W. Scheffknecht: 100 Jahre Marktgemeinde Lustenau ... - H-Soz-u-Kult
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Grabher.<br />
In den jeweiligen Zeitabschnitten verfolgte<br />
<strong>Scheffknecht</strong> das Ziel, Entwicklungsstränge,<br />
die das Leben im <strong>Lustenau</strong> des 20. Jahrhunderts<br />
prägten und für die Identitätsbildung<br />
maßgeblich beteiligt waren, aufzuzeigen.<br />
Dazu zählen das Liebäugeln mit dem<br />
Terminus „Ein sehr großes Dorf“ (S. 24), die<br />
Gefahren und die Lage am Rhein sowie die<br />
Nähe zur Schweizer Grenze (Schmuggler-,<br />
Fergger- und Stickereiwesen), das Hausnamen(un)wesen<br />
und die Persönlichkeiten aus<br />
Klerus, Politik, Kunst und Sport.<br />
Die Stickerei hat alle Lebensbereiche der<br />
Bevölkerung nachhaltig durchdrungen. Ihr<br />
verdankt <strong>Lustenau</strong> den wirtschaftlichen Aufstieg<br />
und den Wohlstand, aber auch Selbstausbeutung<br />
und Kinder- und Familienarbeit<br />
mit langen Arbeitszeiten (S. 34). Die Gründung<br />
einer Handelsschule und des ersten Vorarlberger<br />
Fußballclubs sowie zahlreiche andere<br />
Vereine wären ohne Stickerei nicht denkbar.<br />
<strong>Lustenau</strong> entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit<br />
zur absoluten Vorarlberger<br />
Sportlerhochburg. Fünf der sechs Sommerolympiadenteilnehmer<br />
1936 kamen aus <strong>Lustenau</strong><br />
(Ernst Künz, Fußball-Silbermedaille).<br />
Eine Wurzel der Sporthochburg ist in den<br />
politischen Verhältnissen des Ortes zu suchen.<br />
In allen Sparten gab es mehrere Vereine<br />
mit unterschiedlicher politischer Orientierung<br />
und diese Konkurrenzsituation ist nach<br />
<strong>Scheffknecht</strong> leistungsfördernd gewesen.<br />
In den 1880er-<strong>Jahre</strong>n hat mit der Kasiner-<br />
Bewegung (S. 68) die Konstituierung der<br />
politischen Lager begonnen. Eine neue<br />
Priestergeneration engagierte sich gegen<br />
die „josephinisch-staatstreue Kirchenhierarchie“(S.54).<br />
Ihr Bestreben war die<br />
Ideologisierung der Ortspolitik und des<br />
Vereinswesens. Von der Kanzel aus trieben<br />
sie die Klerikalisierung des gesamten gesellschaftlichen<br />
Lebens voran. Liberale mit<br />
einem katholischen Antiklerikalismus waren<br />
in der Gemeinde zahlreich, da sie über ein<br />
traditionell sehr starkes großdeutsches Lager<br />
verfügte. Diese träumten seit 1848 den Traum<br />
von der Vereinigung aller Deutschen in einem<br />
Staat.<br />
<strong>Lustenau</strong> zählte zu den Vorarlberger NS-<br />
Hochburgen. Mit dieser Arbeit wird erstmals<br />
eine eklatante NS-Forschungslücke geschlossen.<br />
<strong>Scheffknecht</strong> folgt dabei dem Erklärungsmodell<br />
von Hans-Ulrich Wehler, der<br />
den Nationalsozialismus als ein „Systemsich-überlappender-Kreise“<br />
beschrieben hat.<br />
In zwei weiteren Abschnitten, die den <strong>Lustenau</strong>er<br />
Bürgermeistern und der Gemeindepolitik<br />
gewidmet sind, geht <strong>Scheffknecht</strong> auf<br />
die Kontinuitäten und die Diskontinuitäten<br />
der politischen Lagerkultur ein. Auch hier<br />
wurde von <strong>Scheffknecht</strong> erstmals Grundlagenarbeit<br />
geleistet. Dabei verdeutlicht er, dass<br />
auch in <strong>Lustenau</strong> nach 1945 zwar ein Systemwechsel,<br />
aber kein Wechsel des politischen<br />
Personals stattgefunden hat. Jene, die bis in<br />
die frühen 1960er-<strong>Jahre</strong> die Ortspolitik bestimmten,<br />
hatten in der Regel bereits im Ständestaat<br />
(1934-1938) oder in der NS-Zeit wichtige<br />
Positionen bekleidet. Trotz der personellen<br />
Kontinuität vollzog sich aber auch in <strong>Lustenau</strong><br />
der Übergang zur Konsensdemokratie.<br />
Die Synergie von Archivar, Pädagoge und<br />
Erwachsenenbildner ist omnipräsent. Zahlreiche<br />
schnörkellose Grafiken, Tabellen und viele<br />
Bilder in ausgezeichneter Qualität zeichnen<br />
das Werk aus. Manches Mal hat man<br />
aber den Eindruck, der Wissenschaftstext hatte<br />
sich den Anweisungen des Grafikers zu<br />
fügen (keine Zwischenüberschriften). Anglizismen<br />
sind selten: Headhunter (S. 40/2),<br />
Hardliners (S. 52/3) und Boomzeit (S. 80/3)<br />
und verweisen auf den engagierten Pädagogen<br />
<strong>Scheffknecht</strong>. Ein Register hätte die wissenschaftliche<br />
Anwendbarkeit noch weiter erhöht!<br />
Gratulation an das Lektorat! Da mit einer<br />
zweiten Auflage zu rechnen ist, sei auf<br />
die Rechtschreibfehler verwiesen S. 248: Schönen(!)bach,<br />
S. 252 Cou(!)leur.<br />
Dieses Werk entspricht ohne Zweifel den<br />
Anforderungen des Auftraggebers und es<br />
kann jederzeit als Modell und Gradmesser für<br />
die allgemeine „Lokal- bzw. Ortsgeschichte“<br />
weit über Vorarlberg hinaus dienen. Allen Beteiligten<br />
ist zu gratulieren! Mögen viele Gemeinden<br />
und Städte diesem Beispiel folgen!<br />
HistLit 2004-1-144 / Klaus Plitzner über<br />
<strong>Scheffknecht</strong>, Wolfgang: <strong>100</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Marktgemeinde</strong><br />
<strong>Lustenau</strong> 1902 bis 2002. Eine Chronik.<br />
<strong>Lustenau</strong> 2003. In: H-<strong>Soz</strong>-u-<strong>Kult</strong> 16.03.2004.<br />
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