Zürcher Beiträge 54 endgültig - ETH Zürich

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3.1 Angst der Mehrheit... Zunächst der psychologische Ansatz, ausgelöst durch die Frage, wie es kommt, dass sich eine erdrückende Mehrheit von 82% Hindus – immerhin 800 Millionen Menschen – von einer Minderheit von 12% Muslimen bedroht fühlen kann. Ich referiere dabei im wesentlichen über eine Studie des Psychoanalytikers Sudhir Kakar, der in einer ausführlichen Textanalyse der Reden einer Hinduistin und eines Muslim Merkmale des Denkens religiöser Nationalisten herausarbeitete. Die Texte stammen aus den frühen neunziger Jahren. 12 Die Analyse der Reden der hinduistischen ‚Asketin’ und Politikerin Sadhvi Rithambara – Sadhvi ist die weibliche Form von Sadhu – und des muslimischen Abgeordneten Ubedullah Azmi fördert ein Paradox zutage: Die quantitativen Kräfteverhältnisse in Form von Mehrheit und Minderheit genügen nicht, um Angst bei der Minderheit und aggressive Siegespose bei der Mehrheit zu erklären. Im Gegenteil, beide fühlen sich als gefährdete Minorität – und gleichzeitig auch als triumphierende Mehrheit, als Märtyrer und Sieger. Es ist erst diese Koppelung, die psychologisch virulent wird. Auch der Hindu fühlt sich also als Minderheit. Gemäss Rithambara, einer heute etwa 40jährigen Frau, ist Indien umgeben von islamischen Staaten im Westen und Osten; Öldollars fliessen ins Land, um immer mehr Hindus zu bekehren – während der Hinduismus nicht bekehrt; die Muslime haben Pakistan und Bangladesch, dennoch geniessen sie in diesem von ihnen verstümmelten Indien noch besondere Minderheitsrechte. Die Hindus etwa müssen die Geburtenkontrolle befolgen, während die Muslime in den Worten Rithambaras „sechs Frauen und 30-35 Kinder haben und sich wie Moskitos und Fliegen vermehren“. Doch dann folgt die Umkehrung: Muslime sind zwar die Zitrone, welche die Hindu-Milch sauer werden lässt. „Aber seht das Resultat an: die ausgepresste Zitrone landet auf dem Abfall, während aus der gebrochenen Milch Frischkäse gewonnen wird, der noch widerstandsfähiger ist als Milch“. Die Muslime mögen Pakistan haben – die Hindus haben ein weitaus grösseres Hindustan; und diese Statistik gibt ihnen das Recht, den Muslimen vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten haben: Es ist die Selbstbehauptung der Mehrheit – aber nun mit aggressiver Spitze. 12 Kakar, S. The Colours of Violence. Delhi 1995. S. 182-238. 70

3.2 ...Triumph der Minderheit Genau diese Bilder dienen – in umgekehrter Reihenfolge – Ubedullah Azmi zur Erklärung muslimischer Ängste und muslimischen Aufbäumens. Zuerst der Opfer-Schritt: Die Muslime sind den Hindus bevölkerungsmässig unterlegen, die muslimischen Eliten sind nach Pakistan ausgewandert, der ökonomische Status der Muslime liegt weit unter jenem der Hindus, die Hindus diskriminieren die Muslime bei der Rekrutierung in öffentliche Ämter. Man ist dem andern unterlegen und bereit zum Märtyrertum – durch die Kraft des Glaubens. Doch dieser Glaube – und nun folgt auch hier der Umschlag – ist der reine Glaube, der alle Menschen eint und gleichberechtigt macht. Die Hindus dagegen sind in Tausende von Kasten gespalten. „Sie haben keinen Platz in ihrem Herzen für ihre eigenen Brüder“. Das ist die Stärke der indischen Muslime – für sie kommt die Kraft aus der Umma, dem Volk Allahs. Beide, die Hindu und der Muslim, führen dieselbe Schrittfolge aus: verfolgte Minderheit – Angst vor Identitäts-(oder existentiellem) Verlust – Zorn, Auflehnung – Behauptung der eigenen Identität. Die Konstellation einer symmetrischen Gegnerschaft, in der beide einmal Mehrheit, einmal Minderheit sind, steigert, sagt Kakar, das Gefühl des Verfolgtseins und damit die Gewaltbereitschaft und die Sicherheit des Sieges. Es ist die Konstruktion des eigenen Ich aus der Negation des anderen – und sie enthält damit die Bereitschaft zur Gewalt, im Namen Gottes. 4 Muslims und Hindus: Genese und Ausweitung des Konflikts 4.1 „Divide and Rule“ Dies ist die psychologische Momentaufnahme. Doch wie kommt es zu dieser Befindlichkeit? Wie kommt es, dass zwei Religionsgemeinschaften während sechshundert Jahren – vom 13. bis ins 18. Jahrhundert – zusammenlebten in einer „Toleranz der Verschiedenheit“. Es war gewiss keine Zeit ohne Gewalt, aber es gibt, soweit die Historiker dies feststellen können, keine Evidenz von 71

