Zürcher Beiträge 54 endgültig - ETH Zürich

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26.12.2013 Aufrufe

gewordene – Erfahrung einer Frömmigkeit, in der alles Lebende, bis hin zur scheinbar leblosen Natur von Felsen, Waldlichtungen und Landschaften, vom Sakralen durchtränkt ist. 7 2.3 ...und als Gewalt Was viele Indien-Reisende aber nur aus den Zeitungen kennen, ist die andere Seite, die sich in einer Statistik am knappsten fassen lässt: In den vierzig Jahren zwischen 1954 und 1994, so hat der Politologe Christophe Jaffrelot errechnet, 8 kam es in Indien zu 17 737 Unruhen allein zwischen Hindus und Muslimen, mit beinahe ebensoviel Toten (13 703). Dies sind die offiziellen Zahlen, die man in der Regel als konservative Schätzungen bewerten muss. Sie ergeben für jeden Tag in diesen vierzig Jahren mehr als einen ‚Riot’. Und wenn man den gleichen Zeitraum in Zehnjahresperioden teilt, lässt sich folgender Trend feststellen: zwischen 1954 und 1963 waren es 606, von 1964-1973 waren es 3 774, 1974- 1983 3 053, und zwischen 1984-1994 schliesslich gab es 10 304 religiös motivierte Ausschreitungen. Dies zeigt, dass die emotionale Kraft des Religiösen und ihre soziale Identifikationsfähigkeit auch den öffentlichen Raum besetzen und dort eine zerstörerische Virulenz annehmen kann. Es wird ein Thema dieses Vortrags sein zu fragen, warum dies so ist. Ein Hinweis auf mögliche Antworten gibt die eben erwähnte starke Zunahme von Unruhen: Je mehr sich Indien entwickelt, öffnet, modernisiert, je weiter es sich von seinem eigenen „Holocaust“ entfernt – eine Million Tote, zehn Millionen Flüchtlinge – desto mehr nimmt, paradoxerweise, die Gewalt zu. Diese Feststellung lässt uns jetzt schon vermuten, dass historische Gründe allein nicht genügen, um religiöse Gewaltkonflikte zu erklären. Ein weiterer Hinweis ist die Lokalität: 90% dieser Unruhen haben in Städten und Industriezonen stattgefunden. 7 8 Das Erstaunliche dabei ist, dass sich in dieser Zusammenschau von Profanem und Heiligem nicht nur ein sogenannt primitiver Naturglauben ausdrückt, sondern dass diesem ‚magischen Denken’ ein hochbewusstes System zur Seite steht, das diese magische Verschmelzung von profanem Ich und göttlicher Natur philosophisch begründet (Schwab, Raymond. La Renaissance Orientale. Paris 1950). Jaffrelot, Christophe. La démocratie en Inde. Paris 1998. S. 298. 68

Wie kommt es, dass die Hindus in so viele gewalttätige Auseinandersetzungen verwickelt sind, wenn doch eigentlich alles dagegen spricht? Der Hinduismus ist, wie erwähnt, eine Religion, die geradezu definiert wird durch ihre Bereitschaft, die Vielfalt der religiösen Erfahrung zu akzeptieren. Während die monotheistischen „Religionen des Buchs“ – Judentum, Christentum, Islam – im anderen eine Herausforderung, wenn nicht eine Gefährdung der eigenen Überzeugung sehen, 9 ist der Hinduismus in sich schon ein Potpourri von Glaubensformen, die vom Mono- zum Polytheismus gehen, vom Deismus zum Theismus und Atheismus – und es gibt keine kirchliche Instanz, die festhält, was gilt. Gandhi hat einmal gesagt, gerade „weil ich ein strenggläubiger Hindu bin, bin ich auch ein Muslim und ein Christ.“ 10 Zudem bezeichnete der Begriff Hinduismus erst um die letzte Jahrhundertwende im Sprachgebrauch eine Religion; zuvor war es eine geographische Bezeichnung und meinte die jenseits des Indus-Stroms gewachsenen Glaubensformen. 11 3 Religiöse Gewalt: Psychologische Faktoren Es gibt zwei Ansätze, mit denen die Antwort traditionell angegangen wird – einen psychologischen und einen geschichtlichen. Auch ich werde diese beiden Erklärungselemente darstellen, bevor ich sie um eine dritte Variante zu erweitern versuche. 9 10 11 Bereits Arthur Schopenhauer hatte in seinen „Parerga“ im letzten Jahrhundert behauptet, er müsse, „um der Wahrheit gerecht zu tun, hinzufügen, dass die fanatischen Greueltaten, die im Namen der Religion ausgeführt werden, nur den Anhängern monotheistischer Religionen angelastet werden können, das heisst dem Judaismus und seinen beiden Zweigen, dem Christentum und dem Islam. Nichts dergleichen kann bei den Hindus und den Buddhisten gefunden werden“ (Schwab, S. 449). Gandhi, M. K.; zit. nach A. Nandy. The Politics of Secularism and the Recovery of Religious Tolerance. In: Veena Das (Hg.). Mirrors of Violence. Delhi 1990. S. 91. Badrinath, Ch. Dharma. India and the World Order. Edinburgh 1993. S. 19 ff. 69

