Zürcher Beiträge 54 endgültig - ETH Zürich
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von Ayodhya bot sich als idealer symbolischer Brennpunkt dafür an. Das Städtchen<br />
Ayodhya in der nordindischen Gangesebene war das Zentrum eines mythischen<br />
Gottesstaates des populären Gottes Ram gewesen. Doch an dessen<br />
Geburtsort stand eine muslimische Moschee. Deren Rückgabe und Ersetzung<br />
durch einen Ram-Tempel war eine alte Forderung der Hindus, die nun wieder<br />
aufgenommen wurde.<br />
Der Pilgerzug, den Advani 1990 mit Ziel Ayodhya organisierte, liess in ganz<br />
Nordindien eine Blutspur von Zusammenstössen hinter sich. Zwei Jahre später,<br />
am 6. Dezember 1992, kulminierte die Krise im Sturm der Moschee durch fanatische<br />
Hindus, die sie innert Stunden dem Erdboden gleichmachten. Ihr folgten<br />
die schwersten Ausschreitungen seit den Teilungsmassakern von 1947, mit<br />
Tausenden von Toten. Die BJP, welche die Agitation wenn nicht gelenkt, so<br />
doch politisch abgestützt hatte, konnte bald die Früchte ihrer Arbeit ernten.<br />
Bereits in den Wahlen von 1989 hatte sie sich von drei auf 86 Sitze gesteigert,<br />
1991 waren es bereits 120 Sitze, 1996 160, und 1998 trat sie, mit 182 Sitzen, an<br />
die Spitze einer Koalitionsregierung, aus der sie erst vor zehn Tagen vertrieben<br />
worden ist. 20<br />
4.3.4 Nationalismus: Der Faktor Pakistan<br />
Wie konnte ein Volk, dessen religiöse Toleranz ein Fundament seiner Zivilisation<br />
ist, die Gewaltanwendung einer Partei mit ihrer eigenen Wahlstimme honorieren?<br />
Zwei Gründe für die wachsende Gleichsetzung von Religion und Politik<br />
haben wir schon genannt – die schleichende Aushöhlung des Säkularismus-<br />
Gedankens (und damit der Toleranz) und die wachsende Frustration wegen des<br />
wirtschaftlichen Schleichganges. Ein zusätzlicher Faktor war auch Pakistan.<br />
Dessen Betonung der religiösen Identität war von Anfang an ein Stachel im<br />
Fleisch seines Nachbarn. Pakistans Anspruch auf Kaschmir wurde ein Kampf<br />
um die Definition dessen, was eine Nation ausmacht: Galt die „Zwei-Nationen-<br />
Theorie“ von Jinnah – dass jede religiöse Gemeinschaft ihre eigene staatliche<br />
Heimat habe – den Muslimen gehört Pakistan, den Hindus Hindustan? Dann<br />
musste Kaschmir mit seiner muslimischen Mehrheit zu Pakistan geschlagen<br />
werden. Oder galt Indiens Staatsprinzip – wir sind kein religiöser Staat, sondern<br />
ein multikultureller Staat? Dann musste Kaschmir in Indien bleiben.<br />
20<br />
Jaffrelot, S. 305 ff.<br />
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