />

Strophenfolgevarianz. Es scheint tatsächlich ein normaler Fall zu sein, dass die<br />

mittelalterlichen Schreiber die Strophen eines Lie<strong>de</strong>s än<strong>de</strong>rn. Wenn eine Strophe<br />

eines Lie<strong>de</strong>s geän<strong>de</strong>rt wird, kann dieser Fall die Aussage <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s stark berühren.<br />

Denn eine Strophe beinhaltet eine konkrete Aussage eines Lie<strong>de</strong>s.<br />

Um das Thema <strong>de</strong>r lyrischen Varianz genau zu erörtern, ist das Lied ´ich und ein wip,<br />

wir haben gestritten´ von Albrecht von Johansdorf im Kapitel 3 untersucht wor<strong>de</strong>n. Es<br />

wur<strong>de</strong>n zunächst die räumlichen und zeitlichen Unterschie<strong>de</strong> zwischen <strong>de</strong>n Abschriften<br />

<strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s berücksichtig. Aus <strong>de</strong>r Überlieferung ist festzustellen, dass das Lied in<br />

seinen drei Handschriften A, B und C jeweils eine Liedgestalt bil<strong>de</strong>t. Denn die<br />

65 vgl. Im Kapitel 2 wird darüber ausführlicher dargestellt.<br />

65


metrische Form und vorallem die inhaltliche Zusammengehörigkeit <strong>de</strong>r Strophen hat zu<br />

<strong>de</strong>r Erkenntnis geführt, dass das Lied in seinen Handschriften drei mögliche<br />

unterschiedliche Liedfassungen aufstellt.<br />

Beson<strong>de</strong>rs zu untersuchen war, ob die<br />

Textvarianz o<strong>de</strong>r die Strophenvarianz <strong>de</strong>s Überlieferungsguts <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s bei <strong>de</strong>r<br />

Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Inhalts aussagekräftig ist. Hierfür wur<strong>de</strong> eine Analyse gegeben, wie hoch<br />

die Textvarianz <strong>de</strong>s überlieferten Lie<strong>de</strong>s ist: Die B Fassung <strong>de</strong>s Lie<strong>de</strong>s hat insgesamt<br />

266 Wörter. Etwa 95 Wörter <strong>de</strong>r dreistrophigen A Fassung weichen von <strong>de</strong>r Fassung B<br />

ab. Das heißt zwischen <strong>de</strong>n Fassungen A und B liegen 35,7% sinntragen<strong>de</strong><br />

Abweichungen. Dagegen sind zwischen <strong>de</strong>n Fassungen B und C keine großen<br />

sinntragen<strong>de</strong>n Abweichungen zu fin<strong>de</strong>n. Insgesamt nur 4 Wörter wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n<br />

Fassungen B und C unterschiedlich geschrieben. Daraus konnte man schlussfolgern,<br />

dass die Wörter in <strong>de</strong>n Fassungen B und C konstant überliefert sind und die Textvarianz<br />

nur zwischen <strong>de</strong>n Fassung A und Fassungen B und C zu fin<strong>de</strong>n ist. Alle Textvarianzen<br />

waren aussagekräftig gewesen, die <strong>de</strong>n Inhalt <strong>de</strong>r Liedfassung än<strong>de</strong>rten.<br />

300<br />

250<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

0<br />

266<br />

262<br />

95<br />

100% 35,70% 1,50%<br />

B Fassung A Fassung C Fassung<br />

Es ist unmöglich die Frage genau zu beantworten, warum dieses Lied in <strong>de</strong>n<br />

Handschriften unterschiedlich aufgeschrieben wor<strong>de</strong>n ist. Darüber lassen sich<br />

unterschiedliche Hypothesen aufstellen, die aber sehr schwer zu beweisen sind. Während<br />

<strong>de</strong>r Phase einer mündlichen Überlieferung konnten die Texte <strong>de</strong>s Mittelalters eventuell<br />

in verschie<strong>de</strong>nen Weisen variieren. Daher wäre es möglich, dass dieses Lied wegen <strong>de</strong>r<br />

vorausgehen<strong>de</strong>n Quellenqualität unterschiedlich aufgeschrieben wur<strong>de</strong>, was aber eine<br />

noch wesentlich höhere Varianz erwarten ließe. O<strong>de</strong>r es kann sein, dass von Anfang an,<br />

unterschiedliche Vorträge vom selben Autor stattfan<strong>de</strong>n. Wir wissen nicht, wie er das<br />

Lied vorgetragen hat. Die Minnesänger wur<strong>de</strong>n oft als fahren<strong>de</strong> Sänger bekannt. Es<br />

könnte also sein, dass <strong>de</strong>r Sänger je nach Situation <strong>de</strong>m Publikum sein Lied<br />

unterschiedlich dargestellt hat.<br />

66


Wie ich in <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit zu zeigen versucht habe, muss man, um die<br />

mittelalterliche Lyrik nachvollziehen zu können, sie im Spiegel <strong>de</strong>r<br />

Überlieferungsproblematik betrachten. Bezogen auf Entstehungszeit <strong>de</strong>r lyrischen Texte<br />

<strong>de</strong>s Mittelalters und ihre teilweise erst späte schriftliche Überliefrung, unterschei<strong>de</strong>n<br />

sich diese mittelalterlichen Texte durch zunehmen<strong>de</strong> Verän<strong>de</strong>rungen; sie weisen Züge<br />

einer aktiven Bearbeitung durch <strong>de</strong>n Schreiber auf. Somit entstehen nicht nur bloße<br />

Abschriften von Originalen, die in einem Urtext o<strong>de</strong>r auch verschie<strong>de</strong>nen<br />

Aufführungsvarianten seitens <strong>de</strong>s Autors bestehen können, son<strong>de</strong>rn auch variante<br />

Fassungen, die auf einen Berarbeitungsprozess eines Schreibers zurückgehen. Diese<br />

varianten Fassungen unterschei<strong>de</strong>n sich im Strophenbestand, in <strong>de</strong>r Strophefolge aber<br />

auch hinsichtlich <strong>de</strong>s Textes an sich.<br />

Grundlagen für die Analyse mittelalterlicher Lie<strong>de</strong>r sind die Handschriften. Viele<br />

mittelalterliche Lie<strong>de</strong>r, die in <strong>de</strong>n Handschriften vorkommen, sind beweglich und sind in<br />

Varianten überliefert, wovon wir heute viele mögliche Interpretationen herausnehmen<br />

können.<br />

67


Literaturverzeichnis<br />

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Literaturwissenschaft. Neu Berarbeitung <strong>de</strong>s Reallexikons <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen<br />

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Paul ZUMTHOR, Essai <strong>de</strong> poetique medieval. Paris 1972.<br />

71


Anhang<br />

Abbild 1. Handschrift A:<br />

72


Abbild.2: Handschrift B (Miniatur):<br />

73


Abbild 3. Handschrift B (Text).<br />

74


Abbild.4. C Handschrift (Miniatur)<br />

75


Abbild 5. Handschirft C (Text)<br />

76


Abbild.6: C Handschrift (Text <strong>de</strong>r alleinstehen<strong>de</strong> Strophe).<br />

77

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