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W. Scheffknecht: 100 Jahre Marktgemeinde Lustenau ... - H-Soz-u-Kult

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W. <strong>Scheffknecht</strong>: <strong>100</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Marktgemeinde</strong> <strong>Lustenau</strong> 2004-1-144<br />

<strong>Scheffknecht</strong>, Wolfgang: <strong>100</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Marktgemeinde</strong><br />

<strong>Lustenau</strong> 1902 bis 2002. Eine Chronik.<br />

<strong>Lustenau</strong>: <strong>Marktgemeinde</strong> <strong>Lustenau</strong>, <strong>Kult</strong>urreferat<br />

2003. ISBN: 3-900954-06-2; 428 S.<br />

Rezensiert von: Klaus Plitzner, Bregenz<br />

Am 13. Juni 1902 ernannte Kaiser Franz Josef<br />

I. <strong>Lustenau</strong> zur <strong>Marktgemeinde</strong>. Diese Standeserhöhung<br />

war mit dem Recht auf vier zusätzliche<br />

Vieh- und Krämermärkte verbunden<br />

und die <strong>Marktgemeinde</strong> wurde heute<br />

mit über 20.000 Einwohnern die größte<br />

(Markt-)Gemeinde Österreichs. Im Westen<br />

bildet der Alpen-Rhein seit über 650 <strong>Jahre</strong>n<br />

nicht nur die Gemeindegrenze. Er ist gleichzeitig<br />

auch Landes- und Staatsgrenze zwischen<br />

dem österreichischen Bundesland Vorarlberg<br />

und dem Schweizerischen Kanton St.<br />

Gallen.<br />

<strong>Lustenau</strong>s Bürgermeister Hans-Dieter<br />

Grabher und der Gemeinderat und <strong>Kult</strong>urreferent<br />

Ernst Hagen wollten dieses Jubiläum<br />

nicht nur feiern, sie wollten es auch zum<br />

Anlass nehmen, um die „rasante Entwicklung“<br />

der <strong>Marktgemeinde</strong> in den letzten <strong>100</strong><br />

<strong>Jahre</strong>n dokumentieren zu lassen und zwar<br />

in einem leicht lesbaren „wissenschaftlichhistorischen<br />

Nachschlagewerk“ (S. 7). Dafür<br />

konnten sie den <strong>Lustenau</strong>er Historiker und<br />

Gemeindearchivar Wolfgang <strong>Scheffknecht</strong><br />

gewinnen.<br />

„Diese Chronik“ verstehe sich als knapper,<br />

unvollständiger Überblick über die letzten<br />

<strong>100</strong> <strong>Jahre</strong> der <strong>Marktgemeinde</strong>. Aufbau und<br />

