Schule & Job - Süddeutsche Zeitung
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A N Z E I G E<br />
JungsziMMer<br />
Ich bin wieder zu Hause, von meiner einwöchigen Schulfahrt. Schön<br />
war’s: Zwar durfte ich, wegen Weigerung einiger Jungs, nicht in das<br />
Zimmer, in das ich wollte; aber dafür mit zwei anderen, die sehr nett<br />
und freundlich waren. Yeah! Am schönsten war es, mit den Worten<br />
„Da ist noch ein Herr, der hier nicht hingehört“ nachts aus einem<br />
Mädchenzimmer geworfen zu werden. Eine Woche nur „Noah“: Es<br />
fühlt sich komisch und ungewohnt an, aber schon besser als am ersten Tag.<br />
Über die Hormontherapie habe ich mir gedacht: Eines Tages werde<br />
ich sie machen. Absolut sicher. Aber ich will so lange damit warten<br />
wie möglich. Unabhängigkeit!<br />
Aber erst kommt morgen meine kleine Verwandte, und ich werde<br />
meine „Trans Pride“-Sachen weghängen. Meine restliche Verwandtschaft<br />
und das Kaff, in dem ich wohne, haben noch keine Ahnung,<br />
und ich will sie nicht in mein Doppelleben hineinziehen.<br />
Oszillation<br />
Oszillation ist das Schwanken zwischen den Extremen. In meinem<br />
Fall: Euphorie versus Verzweiflung.<br />
Ich war beim Friseur, sehe dementsprechend schick aus und habe<br />
Montag einen Termin mit einer neuen Psychotherapeutin. Und da<br />
fängt das Elend doch an: eine neue Therapeutin, weil der alte ein unverschämter<br />
Vollidiot war, der nach zwei Gesprächen mit mir meiner<br />
Mutter vorgeworfen hat, ich könne mich nicht als Frau identifizieren,<br />
weil sie mir nie eine weibliche Rolle vorgelebt habe. Des Weiteren sei<br />
ich nur neidisch auf meinen Bruder und wolle nicht erwachsen werden.<br />
Was für ein Armutszeugnis des Jugendpsychiatriesystems. Ich,<br />
der ich seit Monaten einen verfluchten Therapieplatz suche, auf Wartelisten<br />
von Sprechstunden stehe und nur weitergeschickt werde. Ich<br />
will so gern mein Leben in den Griff bekommen. Aber wie???<br />
Zwei Welten<br />
<strong>Schule</strong> ist gut, <strong>Schule</strong> ist der Ort, an dem ich Noah bin. An dem ich<br />
meine Freunde treffe und mit ihnen lache. Ich faile in Latein und Mathe<br />
und mit meinen Deutschaufsätzen, aber sonst ist es fein. Und es<br />
wird Frühling, und da ist Licht und Wärme und Farben! Aber die<br />
Welten, in denen ich noch „Mädchen“ zu sein scheine und meinen<br />
Namen hasse! Ich will den Vorhang herunterreißen! Ich müsste mit<br />
meiner Familie reden. Mit wie vielen Menschen lebe ich zusammen,<br />
mit denen ich noch nie geredet, wirklich ein ernsthaftes, persönliches<br />
Gespräch geführt habe? Es sind zu viele.<br />
Also: Der Plan hat sich nicht geändert, den Weg gehe ich weiter bis<br />
ans Ziel, weil es für mich keine andere Möglichkeit gibt, nicht in Depression<br />
zu versinken. Aber es ist ein anstrengender, schmerzhafter,<br />
frustrierender, langer, einsamer Weg. Ahoi!<br />
Das Entweder-oDer<br />
Es gibt zwei Möglichkeiten. Weiterleben wie bisher, also ein Doppelleben<br />
– halb Junge, halb Mädchen. Mich in einem Jahr nach dem Abi<br />
wegschleichen und irgendwo ein neues, richtiges Leben anfangen. Aber<br />
ich habe Freunde hier. Ich werde zurückkommen, mindestens um meine<br />
Familie zu besuchen. Dann müsste ich allen Leuten von früher aus<br />
dem Weg gehen. Das wäre nicht fair und widerspricht meiner Moral.<br />
Ich kann nicht einfach so von den Menschen, mit denen ich viele schöne<br />
Stunden verbracht habe, abhauen. Das ist zu anstandslos und unwürdig<br />
