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Raumaneignung als belangvolleres Konzept bedeutet in erster Linie aber nicht bloß die materielle Inanspruchnahme von Raum, vielmehr ist die Fähigkeit des Subjekts gemeint, sich Raum im Alltag so zu erschließen, dass eine Orientierung möglich wird und dass, bezogen auf sich und andere, Handlungen verantwortungsbewusst entworfen und realisiert werden können. Mit einbegriffen ist das Umdeuten, Verändern und Umfunktionieren der Umwelt. Die räumlichen Bezüge des sozialen Handelns müssen dabei als Elemente sozialer Aneignungspraxis begriffen werden und nicht als physisch-materielle Domänen oder gar Determinanten (vgl. Daum 2006: 11–13, vgl. auch Gryl/Jekel/Vogler in diesem Band). Wie aus Karten konkrete Kommunikation und Artikulation im Raum wird, hat Michel de Certeau (1988) in seiner alltäglichen Kunst des Handelns beschrieben. Deutlich zeigt sich hierin ein gewandeltes Raumverständnis. Wurden Räume nach herkömmlicher Auffassung als „Behälter“ (Container) betrachtet, in denen bestimmte Sachverhalte der physisch-materiellen Welt wie z. B. Oberflächenformen, Klima und Vegetation sowie die Objekte und deren Lagebeziehungen enthalten sind, gehen neuere Vorstellungen in der Geographie davon aus, dass Räume bzw. Geographien „gemacht“, genauer gesagt individuell und gesellschaftlich konstruiert werden, und zwar durch alltägliche Handlung und Kommunikation (vgl. Werlen, 1997a, b, Wardenga 2002, zu konstruktivistischen Didaktiken Arnold 2007, Reich 2008). Im Hinblick auf eine anspruchsvollere Lernkultur erscheint es geboten, die vorherrschende Sicht auf gegebene, materiell bedingte Räume zu revidieren, und zwar zugunsten von Vorstellungen, die auf der Basis eines relationalen Raumbegriffs eine hohe Sensibilität für das Erfahren, Wahrnehmen und Konstruieren von Räumen besitzen. Beim Geographiemachen steht im Mittelpunkt, wie die Subjekte die Welt zu sich bringen bzw. wie sie zur Welt kommen. Ein gewandeltes raumtheoretisches bzw. raumdidaktisches Verständnis wendet sich deshalb ab von ontologisierenden Zugriffen wie Stadt, Region, Quartier und fokussiert nun soziale Praxen wie Regionalisierung, Globalisierung oder Urbanisierung – das heißt Praxen, die Sozialwelt allererst hervorbringen. Anders als in der Vorstellung von Räumen als „Containern“, geht es nun um Strategien der räumlichen Wahrnehmung und Deutung, anders gesagt: um Konstruktionsleistungen der sozialen Akteure über den Raum. Raum gilt fortan nicht als physisch-materielles Stück Wirklichkeit, sondern je nach Konno- 21

tation als relational, d. h. als individuell und gesellschaftlich Weise konstruiert und dadurch aneigbar. Als Beispiel für die Sinnbelegung von materiellem Raum seien Aufzüge in den Hochhäusern genannt, die von Kindern gern als „Waffe“ gegen Erwachsene oder – wie beispielsweise auch Rolltreppen – als Spielzeug benutzt werden (vgl. Daum 2007). Welche Fähigkeiten Kinder als kreativ handelnde Subjekte entwickeln, reale Orte und Plätze sowie einzelne Teile lebhaft umzudeuten und sie in ihre phantastischen Weltkonstruktionen hineinzunehmen, haben Martha und Hans Muchow (1935) untersucht. Demnach „umleben“ Kinder die Gegenstände und Räume. Mühelos kann ein halbrunder Behälter für Altglas zu einem mächtigen und Macht verleihenden Reitkamel werden. In die gleiche Richtung weist Bollnow (1963) mit seiner Idee vom „erlebten“ Raum, der ebenfalls nicht a priori vorhanden ist, sondern durch das handelnde Subjekt konstruktiv hervorgebracht wird. Zum Raum entwickelt sich ein persönliches, beeinflussbares Verhältnis. Geheime Orte der Kinder, z. B. sogenannte Niemandsländer (vgl. Brandt/Daum 1994), werden mit spezifischem Sinn aufgeladen, der zunächst nur für die Kinder eine Bedeutung hat. Kindliche Selbstvergessenheit braucht diese Orte und Plätze des Belegens mit Deutung und Sinn. Freilich löst sich der physisch-materielle Raum im Zuge solcher Aneignungspraxis nicht in Luft auf, er kann vielmehr als gedeuteter Hintergrund, als materielle Repräsentation von Handlungen, auch symbolischer Art, angesehen werden – sozusagen als Bühne für Weltkonstruktionen. 4 Lokale und globale Maßstäbe In der vierten Klasse einer norddeutschen Großstadt wurde das Thema „Meine Welt – mein Leben“ gestellt. Eingebettet war dieses Thema in den größeren Zusammenhang einer Erkundung der für die Kinder wichtigen sozialen und sozialräumlichen Praxen betreffend Elternhaus, Schule, ihre Freizeitaktivitäten und frei wählbare individuelle Besonderheiten. Sarina (Abb. 8) zeichnet in Einzelheiten auf, wie sie Beziehungen zu ihren acht engeren Freundinnen sieht – ein verzweigtes Netzwerk, das ähnlich in den Karten der Freundinnen wieder auftaucht. Kein Wunder, denn der Zusammenhalt in der Mädchengruppe ist groß. Sie treffen sich oft und unternehmen viel zusammen. Als weitere Verortungen sind der Zoo, ein Spielplatz und eine Eisdiele zu finden. 22

