Marcel Kolvenbach - Heinz-Kühn-Stiftung
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<strong>Marcel</strong> <strong>Kolvenbach</strong><br />
Peru<br />
Picchu aufbrechen. Die Stelle ist berüchtigt, weil hier neben den ehrlichen<br />
Verkäufern auch die kleinen Langfinger aufspringen, die sich an dem Gepäck<br />
der Reisenden zu schaffen machen. Vor St. Ana hatten mich alle gewarnt. Ein<br />
dubioser Anwalt, der sich wohl als Folterknecht einen Namen gemacht hatte<br />
und mein Taxifahrer, der sich weigerte, in das Viertel zu fahren. Ich musste<br />
also zu Fuß den roten Berghang hinauf, vorbei an den waschenden Frauen<br />
an dem einzigen Brunnen des Viertels und den herumstehenden Gruppen<br />
junger und alter Menschen, die mich, den Europäer, erstaunt musterten.<br />
Ich ging die Straße am Kanal entlang, an der wir Ruth vor vier Jahren<br />
interviewt hatten. Ich konnte mich nicht an die Hausnummer erinnern, also<br />
sprach ich jeden an, den ich traf, zeigte die Fotos, nannte ihren Namen<br />
und fragte, ob sie jemand kennen würde. Ich fragte in den kleinen Läden<br />
nach und bei den Jungs, die die Straße unter Kontrolle zu haben schienen.<br />
Kopfschütteln. Nie gesehen, nie gehört, keiner kann etwas sagen. Langsam<br />
habe ich den Verdacht, dass niemand etwas sagen will. Aus Prinzip. Aus<br />
Schutz. Nur die Jungen, denen ich am Ende meiner Suche wieder begegne,<br />
scheinen wirklich keine Ahnung zu haben, sie finden die Frau auf dem Bild<br />
hübsch und müssen über mich lachen, klar, glauben sie zu wissen, was ein<br />
Europäer von einer Frau in so einem Viertel will, sie fragen, ob es nicht<br />
auch ein anderes Mädchen sein könne. Ich verneine und verlasse das Viertel,<br />
ergebnislos.<br />
Früh am nächsten Morgen mache ich einen zweiten Anlauf vor dem<br />
Bahnhof. Hier treffen sich die Kolleginnen von Ruth. Ich frage die<br />
Verkäuferinnen und Herumstehenden. Einige meinen sich an das Gesicht<br />
zu erinnern, sie komme aus einem der Dörfer im Tal, aber sicher waren sie<br />
sich nicht.<br />
Ich durchkämme die gegenüberliegenden Markthallen, trinke einen frisch<br />
gepressten Saft: Papaya und Ananas ist mein Favorit, einen halben Liter<br />
für einen Euro. Ich laufe durch Berge von Käse, Gemüse, Fisch und frisch<br />
geschlachtetem Fleisch. Enthäutete Pferdeköpfe, Kuhmägen, Schweinefüße,<br />
lange Reihen mit Suppenküchen, nirgendwo in der Welt gibt es bessere<br />
Suppen als hier. Eine Halle voller Gerüche. Ich mustere alle Gesichter, jeden<br />
Stand. Ruth hat manchmal auf dem Markt gearbeitet wusste ich, aber auch hier<br />
konnte ich sie nicht entdecken. Ich gebe auf und muss mich damit abfinden,<br />
dass Menschen in Peru an einem Ort auftauchen und wieder verschwinden,<br />
ohne eine Spur zu hinterlassen, vielleicht war sie weitergereist nach Lima<br />
um dort ihr Glück zu versuchen, wie 9 Millionen andere Menschen, von<br />
denen die meisten nach und nach aus dem Umland vor Armut und Terror in<br />
die Hauptstadt geflüchtet sind, oder sie ist zurückgekehrt in ihr Heimatdorf,<br />
das Haus der Großeltern, oder..., aber über das letzte oder möchte ich nicht<br />
nachdenken.<br />
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