Struktur folgen, so <strong>Scheffknecht</strong> im Vorwort<br />

„einem doppelten Prinzip: Jedem der sieben<br />

Kapitel ist ein chronikalischer Teil vorangestellt,<br />

der rasche Information zu den Ergebnissen<br />

eines Zeitabschnitts bieten soll. Im Interesse<br />

leichterer Lesbarkeit wurde hier auf<br />

einen Anmerkungsapparat verzichtet [. . . ]. Jedes<br />

der sieben Kapitel wird durch eine Reihe<br />

von Artikeln über historische Phänomene,<br />

Persönlichkeiten und Ereignisse ergänzt,<br />

die für die Ortsgeschichte von Bedeutung<br />

sind. Ihre Auswahl ist bis zu einem gewissen<br />

Grad subjektiv. [. . . ] Der vorgegebene Rahmen<br />

zwang zur Beschränkung, sodass etliche<br />

Persönlichkeiten, Phänomene und Ereignisse,<br />

die eine eingehendere Darstellung verdient<br />

hätten, unberücksichtigt bleiben mussten<br />

[. . . ]“ (S. 10f.).<br />

Vorgelegt hat <strong>Scheffknecht</strong> ein passend<br />

illustriertes Opus, das diesen Anforderungen,<br />

Publikumsorientierung und fachwissenschaftliche<br />

Standards jederzeit erfüllt! Die Arbeit<br />

ist quellenimmanent und trotzdem sehr<br />

lese(r)freundlich, teils essayartig geschrieben,<br />

weder sperrig und langatmig. Ausgewogenheit<br />

zwischen straffer historischer Darstellung<br />

und Einbeziehen von subjektiven Erfahrungen<br />

der Zeitgenossen ist ebenfalls positiv<br />

zu er wähnen. Das ständige Prüfen der Literatur<br />

an den <strong>Lustenau</strong>er Quellen bewirkt<br />

ein eigenständiges Reflektieren der Interpretationsstränge.<br />

(z.B. S. 54: Hanisch, Ernst, Die<br />

langen Schatten des Staates, Wien 1994 oder<br />

S.35: Tanner, Albert, Spulen–Weben–Sticken.<br />

Die Industrialisierung in Appenzell Außerhoden,<br />

Zürich 1982) Auch auf die immer wieder<br />

eingestreuten gelungenen methodischen Reflexionen<br />

ist hinzuweisen.<br />

Wiederholungen und Überschneidungen<br />

dienen dem Verständnis und sind wohl nur<br />

für den Rezensenten wahrnehmbar. Die Problemstellungen,<br />

die an aktuelle Forschungskontexte,<br />

nicht nur der Vorarlberger und der<br />

Österreichischen Geschichtsforschung sondern<br />

auch jener der Deutschen und Schweizerischen<br />

anschließen, sind überaus detailreich<br />

geschildert und decken Bereiche aus Politik<br />

und Wirtschaft, aus <strong>Kult</strong>ur und Sport, aus<br />

dem kirchlichen Leben oder aus der Kunst ab.<br />

Das einzige Ordnungskriterium ist die Chronologie;<br />

stark und schwach zugleich, um die<br />

„überwältigende Komplexität der Geschichte“<br />

(Jaques LeGoff) ein bisschen wiedergeben<br />

zu können. Um dieser Schwäche zu begegnen,<br />

so <strong>Scheffknecht</strong>, werden durch eine<br />

Reihe von Artikeln historische Phänomene,<br />

Persönlichkeiten und Ereignisse, die für<br />

die Gemeindegeschichte von Bedeutung sind,<br />

eingestreut. Darin geht <strong>Scheffknecht</strong> auf die<br />

Kausalzusammenhänge der Ereignisse, auf<br />

das Prozesshafte der historischen Entwicklung<br />

ein.<br />

Bei den Kurzbiografien verknüpft er am<br />

Beispiel Casimir Hämmerle das allgemeine<br />

Phänomen des liberalen Bürgertums. Hämmerle<br />

begann Ende des 19. Jahrhunderts fern<br />

von der Heimat, in Wien, als Erster die Tradition<br />

der <strong>Lustenau</strong>er Mundartdichtung (S.<br />

154), ihm folgten Beno Vetter und Hannes<br />

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Grabher.<br />

In den jeweiligen Zeitabschnitten verfolgte<br />

<strong>Scheffknecht</strong> das Ziel, Entwicklungsstränge,<br />

die das Leben im <strong>Lustenau</strong> des 20. Jahrhunderts<br />

prägten und für die Identitätsbildung<br />

maßgeblich beteiligt waren, aufzuzeigen.<br />

Dazu zählen das Liebäugeln mit dem<br />

Terminus „Ein sehr großes Dorf“ (S. 24), die<br />

Gefahren und die Lage am Rhein sowie die<br />

Nähe zur Schweizer Grenze (Schmuggler-,<br />

Fergger- und Stickereiwesen), das Hausnamen(un)wesen<br />

und die Persönlichkeiten aus<br />

Klerus, Politik, Kunst und Sport.<br />

Die Stickerei hat alle Lebensbereiche der<br />

Bevölkerung nachhaltig durchdrungen. Ihr<br />

verdankt <strong>Lustenau</strong> den wirtschaftlichen Aufstieg<br />

und den Wohlstand, aber auch Selbstausbeutung<br />

und Kinder- und Familienarbeit<br />

mit langen Arbeitszeiten (S. 34). Die Gründung<br />

einer Handelsschule und des ersten Vorarlberger<br />

Fußballclubs sowie zahlreiche andere<br />

Vereine wären ohne Stickerei nicht denkbar.<br />

<strong>Lustenau</strong> entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit<br />