3.1 Angst der Mehrheit...<br />

Zunächst der psychologische Ansatz, ausgelöst durch die Frage, wie es kommt,<br />

dass sich eine erdrückende Mehrheit von 82% Hindus – immerhin 800 Millionen<br />

Menschen – von einer Minderheit von 12% Muslimen bedroht fühlen kann.<br />

Ich referiere dabei im wesentlichen über eine Studie des Psychoanalytikers<br />

Sudhir Kakar, der in einer ausführlichen Textanalyse der Reden einer Hinduistin<br />

und eines Muslim Merkmale des Denkens religiöser Nationalisten herausarbeitete.<br />

Die Texte stammen aus den frühen neunziger Jahren. 12<br />

Die Analyse der Reden der hinduistischen ‚Asketin’ und Politikerin Sadhvi<br />

Rithambara – Sadhvi ist die weibliche Form von Sadhu – und des muslimischen<br />

Abgeordneten Ubedullah Azmi fördert ein Paradox zutage: Die quantitativen<br />

Kräfteverhältnisse in Form von Mehrheit und Minderheit genügen nicht, um<br />

Angst bei der Minderheit und aggressive Siegespose bei der Mehrheit zu erklären.<br />

Im Gegenteil, beide fühlen sich als gefährdete Minorität – und gleichzeitig<br />

auch als triumphierende Mehrheit, als Märtyrer und Sieger. Es ist erst diese<br />

Koppelung, die psychologisch virulent wird.<br />

Auch der Hindu fühlt sich also als Minderheit. Gemäss Rithambara, einer heute<br />

etwa 40jährigen Frau, ist Indien umgeben von islamischen Staaten im Westen<br />

und Osten; Öldollars fliessen ins Land, um immer mehr Hindus zu bekehren –<br />

während der Hinduismus nicht bekehrt; die Muslime haben Pakistan und Bangladesch,<br />

dennoch geniessen sie in diesem von ihnen verstümmelten Indien noch<br />

besondere Minderheitsrechte. Die Hindus etwa müssen die Geburtenkontrolle<br />

befolgen, während die Muslime in den Worten Rithambaras „sechs Frauen und<br />

30-35 Kinder haben und sich wie Moskitos und Fliegen vermehren“.<br />

Doch dann folgt die Umkehrung: Muslime sind zwar die Zitrone, welche die<br />

Hindu-Milch sauer werden lässt. „Aber seht das Resultat an: die ausgepresste<br />

Zitrone landet auf dem Abfall, während aus der gebrochenen Milch Frischkäse<br />

gewonnen wird, der noch widerstandsfähiger ist als Milch“. Die Muslime mögen<br />

Pakistan haben – die Hindus haben ein weitaus grösseres Hindustan; und<br />

diese Statistik gibt ihnen das Recht, den Muslimen vorzuschreiben, wie sie sich<br />

zu verhalten haben: Es ist die Selbstbehauptung der Mehrheit – aber nun mit<br />

aggressiver Spitze.<br />

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Kakar, S. The Colours of Violence. Delhi 1995. S. 182-238.<br />

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