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berlin-istanbul und wieder zurück - Partysan

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INTERVIEW _ THROBBING GRISTLE<br />

INTERVIEW _ THROBBING GRISTLE<br />

MUSICK FROM<br />

THE DEATH FACTORY<br />

THROBBING GRISTLE UND DIE ANFÄNGE DER ELECTRONICA<br />

Text <strong>und</strong> Interview: Arne Löffel<br />

Übersetzung: Marcus Stiglegger <strong>und</strong> David Bucknell<br />

Throbbing Gristle aus England revolutionierten in den späten<br />

70er Jahren den Kunst- <strong>und</strong> Musikbegriff. Sie gelten heute als<br />

Erfinder des Industrial <strong>und</strong> als Impulsgeber für elektronische<br />

Musik jenseits des Mainstreams. Nun melden sie sich nach<br />

26 Jahren mit PART TWO auf Mute <strong>zurück</strong>. Die Legende lebt.<br />

London, 1976: Die unflätigen Attitüden des Punk <strong>und</strong> die<br />

Straßenkrawalle der Arbeiterschaft halten das Establishment<br />

im United Kingdom in Atem. Auf der Bühne eines kleinen<br />

Hinterhof-Clubs stehen derweil vier Gestalten, die mit Punk,<br />

<strong>und</strong> Anarchie nichts zu tun haben wollen. Genesis P-Orridge,<br />

Cosey Fanni Tutti, Chris Carter <strong>und</strong> Peter „Sleazy“<br />

Christopherson gebären unter Schmerzen <strong>und</strong> Schreien,<br />

Schweiß, Fäkalien <strong>und</strong> Blut die Kultformation Throbbing<br />

Gristle (TG). Der schmächtige Genesis P-Orridge ist<br />

Frontmann der ungewöhnlichen Combo, der mit irritierend<br />

sanfter <strong>und</strong> schmerzerfüllter Stimme verstörende Parolen<br />

unters Volk bringt.<br />

Die einzige Frau im B<strong>und</strong>e, Cosey Fanni Tutti, unterstützt ihn<br />

an Gitarre <strong>und</strong> Mikrofon. Sleazy <strong>und</strong> Chris betätigen sich als<br />

So<strong>und</strong>konstrukteure, die nur die Dekonstruktion von<br />

Harmonien im Sinn haben. Besonders Chris Carter experimentiert<br />

viel mit selbstgebauten Synthesizern <strong>und</strong> anderen<br />

Absurditäten herum. So setzen TG mit ihrem Erscheinen auf<br />

der Weltbühne einen der wichtigsten Impulse für elektronische<br />

Musik im Allgemeinen <strong>und</strong> Industrial im Speziellen.<br />

„ZERSTÖRER DER ZIVILISATION“<br />

Alle vier Bandmitglieder stammen ursprünglich aus der<br />

Extrem-Performance-Szene Großbritanniens <strong>und</strong> traten in den<br />

Jahren zuvor als die Performance-Gruppe „Coum<br />

Transmissions“ auf. Dieser Tradition folgend standen die<br />

ersten Livegigs von TG im Zeichen des Terrors: dem Terror für<br />

das Publikum. Genesis P-Orridge biss sich die Arme blutig<br />

<strong>und</strong> spuckte das Blut im hohen Boden in den Zuschauerraum.<br />

Bei einigen ihrer Konzerte schafften sie es, das Publikum mit<br />

noisigen So<strong>und</strong>s <strong>und</strong> aufwiegelnden Parolen in eine derart<br />

aggressive Gr<strong>und</strong>stimmung zu versetzen, dass die Konzerte<br />

wegen Massen-Schlägereien abgebrochen werden mussten.<br />

Die Crowd im wütenden England der späten 70er Jahre liebte<br />

das. Andererseits wurden TG trotz ihres eigentlich intellektuellen<br />

Kontexts von den Intellektuellen gehasst. Viel zu<br />

ursprünglich, zu animalisch, war ihr künstlerisches <strong>und</strong><br />

Vorgehen. Ein Beispiel: „Throbbing Gristle“ ist Yorkshire-<br />

Dialekt für „Erektion“. Tabubruch als Konzept.<br />

Das bürgerliche Lager war entsetzt. Die konservative Partei<br />

im britischen Parlament brachte sogar eine kleine Anfrage in<br />

den Amtsgang ein, mit der sich einer der Parlamentarier über<br />

das Treiben der Musiker, vor allem Coseys künstlerischen<br />

Output erk<strong>und</strong>igte. Er bezeichnete TG in diesem<br />

Zusammenhang als „wreckers of civilization“, die „Zerstörer<br />

der Zivilisation“.<br />

INDUSTRIAL RECORDS<br />

Um ihre ersten eigenen Tonträger verlegen zu können, gründeten<br />

TG eigens hierfür ein Label mit dem Titel „Industrial<br />

Records“. Meist veröffentlichten sie ihre Werke <strong>und</strong> die Werke<br />