gewordene – Erfahrung einer Frömmigkeit, in der alles Lebende, bis hin zur<br />

scheinbar leblosen Natur von Felsen, Waldlichtungen und Landschaften, vom<br />

Sakralen durchtränkt ist. 7<br />

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Was viele Indien-Reisende aber nur aus den Zeitungen kennen, ist die andere<br />

Seite, die sich in einer Statistik am knappsten fassen lässt: In den vierzig Jahren<br />

zwischen 19<strong>54</strong> und 1994, so hat der Politologe Christophe Jaffrelot errechnet, 8<br />

kam es in Indien zu 17 737 Unruhen allein zwischen Hindus und Muslimen, mit<br />

beinahe ebensoviel Toten (13 703). Dies sind die offiziellen Zahlen, die man in<br />

der Regel als konservative Schätzungen bewerten muss. Sie ergeben für jeden<br />

Tag in diesen vierzig Jahren mehr als einen ‚Riot’. Und wenn man den gleichen<br />

Zeitraum in Zehnjahresperioden teilt, lässt sich folgender Trend feststellen:<br />

zwischen 19<strong>54</strong> und 1963 waren es 606, von 1964-1973 waren es 3 774, 1974-<br />

1983 3 053, und zwischen 1984-1994 schliesslich gab es 10 304 religiös motivierte<br />

Ausschreitungen. Dies zeigt, dass die emotionale Kraft des Religiösen<br />

und ihre soziale Identifikationsfähigkeit auch den öffentlichen Raum besetzen<br />

und dort eine zerstörerische Virulenz annehmen kann.<br />

Es wird ein Thema dieses Vortrags sein zu fragen, warum dies so ist. Ein Hinweis<br />

auf mögliche Antworten gibt die eben erwähnte starke Zunahme von Unruhen:<br />

Je mehr sich Indien entwickelt, öffnet, modernisiert, je weiter es sich von<br />

seinem eigenen „Holocaust“ entfernt – eine Million Tote, zehn Millionen<br />

Flüchtlinge – desto mehr nimmt, paradoxerweise, die Gewalt zu. Diese Feststellung<br />

lässt uns jetzt schon vermuten, dass historische Gründe allein nicht genügen,<br />

um religiöse Gewaltkonflikte zu erklären. Ein weiterer Hinweis ist<br />

die Lokalität: 90% dieser Unruhen haben in Städten und Industriezonen<br />

stattgefunden.<br />

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Das Erstaunliche dabei ist, dass sich in dieser Zusammenschau von Profanem und Heiligem<br />

nicht nur ein sogenannt primitiver Naturglauben ausdrückt, sondern dass diesem ‚magischen<br />

Denken’ ein hochbewusstes System zur Seite steht, das diese magische Verschmelzung von<br />

profanem Ich und göttlicher Natur philosophisch begründet (Schwab, Raymond. La Renaissance<br />

Orientale. Paris 1950).<br />

Jaffrelot, Christophe. La démocratie en Inde. Paris 1998. S. 298.<br />

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