Raumaneignung als belangvolleres Konzept bedeutet in erster Linie aber<br />

nicht bloß die materielle Inanspruchnahme von Raum, vielmehr ist die Fähigkeit<br />

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Orientierung möglich wird und dass, bezogen auf sich und andere, Handlungen<br />

verantwortungsbewusst entworfen und realisiert werden können. Mit<br />

einbegriffen ist das Umdeuten, Verändern und Umfunktionieren der Umwelt.<br />

Die räumlichen Bezüge des sozialen Handelns müssen dabei als Elemente<br />

sozialer Aneignungspraxis begriffen werden und nicht als physisch-materielle<br />

Domänen oder gar Determinanten (vgl. Daum 2006: 11–13, vgl. auch<br />

Gryl/Jekel/Vogler in diesem Band). Wie aus Karten konkrete Kommunikation<br />

und Artikulation im Raum wird, hat Michel de Certeau (1988) in seiner<br />

alltäglichen Kunst des Handelns beschrieben.<br />

Deutlich zeigt sich hierin ein gewandeltes Raumverständnis. Wurden Räume<br />

nach herkömmlicher Auffassung als „Behälter“ (Container) betrachtet, in<br />

denen bestimmte Sachverhalte der physisch-materiellen Welt wie z. B. Oberflächenformen,<br />

Klima und Vegetation sowie die Objekte und deren Lagebeziehungen<br />

enthalten sind, gehen neuere Vorstellungen in der Geographie<br />

davon aus, dass Räume bzw. Geographien „gemacht“, genauer gesagt individuell<br />

und gesellschaftlich konstruiert werden, und zwar durch alltägliche<br />

Handlung und Kommunikation (vgl. Werlen, 1997a, b, Wardenga 2002, zu<br />

konstruktivistischen Didaktiken Arnold 2007, Reich 2008).<br />

Im Hinblick auf eine anspruchsvollere Lernkultur erscheint es geboten, die<br />

vorherrschende Sicht auf gegebene, materiell bedingte Räume zu revidieren,<br />

und zwar zugunsten von Vorstellungen, die auf der Basis eines relationalen<br />

Raumbegriffs eine hohe Sensibilität für das Erfahren, Wahrnehmen und Konstruieren<br />

von Räumen besitzen. Beim Geographiemachen steht im Mittelpunkt,<br />

wie die Subjekte die Welt zu sich bringen bzw. wie sie zur Welt kommen.<br />

Ein gewandeltes raumtheoretisches bzw. raumdidaktisches Verständnis<br />

wendet sich deshalb ab von ontologisierenden Zugriffen wie Stadt, Region,<br />

Quartier und fokussiert nun soziale Praxen wie Regionalisierung, Globalisierung<br />

oder Urbanisierung – das heißt Praxen, die Sozialwelt allererst hervorbringen.<br />

Anders als in der Vorstellung von Räumen als „Containern“, geht es nun um<br />

Strategien der räumlichen Wahrnehmung und Deutung, anders gesagt: um<br />

Konstruktionsleistungen der sozialen Akteure über den Raum. Raum gilt fortan<br />

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