anderer Menschen allerdings auf Tape. Denn das ging damals<br />

schneller, als Presswerke zu bemühen. Und es kam dem<br />

improvisierenden Schema von TG nahe. Die Band kam nur<br />

dann zusammen, wenn sie tatsächlich eine Platte aufnahmen<br />

oder live spielten. Keine Proben, keine Studioarbeit – alles<br />

reine Improvisation. So schafften sie es, das TG-Feeling für<br />

sich selbst <strong>und</strong> ihre Zuhörer bis zur Auflösung der Band im<br />

Jahr 1980 zu bewahren.<br />

Industrial Records sollte bis zu seinem Bankrott im Jahr 1981<br />

einer ganzen Musikrichtung ihren Namen verleihen. Durch TG<br />

war Industrial geboren <strong>und</strong> auf Industrial Records veröffentlichten<br />

die Künstler, die mit ihrem noisigen So<strong>und</strong> bei etablierten<br />

Labels abgeblitzt waren. Auch die ersten<br />

Veröffentlichungen von Vertretern anderer Musikstile wie Lou<br />

Reeds „Velvet Undergro<strong>und</strong>“ waren hier zu haben. Oder von<br />

Souxsie, bevor sie Mitglied bei den „Banshees“ wurde.<br />

In welche Schublade man die Acts nun stecken mag: Allen<br />

Künstlern auf Industrial Records haftete ein gesellschaftskritisches<br />

<strong>und</strong> zerstörerisches Image an. TG selbst hatten es auf<br />

die industrialisierte Gesellschaft abgesehen <strong>und</strong> wollten<br />

deren Mechanismen verändern. Das erste TG-Konzert aller<br />

Zeiten eröffnete Genisis P-Orridge mit den Worten „Musick<br />

from the death factory“, einer Anspielung auf das industrialisierte<br />

Töten in den Konzentrationslagern des Dritten Reiches.<br />

Auch der Songtitel „Industrial Music For Industrial People“<br />

stellt die Industrialisierungskritik von TG in den Mittelpunkt<br />

ihres Schaffens <strong>und</strong> damit die erste allgemein gültige Losung<br />

für die damals noch namenlose Musik- <strong>und</strong> Kulturbewegung<br />

„Industrial“.<br />

INFORMATION WAR<br />

Industrial Records <strong>und</strong> die Produktionen des abseitigen<br />

Labels gereichten schnell zu Popularität in den Londonder<br />

Undergro<strong>und</strong>-Kreisen. Die Leute kamen zu TG-Konzerten, weil<br />

sie Brutalität, Schmerz <strong>und</strong> Blut sehen wollten. Aber die folgsam<br />

<strong>und</strong> ausrechenbar die Hörgewohnheiten ihrer Fans zu<br />

bedienen, lag TG schon immer fern. Zu begeistert waren sie<br />

vom Umsturz, von der Suche nach Neuem <strong>und</strong> von der<br />

Irritation des Publikums. Die logische Folge: Sie veröffentlichten<br />

an diesem Punkt ihrer Karriere ihre erste Vinyl-Single mit<br />

dem einschmeichelnden Titel „United“, die einen der ersten<br />

echten Elektropop-Hits darstellte. Auf der Bühne waren die<br />

vier Musiker in weißer Kleidung zu sehen, steril <strong>und</strong> unschuldig<br />

wie Engel.<br />

Das Publikum war – gelinde gesagt – irritiert <strong>und</strong> zu weiten<br />

Teilen enttäuscht. Denn zuvor trat TG im Camouflage-Outfit<br />

auf <strong>und</strong> erklärte der Welt den „Information-War“. TG bezeichnete<br />

diese optisch-musikalische Stilrichtung als „Avant<br />

14 PARTYSAN 04/07<br />

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