zur absoluten Vorarlberger<br />

Sportlerhochburg. Fünf der sechs Sommerolympiadenteilnehmer<br />

1936 kamen aus <strong>Lustenau</strong><br />

(Ernst Künz, Fußball-Silbermedaille).<br />

Eine Wurzel der Sporthochburg ist in den<br />

politischen Verhältnissen des Ortes zu suchen.<br />

In allen Sparten gab es mehrere Vereine<br />

mit unterschiedlicher politischer Orientierung<br />

und diese Konkurrenzsituation ist nach<br />

<strong>Scheffknecht</strong> leistungsfördernd gewesen.<br />

In den 1880er-<strong>Jahre</strong>n hat mit der Kasiner-<br />

Bewegung (S. 68) die Konstituierung der<br />

politischen Lager begonnen. Eine neue<br />

Priestergeneration engagierte sich gegen<br />

die „josephinisch-staatstreue Kirchenhierarchie“(S.54).<br />

Ihr Bestreben war die<br />

Ideologisierung der Ortspolitik und des<br />

Vereinswesens. Von der Kanzel aus trieben<br />

sie die Klerikalisierung des gesamten gesellschaftlichen<br />

Lebens voran. Liberale mit<br />

einem katholischen Antiklerikalismus waren<br />

in der Gemeinde zahlreich, da sie über ein<br />

traditionell sehr starkes großdeutsches Lager<br />

verfügte. Diese träumten seit 1848 den Traum<br />

von der Vereinigung aller Deutschen in einem<br />

Staat.<br />

<strong>Lustenau</strong> zählte zu den Vorarlberger NS-<br />

Hochburgen. Mit dieser Arbeit wird erstmals<br />

eine eklatante NS-Forschungslücke geschlossen.<br />

<strong>Scheffknecht</strong> folgt dabei dem Erklärungsmodell<br />

von Hans-Ulrich Wehler, der<br />

den Nationalsozialismus als ein „Systemsich-überlappender-Kreise“<br />

beschrieben hat.<br />

In zwei weiteren Abschnitten, die den <strong>Lustenau</strong>er<br />

Bürgermeistern und der Gemeindepolitik<br />

gewidmet sind, geht <strong>Scheffknecht</strong> auf<br />

die Kontinuitäten und die Diskontinuitäten<br />

der politischen Lagerkultur ein. Auch hier<br />

wurde von <strong>Scheffknecht</strong> erstmals Grundlagenarbeit<br />

geleistet. Dabei verdeutlicht er, dass<br />

auch in <strong>Lustenau</strong> nach 1945 zwar ein Systemwechsel,<br />

aber kein Wechsel des politischen<br />

Personals stattgefunden hat. Jene, die bis in<br />

die frühen 1960er-<strong>Jahre</strong> die Ortspolitik bestimmten,<br />

hatten in der Regel bereits im Ständestaat<br />

(1934-1938) oder in der NS-Zeit wichtige<br />

Positionen bekleidet. Trotz der personellen<br />

Kontinuität vollzog sich aber auch in <strong>Lustenau</strong><br />

der Übergang zur Konsensdemokratie.<br />

Die Synergie von Archivar, Pädagoge und<br />

Erwachsenenbildner ist omnipräsent. Zahlreiche<br />

schnörkellose Grafiken, Tabellen und viele<br />

Bilder in ausgezeichneter Qualität zeichnen<br />

das Werk aus. Manches Mal hat man<br />

aber den Eindruck, der Wissenschaftstext hatte<br />

sich den Anweisungen des Grafikers zu<br />

fügen (keine Zwischenüberschriften). Anglizismen<br />

sind selten: Headhunter (S. 40/2),<br />

Hardliners (S. 52/3) und Boomzeit (S. 80/3)<br />

und verweisen auf den engagierten Pädagogen<br />

<strong>Scheffknecht</strong>. Ein Register hätte die wissenschaftliche<br />

Anwendbarkeit noch weiter erhöht!<br />

Gratulation an das Lektorat! Da mit einer<br />

zweiten Auflage zu rechnen ist, sei auf<br />

die Rechtschreibfehler verwiesen S. 248: Schönen(!)bach,<br />

S. 252 Cou(!)leur.<br />

Dieses Werk entspricht ohne Zweifel den<br />

Anforderungen des Auftraggebers und es<br />

kann jederzeit als Modell und Gradmesser für<br />

die allgemeine „Lokal- bzw. Ortsgeschichte“<br />

weit über Vorarlberg hinaus dienen. Allen Beteiligten<br />

ist zu gratulieren! Mögen viele Gemeinden<br />

und Städte diesem Beispiel folgen!<br />

HistLit 2004-1-144 / Klaus Plitzner über<br />

<strong>Scheffknecht</strong>, Wolfgang: <strong>100</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Marktgemeinde</strong><br />

<strong>Lustenau</strong> 1902 bis 2002. Eine Chronik.<br />

<strong>Lustenau</strong> 2003. In: H-<strong>Soz</strong>-u-<strong>Kult</strong> 16.03.2004.<br />

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