und respektlos. Wenn ich trans leben will, muss ich mich also outen. Ich<br />
weiß noch nicht, wann und wie und wo anfangen. Aber das ist immerhin<br />
meine momentane theoretische Grundlage für die Zukunft.<br />
Noah kriegt Blocker<br />
Juhu! In 21 Tagen habe ich einen Termin in der Uniklinik Frankfurt<br />
in der endokrinologischen Sprechstunde. Dann bekomme ich (nehme<br />
ich an) keine Blocker, sondern Blut abgenommen und einen Zettel für<br />
meine Eltern (minderjährig, oder was?). Aber dann, dann krieg ich<br />
Blocker. Ich weiß nicht ganz genau, was die bewirken, auf jeden Fall<br />
aber Folgendes: Der hormonelle Status wird in den eines Kindes<br />
überführt. Wie sagte ein Freund von mir? Eigentlich bewirken sie<br />
nichts. Es wächst halt nichts weiter, und Mensch menstruiert nicht<br />
mehr. Noah ist schon ziemlich aufgeregt.<br />
Resumee<br />
Ein Jahr ist es her, dass ich zum ersten Mal hier geschrieben hab. Ich<br />
wollte mich herausbrüllen, der Welt offenbaren, wie ich bin, und hab<br />
es mich nicht getraut. Der Witz ist, dass ich immer noch nicht so richtig<br />
weiß, wer ich bin. Ich bin ermüdet und erschöpft von dem ganzen<br />
Definitionsgemöbs. Ich will einfach nur sein. Mir ist es nicht sehr<br />
wichtig zu sagen: „Ich bin männlich!“ Ich bin Mensch und Ich in mir.<br />
Aber es ist wichtig, dass ich als männlich angesehen und genommen<br />
werde. Gelegentlich definiere ich mich innerlich stark als männlich,<br />
aber meistens ist es nur eine Anti-Definition zu weiblich. Ich suche<br />
eine Form, gut leben zu können.<br />
Begutachtung – Coming-out – Therapie – Hormonblocker. Eine Erfolgsgeschichte?<br />
Es ist kein Erfolg, dass ich bei etwa meiner halben Familie noch ungeoutet<br />
bin, einfach weil ich Angst habe. Nicht vor ihnen, sondern vor<br />
mir selbst. Weil ich vielleicht doch unsicherer bin, als ich möchte. Vieles<br />
wird anscheinend nicht besser. Aber ich weiß nicht, woran das<br />
liegt, und vielleicht ist es ja besser geworden, ohne dass ich es bemerkt<br />
hätte. Ich habe zum Beispiel so viele nette Menschen kennengelernt<br />
und Freundschaften geknüpft und vertieft. Allerdings ist es ein Erfolg,<br />
dass ich geschafft habe, was ich mir vorgenommen habe. Es ist<br />
ein Erfolg, tatsächlich als Junge erträglicher leben zu können. Ich bin<br />
freier, ich bin weniger gehemmt, ich verfüge über mehr Verhaltensweisen,<br />
ich bin weniger aggressiv und werde nicht ständig von meinem<br />
alten Namen getriggert. Es ist ein Erfolg und Geschenk, dass die anderen<br />
mich akzeptieren. Ich gehe mit den anderen Jungs in die Umkleide<br />
und auf das Klo. Ich kann meinen Namen auf Kursarbeiten<br />
schreiben und werde mit meinem Namen aufgerufen. Mein Stammkurs-Deutschlehrer<br />
hat sogar erreicht, dass<br />
mein Zeugnis meinen<br />
Namen trägt.<br />
Das ist alles wichtig<br />
für mich. Weil ich anders<br />
ersticke.<br />
Am 26. Juni 2012 um 22.21 Uhr hat Noah unter<br />
dem Pseudonym jazzbertie seinen ersten Text<br />
bei jetzt.de, der jungen Online-Community der<br />
<strong>Süddeutsche</strong>n <strong>Zeitung</strong>, veröffentlicht. Er wolle,<br />
so kündigte er damals an, verständlich machen,<br />
was er selber nicht verstehe. Seitdem hat er in<br />
mehr als dreißig Einträgen regelmäßig darüber<br />
geschrieben, wie es sich anfühlt, als Mädchen<br />
geboren und erzogen zu werden, sich aber<br />
nicht als Mädchen zu fühlen. Dieser Text besteht<br />
aus Auszügen seiner bewegenden Einträge.<br />
Alle weiteren findest du unter jazzbertie.jetzt.de/<br />
12 jetzt SCHule&JOB N o 04/13